Neuer Anfang auf Wienhagen. Lise Gast

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Neuer Anfang auf Wienhagen - Lise Gast


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schlecht angeschrieben. Dauernd hat er Arrest. Und er ist in einer wenig netten Klasse. Keine Raufbolde, verstehst du, sondern — nun, eben Jünglinge, wie man sie sich nicht als Umgang für seinen jüngeren Bruder wünscht. Das ist es aber nicht allein.“

      „Sondern?“ flüsterte Elisabeth. Es klang wie ein Hauch.

      „Ach, überhaupt. Es ist alles so anders geworden, seit der Vater tot ist. So — so schwierig. Früher war der Vater da, und wenn man was ausfraß, bekam man eins gewinkt. Das war manchmal nicht angenehm, aber einfach in Ordnung. Jetzt erwartet Mutter, daß man spurt. Sie sagt es nicht, aber man fühlt es doch. Die anderen fühlen es, wie man sieht, leider nicht; denn sie benehmen sich, milde gesprochen, schauderhaft. Dafür fühle ich mich eben verantwortlich.“ Detlev ging zum Fenster und blickte in die Dunkelheit hinaus, die immer wieder von Blitzen erleuchtet wurde.

      „Und auch sonst“, fuhr er nach kurzem Schweigen fort. „Wienhagen war mal ein richtiges Rittergut, groß, mit einem Herrn, der vierspännig fuhr. Das ist es schon lange nicht mehr. Es ist ein Hof, ein ordentlicher Bauernhof, groß genug, um etwas zu bringen — gerade unser feldmäßiger Gemüsebau rentiert sich, weil wir in die Kreisstadt liefern, die mit ihrer Industriebevölkerung sehr viel Gemüse braucht. Schön und gut, das macht Bumke richtig, er hat erfaßt, worauf es heute und hier ankommt. Überhaupt habe ich manchmal das Gefühl, wir tun ihm Unrecht. Aber ich mag es nun einmal nicht, wenn jemand allzu freundlich ist. Ich traue ihm nicht. Bumkes Art, mich zu duzen, mir Zigaretten anzubieten, du kennst es ja — ich denke immer, da muß was dahinter stecken. Lieber grob, aber ehrlich.“

      „Vielleicht kann man auch ehrlich sein und trotzdem höflich“, sagte Elisabeth zögernd. Man hörte ihrer Stimme an, daß sie dies selbst nicht glaubte. „Immerhin hat er damals, als Vater starb, den Hof übernommen und bis heute ganz leidlich geführt.“

      „Ganz leidlich.“ Detlev schwieg. Wieder krachte der Donner.

      „Freundlich oder nicht — ich weiß nicht, ob er richtig wirtschaftet“, sagte Detlev dann. „Neulich hat er Heu verkauft, jetzt, im Frühjahr, wo man es doch selbst nötig braucht. Freilich bringt das Bargeld. Aber glaubst du, man holt das mit zeitigem Weideauftrieb wieder ein beim Vieh? Ich glaube das jedenfalls nicht.“

      Elisabeth antwortete nicht. Nach einer Weile fuhr Detlev fort:

      „Siehst du, ich habe mir das oft überlegt. Ob solche Höfe noch ihre Berechtigung haben? Nein, sei mal still, hör mal ruhig zu. Ob man das Land nicht doch lieber aufteilen sollte? Aber man hat es ja erlebt, daß das schief geht, gerade bei solchem Boden, wie wir ihn haben. Siedle du einmal jemanden auf dem Strohberg an, wo nichts ist als Sand und Geröll! Na siehst du. Dort kann sich keiner halten, das ist doch klar. Nur wenn solch unterschiedlicher Boden in einer Hand ist, zusammengefaßt, ist es möglich, etwas herauszuwirtschaften. Gerade unsere Lieferungen an die Stadt bestätigen das. — Gut. Bumke bemüht sich. Er ist streng mit den Arbeitern und verbietet neuerdings das Reiten. Barbara ist wütend! Vielleicht tut er das aber nur, um uns zu helfen?“

      „Hast du mit Mutter schon darüber gesprochen?“ fragte Elisabeth nach einer Weile des Schweigens. Etwas in ihr wehrte sich, diesen Sorgenpacken, den Detlev da zu tragen schien, mit auf ihre Schultern zu nehmen. Mutter war doch auch noch da und schließlich hier zuständig. Sie selbst war erst siebzehn und hatte mit der Schule Sorgen genug, wahrhaftig.

      Detlev schüttelte den Kopf. Er wußte, Mutter bemühte sich auf ihre Weise. Ehe sie zu ihnen gekommen war und Vater heiratete, verdiente sie ganz gut. Und nun hatte sie, als er starb, ihre damalige Tätigkeit wieder aufgenommen. Sie übersetzte für ihren alten Verlag, machte Register für ihn und mühte sich ab, nachts, die Kinder wußten das. Sie schaffte Bargeld damit heran, sie konnte damit diesen oder jenen kleinen Wunsch erfüllen, darauf war sie stolz. Ob sie aber übersah, was mit Wienhagen los war? Sie stammte aus der Stadt.

      „Vielleicht nimmst du das alles jetzt zu tragisch“, sagte Elisabeth.

      „Die Leute sind unzufrieden, ich weiß. Neulich war das Essen wirklich verunglückt, Marie hat es zugegeben. Die Nudeln schmeckten muffig. Bumke bezieht alles, Teigwaren, Reis, Zukker und solche Dinge, die wir kaufen müssen, von einer Firma, die wir vorher nicht kannten. Er sagt, es sei vorteilhaft, im Großen einzukaufen, und das ist es auch bestimmt. Aber ob er nicht gar zu billig einkauft? Und trotzdem ist nie Geld da, und es fehlt an allen Ecken und Enden.“

      „Fräulein Honigmann bezog auch alles im Großen“, sagte Detlev nachdenklich. „Aber schlechtes Essen gab es bei ihr nie. Vielleicht wäre es besser, wenn Mutter —“

      „Wenn Mutter was?“ fragte Elisabeth streitbar. Detlev schüttelte den Kopf.

      „Ach, laß. Es hat keinen Zweck, daß wir hier stehen und unken“, sagte er. „Geh schlafen, das Gewitter scheint sieh zu verziehen.“

      „Und du?“ fragte Elisabeth, beschämt durch seine Friedlichkeit. Sonst gingen sie meist recht geschwisterlich-streitbar miteinander um. Sein Ton war so nachsichtig gewesen. Sie zögerte, zu gehen.

      „Willst du nicht auch schlafen?“ fragte sie deshalb. Detlev seufzte und stieß sich von seinem Platz am Fensterbrett ab. In diesem Augenblick zischte draußen etwas Helles herunter, und fast gleichzeitig krachte es infernalisch und so nahe, daß beide Geschwister zurücktaumelten.

      „Das hat eingeschlagen!“ flüsterte Elisabeth. Sie wagte es nicht mit normaler Stimme zu sprechen. Trotzdem schien es Detlev gehört zu haben. Er rannte los und riß sie im Schwung mit sich.

      Merkwürdigerweise wußten sie beide, wo es passiert war. Dem Herrenhaus gegenüber stand das Wirtschaftsgebäude, eins der ältesten des Hofes, das den kleinen Turm mit der Uhr trug. Dort! Detlev stemmte sich gegen die Haustür, die er vorhin geschlossen hatte. Der Sturm drückte dagegen. Detlev bekam sie erst auf, als Rüdi und Heiner, plötzlich neben ihm, mit anfaßten. Dann freilich flog sie auf und haute, herumschlagend, an die Wand, daß es krachte. Im nächsten Augenblick rannten sie alle vier, Elisabeth und die drei Jungen, quer über den Hof.

      Elisabeth hatte das Gefühl, durch einen Wirbelsturm zu laufen. Staubböen, Wolkenfetzen und trommelnder Regen — jetzt stürzte etwas vor ihr herunter, dem sie noch gerade ausweichen konnte. Dabei schrie, ja, kreischte es: ein dicker Ast der Linde war gebrochen. Elisabeth sah sich nicht um, sondern hastete den Jungen nach über den Hof und dann die enge Treppe im Wirtschaftsgebäude hinauf. Im obersten Stock, in der Nähe des Giebels, züngelte eine kleine Flamme, lief am First dahin, Qualm beengte das Atmen. Es ging alles sehr rasch. Rüdi hatte den Schaumlöscher aus dem Halter gerissen, als er durch die Halle lief. Merkwürdig, daß er daran gedacht hatte und nicht Detlev. Am Brandort freilich war Detlev der Besonnenere. Die Brüder wechselten kaum drei Worte miteinander.

      „Von unten! Immer von unten das Feuer angehen!“ hörte Elisabeth.

      Gleich darauf zischte der Schaumlöscher.

      „So, das hätten wir“, sagte Heiner zehn Minuten später aufatmend. Bis dahin hatten alle vier nichts gesprochen. Jetzt bestand kein Zweifel mehr, daß der Brandherd erstickt war. Draußen prasselte der Regen. Das Gewitter schien mit diesem letzten Schlag alle Kraft ausgegeben zu haben.

      „Und die Linde?“ fragte Elisabeth, als sie sich durch den Hof zurücktasteten. Sie waren alle vier naß, so daß es gleichgültig war, ob sie rannten oder langsam gingen. Elisabeth fühlte, daß ihre Knie lahm und kraftlos waren. Vielleicht ging das den Jungen genauso.

      „Die steht. Das vorhin war nur ein Ast“, sagte Detlev. Es klang barsch. „Und der Regen ist gut.“

      „Ja.“ Natürlich war der Regen gut und beruhigend. Vielleicht hätte sonst doch da oder dort noch ein Funke glimmen und zünden können. Sie dachten alle vier das gleiche.

      „Aber die Erbsenfelder!“ sagte Heiner. Auch daran hatten sie alle gleichzeitig gedacht. Detlev knurrte.

      „Besser, die sind hin als das Haus.“ Er wußte nicht einmal, ob die Brandversicherung ordnungsgemäß lief. Er mußte morgen mit Humke sprechen.

      In einigen Zimmern des Wohnhauses waren jetzt die Fenster erleuchtet. Die Wirtschafterin


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