Prinz Albrecht Straße. Will Berthold

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Prinz Albrecht Straße - Will Berthold


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      Iras Blick betrachtete das Zifferblatt der Wanduhr wie ein Vexierbild. Zwanzig Uhr null eins. Kein Geräusch kam von oben. Der Wirt hantierte nervös an der Theke. Ab und zu streifte er Ira mit mißtrauischen Augen. Dann sah er wieder auf die Uhr. Er wußte, daß die Zeit das Diktat der Handlung an sich gerissen hatte. Dabei möchte er eingreifen, helfen, nach oben gehen.

      Aber er stand und wartete. Stehen und Warten, das Schicksal von Millionen, die das braune System haßten …

      In diesem Moment stieß Werner Stahmer seinen Komplizen in die Seite. Die beiden schieben sich ganz langsam nach links, rükken Zentimeter um Zentimeter gegen die Türe vor, hinter der ihr Opfer sendet … und lauert.

      15

      In der zweiten Kurve kam der schwere Polizeiwagen auf der nächtlichen, eisglatten Straße zum erstenmal ins Schleudern. Die vier Kriminalbeamten sprachen kein Wort. Sie starrten abwechselnd in die Nacht, auf die Uhren, auf den Tachometer. Die Kilometerzahlen auf der Skala glitten wie Schnecken vorwärts.

      Vor vier Minuten hatte sie der Alarm erreicht. Sie waren sofort aus der Wachstube gesprungen. Sie kannten Formis. Sie mochten ihn. Sie respektierten seinen Kampf. Und sie warteten seit langem auf den Anschlag. Diese Furcht hatte sie von den Stühlen gerissen, ließ sie sofort eingreifen.

      Eine halbe Minute orgelte die Batterie. Kaltstart. Endlich lief der Motor. Zweimal würgte ihn der Fahrer ab. Dann fuhr er langsam, im ersten Gang, heizte durch Vollgas. Der Motor heulte häßlich auf, aber er lief.

      Viel zu langsam. Der Mann neben dem Fahrer schaltete das Radio ein. Er kannte die Welle der Freiheit, fand sie sofort. Heute funkte das Schicksal Direktübertragung. Wenn die vier Polizisten zu spät kamen, gab der Tod das Pausenzeichen.

      Zuerst krächzte der Lautsprecher, als ob die Stimmbänder des Sprechers belegt seien. Der Kommissar neben dem Fahrer richtete sich auf, beugte sich nach vorn. Und dann hörte er den Anruf, ruhig, klar, sicher. Beinahe feierlich schwebten Worte und Sätze in den Fond, die für ein unterdrücktes Volk bestimmt sind: für das Land Goethes, unter dem Stiefelabsatz Hitlers …

      »Haltet aus …«, kam der Ruf aus dem Äther, »erhebt euch gegen Hitler! … Wartet auf die Stunde der Befreiung, die einmal kommen wird, kommen muß … Erzieht eure Kinder zu Menschen! Hämmert ihnen ein: Hitler ist Krieg. Krieg ist Mord …«

      »Gas!« sagte der Kommissar zu seinem Fahrer.

      Die Rettung hatte noch drei Kilometer Weg vor sich, durch Nacht, Eis und Kälte.

      16

      Zwanzig Uhr zwei. Der Anschlag hatte eine Minute Verspätung. Behutsam steckte Werner Stahmer den Schlüssel ins Schloß. Georg stand einen halben Meter hinter ihm. Er zog die Pistole aus der Tasche. Sie war entsichert. Er starrte auf die Treppe. Von drinnen kamen die Worte eines Einsamen. Georg griente verächtlich. Kurzen Prozeß machen, dachte er. Früher konnten wir solche Burschen mit dem Stuhlbein zusammendreschen, heute aber … Seine Hand schraubte sich zärtlich und brutal um die Waffe.

      Unten ging eine Tür auf. Wieder drangen Gesprächsfetzen nach oben. Stahmer zögerte. Der Komplize starrte zur Treppe. Ira verließ die Wirtsstube, aber das wußten die beiden nicht.

      Die junge Frau hielt es nicht aus. Sie flüchtete aus der Nervenfolter in nervöse Panik. Nur der Wirt und sie achteten auf die Minuten. Der schweigsame Bauer in der Stube bestellte das dritte Glas Pilsener. Das ältere Ehepaar unterhielt sich über seine Kinder. Die Kellnerin setzte sich einen Augenblick und las die Zeitung. Die Köchin spülte Geschirr. Eine Tasse fiel zu Boden.

      Jetzt waren sie da!

      Rudolf Formis spürte es. Die Nerven des Emigranten hörten besser als seine Ohren. Er starrte auf die Tür. Sein gekrümmter Zeigefinger war am Abzug. Aber er blieb ruhig. Sonst kämpfte er auf einer anderen Ebene. Jetzt wunderte er sich, wie vertraut ihm auf einmal die Waffe war, wie mit dem Handballen verwachsen; wie kühl sein Kopf blieb; wie normal sein Puls schlug; wie ihn der Haß auf einmal stark machte; wie er sein Manuskript beiseite legte und frei sprach; wie er Worte fand, die der Stegreif redigierte …

      Und Rudolf Formis wußte, daß Menschen in Deutschland, irgendwo, am Radiogerät aufhorchten, den Knopf weiter nach rechts drehten, instinktiv spürten, daß hier, irgendwo in der Ferne, im Untergrund, verfemt und verfolgt, einer über sich hinauswuchs, sich erhob, anklagte …

      »Wenn meine Stimme abbricht …«, sagte der Emigrant laut und deutlich, »werde ich ermordet … Vielleicht ist mein Mörder schon unterwegs … Vielleicht schleicht er in dieser Sekunde über den Gang … vielleicht geht gleich die Türe auf … Menschen kann man liquidieren, aber das Gewissen nicht umbringen … Ich werde erst schweigen, wenn ich tot bin …«

      Während Rudolf Formis diese Worte mit tödlichem Ernst in das Mikrophon sprach, ging lautlos und unheimlich die Tür wie von selbst auf. Der Spalt verbreiterte sich. Zentimeter um Zentimeter. Aus dem Rahmen wuchs ein Schatten. Eine Gestalt. Ein Mann: Werner Stahmer.

      Der Agent setzte zum Sprung an.

      In diesem Augenblick drückte Formis ab. Sein Schuß zerfetzte die Stille. Das dicke Mauerwerk warf den Schall zurück.

      Dreimal. Viermal …

      17

      Zwanzig Uhr drei. Der Fahrer des Polizeiautos hatte das Tempo beschleunigt. Die Reifen rotierten in halsbrecherischer Geschwindigkeit über die Eisdecke. Die Scheinwerfer stachen milchig in die Nacht. Der Motor brummte verdrossen. Die Kälte machte den Atem sichtbar. Die vier Männer hauchten trübe Wölkchen in die Luft. Sie hörten den leidenschaftlichen Aufruf aus dem Äther. Während ihre Körper froren, schwitzten ihre Hände, lief über ihren Rücken die Gänsehaut.

      An der Kreuzung kam ihnen ein Lastwagen entgegen. Die Polizeilimousine mußte hart nach rechts ausweichen. Der Wagen drehte sich wie ein Karussell. Der Fahrer fing ihn ab. Ein Knall prasselte aus dem Lautsprecher. Noch einer. Wieder einer …

      Auf einmal blieb es still. Der Äther schwieg. Der Kommissar fluchte. »Los!« zischte er den Fahrer an, »schneller!«

      Ein Kilometer noch. Zu spät?

      Es durfte nicht sein!

      Was war geschehen? fragten sich die Beamten schweigend. Wer wurde getroffen? Wer hob zuerst die Waffe? Wer traf?

      Die Antwort brauchte noch drei Minuten Zeit.

      18

      In den ersten Sekunden hatte Werner Stahmer die Empfindung, daß die Hand, die sich gegen sein Opfer hob, mit der Peitsche niedergeschlagen wurde. Er hatte instinktiv erfaßt, daß Formis gewarnt worden war, er warf sich zur Seite. Hinter ihm knallte es. Zweimal. Dreimal. Georg hatte nicht gezögert. Schießen, das war nach seinem Geschmack. Treffen, das hatte er gelernt. Beim Röhm-Putsch zum Beispiel.

      Formis fiel mit schwerem Aufschlag zu Boden. Stahmer fuhr aus der Deckung hoch.

      »Idiot!« fluchte er.

      Dann reagierte er schnell, stieß dem Mörder in die Rippen, flitzte über den Gang, nahm die Stufen satzweise. Georg hinter ihm, die rauchende Pistole in der Hand.

      Erdgeschoß. Ein Mann stand im Flur. Der Wirt, mit aufgerissenen, entsetzten Augen. Neben ihm, an die Wand gelehnt, blaß, zitternd vor Angst, Ira.

      »Komm!« rief ihr Stahmer zu.

      Die junge Frau zögerte.

      Georg drosch mit dem Pistolenknauf den Hotelier zusammen. Dreimal, viermal. Die Kellnerin kam schreiend aus der Tür. Der Mörder richtete sich gemächlich auf. Sein Fußtritt wuchtete lässig. Er traf das Mädchen in den Leib. Wie gehabt. Wie gelernt.

      Stahmer riß die willenlose Ira an der Hand nach draußen. Georg folgte.

      Bange Sekunden. Die Batterie orgelte leer. Motor lief. Endlich. Langsam rollte der Wagen über die ausgeschaufelte Fläche vor dem Haus, erreichte die Straße. Stahmer müßte nach links


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