Ulrike Woytich. Jakob Wassermann

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Ulrike Woytich - Jakob Wassermann


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wen? fragte sie sich achselzuckend. Im allgemeinen konnte sie schon etwas wagen an Spott und Widerspruch. Christine hörte auf ihre Meinung; sie hatte sich langsam daran gewöhnt, dass in die steinernen Vorurteile Bresche geschlagen wurde. Sie staunte über den Mut und die meist ziemlich derbe Form der vorgetragenen Ansichten. Ohne dass sie es merkte, wurde sie nach und nach davon umstrickt und schlürfte das Gift der Auflehnung ein wie eine Medizin, deren kräftigende Wirkung man erst nach einem kleinen Schauer spürt.

      Doch in diesem Fall verteidigte sie heiliges Gebiet, und Ulrike erkannte, dass sie vorsichtig sein musste. Sie wählte daher, um die neue Sprengmine zu legen, einen andern Weg als den geraden. Sie liess sich Christines Erziehungsgrundsätze erklären, hörte ungemein interessiert zu und brachte jeden einzelnen durch schlaue Fragen und mit advokatorischer Geschicklichkeit ins Wanken. Indem sie beizustimmen schien, wies sie die Unhaltbarkeit geglaubter Dogmen nach. Sie zergliederte die Charaktere der Kinder und zeigte scharfsinnig, wie jedes einzelne unter der Zuchtrute eine innerliche Krümmung erleide. Ihre Worte waren so eindringlich, dass Christine erblasste.

      Sie fing an, die Dinge anders zu sehen. Um junge Menschen zu führen, war es vielleicht notwendig, ihnen, wenn auch nicht die Freiheit selbst, so doch einige Illusion der Freiheit zu geben. Geschah das nicht, so verhärteten sich die Herzen und die angesammelten Explosivstoffe zertrümmerten alle Fesseln, auch die wohltätigen. Besonders leuchtete Christine das Urteil Ulrikes über Mylius ein, und sie bewunderte den klaren Blick der Freundin; ein Mann von primitiver Anlage, den Arbeit und bürgerlicher Ehrgeiz verhindern, die kleinen Forderungen des Tages zu erkennen; er verschliesst sich ihnen vorsätzlich, und sein Zorn richtet sich nicht so sehr dagegen, dass ein Betrug verübt wird, sondern dagegen, dass er den Betrug erfährt. Vielleicht wünscht er, dass man ihn ein bisschen täuscht, da er ja viel zu verständig ist, um anzunehmen, dass fünf erwachsene Menschen unaufhörlich nach seiner Pfeife tanzen. Nur durch offenen Widerpart will er nicht gereizt werden, das beleidigt seine Eigenliebe und stört seine häusliche Bequemlichkeit.

      Christine musste lachen. „Es ist möglich, dass Sie recht haben“, sagte sie; „aber recht haben heisst nicht recht tun, heisst nicht einmal im Recht sein.“

      „Nun, wie man sich bettet, so liegt man“, gab Ulrike zurück. „Sie liegen schlecht, und dass Sie das harte Lager nach dem verlogensten aller Sprichwörter als ein gutes Ruhekissen bezeichnen, geht über meinen Horizont. Ich bin eine hausbackene Person und verstehe nichts von den seelischen Feinheiten, die einen edelgeborenen Menschen dazu bringen, sich irgendeiner Tyrannei zu beugen. Die Gewaltnaturen sind den Fügsamen in jedem Betracht überlegen, denn sie tun, was ihnen nützlich ist und was ihnen Spass macht, haben ihr Schäfchen im Trockenen, eh man noch recht weiss, dass es regnet, und die Sanften, die Geduldigen haben das Nachsehen. Schön; wems behagt, der mag sich damit abfinden.“

      Christine gab nach. Das Zimmer der zwei Schwestern wurde zur Schneiderinnenwerkstatt. Christine, Josephe, Esther, Aimée und Ulrike nähten und hantierten von morgens bis abends. Esther und Aimée fanden keinen Schlaf mehr und hatten eingefallene Wangen und fahle Augen. Noch war das Geld nicht beschafft, das sie zum Ballbesuch brauchten; es handelte sich um ungefähr dreissig Gulden insgesamt. Die Summe von Fremden auszuborgen, hatte Christine energisch abgelehnt; das Wirtschaftsgeld darum zu schmälern, konnte sie sich nicht entschliessen; sie hätte es Mylius bei der Verrechnung gestehen müssen, und er sollte ja nichts erfahren. Etwas zu versetzen weigerte sie sich ebenfalls, und so war guter Rat teuer. Während man dies und das erwog und sich einander seine Befürchtungen mitteilte, verhielt sich Ulrike still und verzog die Miene nicht. Aimée heftete die Augen fragend auf sie, wie um sie zu mahnen und zum Sprechen aufzufordern, denn Ulrike hatte ja gesagt, sie sollten sich keine Sorgen machen.

      Plötzlich begann sie, indem sie vor sich hinlächelte: „Wisst ihr, von wem ich das Geld kriege?“

      Niemand wusste es, wie sich denken liess.

      „Das ist doch ganz klar,“ sagte Ulrike in harmlosem Ton, „von Herrn Mylius natürlich.“

      Allseitiges Staunen, ja Erschrecken. „Wie? vom Vater? Sie träumen wohl? Wachen Sie auf, Ulrike.“

      „Nicht auf der Stelle krieg ichs, nicht heut und morgen,“ fuhr Ulrike gleichmütig weiternähend fort; „ich werde nicht etwa jetzt zu ihm gehen und sagen: so und so, ich brauche dreissig Gulden, die jungen Damen wollen mit mir auf den Ball. Das wäre das dümmste von der Welt. Man muss es anders anpacken. Wie, wird vorläufig noch nicht verraten. Aber mit einer Bagatelle lass ich mich dann nicht abspeisen, da gehts ums Ganze, das könnt ihr ruhig glauben.“

      Man lauschte atemlos, zwischen Zweifel und Hoffnung. Ulrike musterte prüfend ihre Arbeit, schlug das linke Bein über das rechte und fing mit ihrem pfiffigen Lächeln wieder an: „Die Sache liegt also sehr einfach. Frau Christine hat das Geld nicht, ihr Mädchen habt es nicht, der Herr Papa wird es hergeben, aber nicht gleich: daraus folgt wie das Amen aufs Vaterunser, dass Ulrike einstweilen die Nothelferin machen wird. Unterbrechen Sie mich nicht, Frau Christine, und sagen Sie nicht nein, sonst leg ich Nadel und Schere hin und verschwinde auf Nimmerwiedersehn. Ich greife meine Ersparnisse an, was ists denn Grosses? Sollen Ersparnisse etwa nicht angegriffen werden? Ist das ein Myliussches Hausgesetz? Sollen sie im Kasten liegen, bis man sich einen Altjungfernkranz dafür kaufen und übers Bett hängen kann? Was könnt ich besseres mit ihnen tun, als sie meinen Freunden zur Verfügung stellen? Deshalb sind sie ja noch nicht verloren. Ich habe an zwanzig Pfund aus England mitgebracht, das sind zweihundertvierzig Gulden. Was ich davon für euch ausgebe, wird bei Heller und Pfennig verrechnet. Und nun kein Wort mehr drüber. Schluss. Es ist widerwärtig, immerfort von Geld zu reden.“

      Christine wollte trotzdem noch Einwendungen erheben, wurde aber von Ulrike kurz, beinahe schroff abgewiesen. „Sie sind einfach überstimmt,“ sagte sie; „denn ich denke, es sind alle andern meiner Meinung, sogar Josephe. Nicht wahr, Josephe,“ wandte sie sich schmeichelnd an diese, „Sie finden auch, dass Ihre Mutter mich beleidigt, wenn sie aus einem Freundschaftsdienst eine Ehrensache macht?“

      „Verzeihen Sie, Ulrike, das war die Absicht nicht“, beeilte sich Christine errötend zu versichern.

      Josephe schwieg, und ob sie Ulrike oder der Mutter recht gab, war in ihren Zügen nicht zu lesen, die bei allem Reiz verträumter Mädchenhaftigkeit eine gewisse Starrheit stets behielten. Nur in den Augen war ein Strahl leidenschaftlichen Forschens, als wolle sie das ihr so heiter, so werbend zugekehrte Gesicht Ulrikes durch und durch ergründen, als frage ein in ihr verborgener wachsamer Geist: wer bist du und was hast du im Sinn?

      Unvergesslich war der Eindruck, den ihr die Erzählung von Ulrikes Kindheit und Jugend gemacht. Noch nie hatte sie so gewaltig gespürt, was das Schicksal ist. Die Brust hatte sich ihr wie von einer Flamme gespaltet und sie hätte vor Ulrike knien mögen, nur weil es ihr so wahr dünkte, so unerbittlich und grausam, so wie sie eben das Menschenlos empfand. Sie floh dann in ihre Kammer und betete mit der ihr eigenen Art, Gebete, vielmehr Anrufungen und Fragen formlos aus der inneren Bedrängnis zu reissen. Sie stellte sich Gott gegenüber wie zum Kampf, und in ihrem Munde wurde der Name Gottes ein Wort zum Staunen, ein Wort zum Schaudern. Du hast mich geschaffen und du hast sie geschaffen, so ungefähr bedrängte sie Gott, warum mich mit der leichten Last und sie mit der schweren? Bist du in ihr auch ein Inwendiges, warum hast du sie mit soviel mehr Finsternis umgeben als mich? Warum bin ich denn ich und nicht sie? Warum bleibt das so ehern unwandelbar, das Josephe-Sein, das Ulrike-Sein?

      Man sieht, sie griff in ihrer naiven Erschütterung an die Wurzel der Dinge. Und es war nicht bloss der seelische Sturm, nicht bloss das fortwirkende Dankbarkeitsgefühl, das sie so nah an Ulrike trieb, es war auch der Zweifel, immer wieder auftauchender dumpfer Zweifel, mit dem sie kämpfte und der sie zwang, sich mit ihr zu beschäftigen.

      Sie sah, dass irgend etwas anders wurde im Haus, dass Mutter und Schwestern plötzlich andere Worte hatten, andere Mienen, dass die Farbe des täglichen Lebens verändert war, zuerst kaum merklich, doch von Tag zu Tag deutlicher wahrnehmbar, und von alledem war Ulrike die Urheberin. Es war nichts Böses, nichts, was schlechthin hätte missbilligt werden können, aber eine dunkle und fremde Macht war es, etwa wie wenn man aus einer gewohnten und natürlichen Bewegung in eine neue und den Gliedern unwillkommene gerissen wird. Licht und Schatten waren nicht mehr wie früher verteilt; Alleinsein


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