Das verlassene Haus. Louise Penny

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Das verlassene Haus - Louise Penny


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so langweilig, dass sie die Gefahr heraufbeschwören mussten? Nein, nicht heraufbeschwören. Sie war immer schon da. Sie hatten sie umworben. Und sie hatte geantwortet.

      »Jeanne, das Medium«, erklärte Myrna Gamache, »sagte, sie könnte etwas kommen hören. Wir waren einen Moment lang still und, na ja, ich glaube, ich habe auch etwas gehört.«

      »Ich auch«, sagte Gabri. »Im Bett. Jemand wälzte sich auf dem Bett herum.«

      »Nein, es kam vom Flur«, sagte Clara, riss sich von der Betrachtung des Feuers los und sah die anderen an. Es war beinahe so wie in der Nacht zuvor, ihre Gesichter mit den weit aufgerissenen Augen wurden von den Flammen beleuchtet, sie saßen angespannt da, jeden Moment bereit aufzuspringen. Sie befand sich wieder in diesem schrecklichen Zimmer. Roch die Frühlingsblumen, wie in einem Bestattungsunternehmen, und hörte die Schritte, die sich ihr schlurfend von hinten näherten. »Schritte. Da waren Schritte. Ich erinnere mich, dass Jeanne sagte, sie würden kommen. Die Toten würden kommen.«

      Beauvoir spürte, wie sich sein Herz zusammenzog, seine Hände wurden taub. Er fragte sich, ob es Lemieux etwas ausmachen würde, wenn er seine Hand nahm, beschloss dann jedoch, dass er eher sterben würde.

      »Sie kommen, sagte sie«, pflichtete Myrna ihr bei. »Dann sagte sie noch etwas.«

      »Vom Dach und noch von woanders her«, sagte Gabri und versuchte sich an die Worte zu erinnern.

      »Vom Dachboden«, korrigierte Myrna.

      »Und aus dem Keller«, ergänzte Clara und sah Armand Gamache in die Augen. Er spürte, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich. Der Keller des alten Hadley-Hauses verfolgte ihn immer noch.

      »Dann ist es passiert«, sagte Gabri.

      »Noch nicht«, sagte Clara. »Sie sagte noch etwas.«

      »Sie sind überall um uns herum«, sagte Myrna leise. »Kommt. Jetzt!«

      Sie klatschte in die Hände, und Beauvoir wäre beinahe tot umgefallen.

      13

      »Dann ist sie tot umgefallen«, sagte Gabri. In dem Moment trat Olivier hinter ihn und legte ihm die Hände auf die Schultern. Gabri stieß einen Schrei aus.

      »Tabernacle. Willst du mich umbringen?«

      Der Bann war gebrochen. Im Raum wurde es wieder hell, und Gamache stellte fest, dass auf dem Sofatisch auf einmal ein großes Tablett mit Sandwiches stand.

      »Was ist danach passiert?«, fragte Gamache und nahm sich ein aufgeschnittenes warmes Baguette mit geschmolzenem Ziegenkäse und Rucola.

      »Monsieur Béliveau hat sie nach unten getragen, während Gilles sein Auto holte«, sagte Myrna und griff nach einem Croissant mit gegrilltem Hähnchen und Mango.

      »Gilles?«, fragte Gamache.

      »Sandon. Er arbeitet in den Wäldern. Er und seine Freundin Odile waren auch dabei.«

      Gamache erinnerte sich, dass sie auf der Liste der Zeugen in seiner Tasche standen.

      »Gilles fuhr. Hazel und Sophie sind mitgefahren«, sagte Clara. »Wir anderen haben Hazels Auto genommen.«

      »Mein Gott, Hazel«, sagte Myrna. »Hat heute schon jemand mit ihr gesprochen?«

      »Ich habe sie angerufen«, sagte Clara und musterte das Tablett, verspürte jedoch keinen rechten Appetit. »Ich habe mit Sophie gesprochen. Hazel war zu mitgenommen.«

      »Hazel und Madeleine standen sich nah?«, fragte Gamache.

      »Sie waren beste Freundinnen«, sagte Olivier. »Seit der Highschool. Sie haben zusammengelebt.«

      »Nicht als Liebespaar«, sagte Gabri. »Na ja, jedenfalls nicht, soweit ich weiß.«

      »Sei nicht albern, natürlich waren sie kein Liebespaar«, sagte Myrna. »Männer. Ihr meint immer, wenn zwei erwachsene Frauen zusammenleben und ihre Zuneigung füreinander zeigen, dann sind sie Lesben.«

      »Stimmt«, sagte Gabri, »bei uns nimmt auch jeder an, wir sind Schwule.« Er tätschelte Oliviers Knie. »Aber wir vergeben euch.«

      »Hatte Madeleine Favreau jemals Übergewicht?«

      Gamaches Frage kam so unerwartet, dass ihn alle nur verständnislos anstarrten, so als hätte er russisch gesprochen.

      »Ob sie einmal dick war, meinen Sie?«, fragte Gabri. »Ich glaube nicht.«

      Die anderen schüttelten die Köpfe.

      »Sie hat allerdings noch nicht so lange hier gelebt«, sagte Peter. »Was würdet ihr sagen, fünf Jahre?«

      »Ungefähr«, sagte Clara. »Aber sie hat sofort dazugehört. Sie trat mit Hazel zusammen dem Verein anglikanischer Frauen bei …«

      Gabri stöhnte auf. »Mist. Sie sollte in diesem Sommer die Leitung übernehmen. Was soll ich denn jetzt machen?«

      Es hatte ihn böse erwischt, wenn auch nicht so schlimm wie Madeleine, wie er zugeben musste.

      »Armer Gabri«, sagte Olivier. »Eine echte Tragödie für dich.«

      »Na, dann versuch du doch mal, den Verein zu leiten. Wo wir gerade von Mord reden«, sagte er mit einem Blick zu Gamache. »Vielleicht wäre Hazel dazu bereit? Was glaubst du?«

      »Ich ›klaue‹ nichts«, sagte Olivier. »Und im Moment solltest du sie besser nicht darauf ansprechen.«

      »Ist es möglich, dass sonst noch jemand in dem Haus war?«, fragte Gamache. »Die meisten von Ihnen haben Geräusche gehört.«

      Clara, Myrna und Gabri schwiegen und dachten an die unheimlichen Geräusche.

      »Was glaube Sie, Clara?«, fragte Gamache.

      Was glaube ich?, fragte sie sich selbst. Dass der Teufel Madeleine umgebracht hat? Dass in diesem Haus das Böse wohnt, dass wir es womöglich sogar selbst dorthin gebracht haben? Vielleicht hatte das Medium recht, und jeder unfreundliche, jeder böse Gedanke, den einer von ihnen jemals gedacht hatte, war aus ihrem Dorf verbannt und von diesem Monster verschlungen worden. Und es war gierig. Vielleicht machten finstere Gedanken süchtig. Wenn man sie einmal gekostet hatte, wollte man immer mehr davon.

      Aber hatte wirklich jeder alle seine finsteren Gedanken losgelassen? War es möglich, dass einer an ihnen festhielt, sie hortete? Sie verschlang, sie schluckte, bis er vor Verbitterung ganz aufgebläht war und zu einer lebenden, atmenden Version des Hauses auf dem Hügel geworden war?

      Gab es eine menschliche Version dieses unglückseligen Orts, die sich mitten unter ihnen bewegte?

      Was glaube ich?, fragte sie sich noch einmal. Sie wusste keine Antwort darauf.

      Gamache wartete noch einen Moment, dann erhob er sich. »Wo finde ich Madame Chauvet, das Medium?«, fragte er. Er griff in seine Tasche, um das Essen und die Getränke zu bezahlen.

      »Sie ist in der Pension abgestiegen«, sagte Olivier. »Soll ich sie holen?«

      »Nein, wir gehen hinüber. Danke, patron

      »Ich bin nicht hingegangen«, flüsterte Olivier Gamache zu, als er ihm an der Kasse auf der langen Holztheke das Wechselgeld gab, »weil ich zu viel Angst hatte.«

      »Das kann ich Ihnen nicht verübeln. Mit diesem Haus stimmt etwas nicht.«

      »Und mit dieser Frau.«

      »Madeleine Favreau?« Gamache stellte fest, dass er jetzt ebenfalls flüsterte.

      »Nein. Jeanne Chauvet, das Medium. Wissen Sie, was sie gleich nach ihrer Ankunft zu Gabri gesagt hat?«

      Gamache wartete.

      »Sie sagte: ›Bei Ihnen wird bald nichts mehr laufen. Sie kommen nicht zusammen.‹«

      Gamache ließ diese seltsame Bemerkung auf sich wirken.

      »Sind Sie sicher? Wundert


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