Das verlassene Haus. Louise Penny

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Das verlassene Haus - Louise Penny


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nicht hin«, hatte Clara Hazel rufen hören, vermutlich galt das Sophie.

      »Nein«, schrie Monsieur Béliveau.

      Madeleine starrte mit weit aufgerissenen Augen ins Leere, als würden ihr gleich die Augäpfel aus den Höhlen springen. Ihr Mund weit aufgerissen, die Lippen mitten im Schrei erstarrt. Ihre Hände, die Clara ergriff, um Trost zu spenden, wo jeder Trost zu spät kam, hatten sich krallenartig verkrampft. Clara blickte hoch und sah eine Bewegung außerhalb ihres Kreises. Dann hörte sie noch etwas. Flügelschlagen.

      »Hallo«, rief Armand Gamache, als er aus dem Haus trat. Clara zuckte zusammen und kehrte langsam wieder in die Gegenwart zurück. Sie erkannte die großgewachsene, elegante Gestalt, die zielstrebig auf sie zukam.

      »Geht es Ihnen gut?«, erkundigte er sich, als er ihren aufgelösten Zustand bemerkte.

      »Nein, eigentlich nicht.« Sie brachte ein schwaches Lächeln zustande. »Aber jetzt, wo ich Sie sehe, schon besser.«

      Den Eindruck machte sie allerdings nicht. Tatsächlich liefen ihr Tränen übers Gesicht, und Gamache hegte die Vermutung, dass es nicht die ersten waren. Er blieb ruhig neben ihr stehen, versuchte nicht, die Tränen zum Versiegen zu bringen, sondern ließ ihr ihre Trauer.

      »Sie waren gestern Abend hier.« Das war eine Feststellung, keine Frage. Er hatte den Bericht gelesen und ihren Namen entdeckt. Genau genommen war sie die Erste auf der Liste von Leuten, die er befragen wollte. Er schätzte ihre Meinung und ihren Blick für Details, sichtbare und unsichtbare. Er wusste, dass er sie wie jeden anderen, der an der Séance teilgenommen hatte, als verdächtig betrachten sollte, aber die Wahrheit war, dass er es nicht tat. Er betrachtete sie als wertvolle Zeugin.

      Clara wischte sich mit dem Ärmel ihres Mantels über die Augen und die Nase. Als Gamache das sah, zog er ein Baumwolltaschentuch aus seiner Jackentasche und reichte es ihr. Sie hatte gehofft, das Schlimmste wäre vorüber, aber der Tränenstrom schien jetzt erst richtig hervorzubrechen, anzuschwellen wie der Bella Bella. Eine Flut des Kummers.

      Peter war in der vergangenen Nacht wunderbar gewesen. Er war so schnell wie möglich ins Krankenhaus gekommen, und er hatte kein einziges Mal »Ich war ja von Anfang an dagegen« gesagt, obwohl sie selbst es oft genug tat, als sie ihm stockend die Geschichte erzählte. Dann hatte er Myrna, Gabri und sie nach Hause gefahren. Sie hatten einer völlig verstörten und verwirrten Hazel und einer seltsam ruhigen Sophie ein Bett und ein wenig Trost angeboten. War sie wie betäubt vor Schmerz? Oder hieß das wieder einmal, im Zweifel vom Besten ausgehen, wie sie es bei Sophie immer gemacht hatten?

      Das Angebot war abgelehnt worden. Selbst jetzt konnte sich Clara kaum vorstellen, wie furchtbar es für Hazel gewesen sein musste, allein nach Hause zurückzukehren. Sophie war bei ihr, sicher, aber in Wirklichkeit war sie allein.

      »War sie eine Freundin von Ihnen?« Sie drehten sich um und gingen von dem Haus weg in Richtung Dorf.

      »Ja. Sie war allen eine Freundin.«

      Gamache ging schweigend neben ihr her, die Hände auf dem Rücken verschränkt und mit nachdenklicher Miene.

      »Was denken Sie?«, fragte sie, um sich dann nach einer kurzen Pause die Frage selbst zu beantworten. »Sie denken, dass sie ermordet wurde, nicht wahr?«

      Sie blieben stehen. Clara konnte nicht gleichzeitig gehen und diesen beunruhigenden Gedanken denken. Sie konnte ihn kaum ertragen, wenn sie stand. Sie drehte sich zu Gamache und sah ihn an. War sie immer so schwer von Begriff?, fragte sie sich. Natürlich dachte er das. Warum sonst wäre der Leiter der Mordkommission der Sûreté du Québec hier, wenn Madeleine nicht ermordet worden wäre?

      Gamache deutete auf die Bank auf dem Dorfanger.

      »Wofür sind all die Klapptische?«, fragte er, nachdem sie sich gesetzt hatten.

      »Wir haben eine Ostereiersuche und ein Picknick veranstaltet.« War das erst gestern gewesen?

      Gamache nickte. Sie hatten Eier für Florence versteckt und mussten sie dann alle selbst wieder einsammeln. Nächstes Jahr wäre sie alt genug, um sie zu suchen, dachte er.

      »Ist Madeleine ermordet worden?«, fragte Clara.

      »Wir glauben, ja«, erwiderte er. Er ließ ihr einen Moment Zeit, um das zu verdauen, dann fragte er: »Überrascht Sie das?«

      »Ja.«

      »Nein, warten Sie. Bitte denken Sie nach. Ich weiß, dass ein Mord im ersten Moment jeden überrascht. Aber ich möchte, dass Sie über die Frage nachdenken. Überrascht es Sie zu hören, dass Madeleine Favreau ermordet wurde?«

      Clara drehte sich zu Gamache. Seine dunkelbraunen Augen, umgeben von unzähligen Lachfältchen, sahen sie aufmerksam an, sein schon halb ergrauter Schnurrbart war sorgfältig gestutzt, die Haare unter der Kappe leicht gewellt und gepflegt. Er sprach aus reiner Höflichkeit englisch mit ihr, wie sie wusste. Sein Englisch war perfekt, seltsamerweise mit einem leichten britischen Akzent. Jedes Mal, wenn sie ihn getroffen hatte, hatte sie ihn danach fragen wollen.

      »Warum haben Sie eigentlich einen britischen Akzent?«

      Er sah sie überrascht an.

      »Ist das die Antwort auf meine Frage?«, erkundigte er sich lächelnd.

      »Nein, Herr Lehrer. Aber das wollte ich Sie schon lange fragen und habe es immer wieder vergessen.«

      »Ich war in Cambridge. Christ’s College. Ich habe Geschichte studiert.«

      »Und an Ihrem Englisch gefeilt.«

      »Englisch gelernt.«

      Jetzt war es an Clara, überrascht zu sein.

      »Sie haben kein Englisch gesprochen, bevor Sie nach Cambridge gingen?«

      »Na ja, ich konnte zwei Sätze sagen.«

      »Und welche?«

      »›Feuer frei auf die Klingonen‹ und ›Mein Gott, Admiral, das ist furchtbar‹.«

      Clara prustete los.

      »Ich habe amerikanisches Fernsehen geschaut, wenn ich konnte. Vor allem zwei Serien.«

      »Raumschiff Enterprise und Die Seaview – In geheimer Mission«, sagte Clara.

      »Sie würden sich wundern, wie wenig einem diese Sätze in Cambridge nutzen. Obwohl man ›Mein Gott, Admiral, das ist furchtbar‹ vielleicht verwenden könnte, wenn man in der Klemme steckt.«

      Clara lachte und stellte sich den jungen Gamache in Cambridge vor. Wer fuhr um die halbe Welt in ein fremdes Land, dessen Sprache er nicht sprach, um dort auf die Universität zu gehen?

      »Nun?« Gamaches Miene war wieder ernst.

      »Madeleine war reizend, in jeder Hinsicht. Es war leicht, sie zu mögen, und ich vermute, auch leicht, sie zu lieben. Ich hätte sie sicher sehr gern gehabt, wenn wir mehr Zeit gehabt hätten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand sie umgebracht hat.«

      »Weil sie war, wie sie war, oder weil jemand nicht so war?«

      Das war die Frage, dachte Clara. Einen Mord zu akzeptieren bedeutete zu akzeptieren, dass es einen Mörder gab. Unter ihnen. In ihrer Nähe. Mit ziemlicher Sicherheit jemand in diesem Zimmer. Hinter einem dieser lächelnden, fröhlichen, vertrauten Gesichter verbargen sich so böse Gedanken, dass jemand töten musste.

      »Wie lange hat Madeleine hier gewohnt?«

      »Na ja, genau genommen hat sie außerhalb des Dorfs gewohnt, in dieser Richtung.« Clara deutete auf die Hügel. »Bei Hazel Smyth.«

      »Die gestern Abend ebenfalls anwesend war. Zusammen mit einer jungen Frau namens Sophie Smyth.«

      »Ihre Tochter. Madeleine ist vor ungefähr fünf Jahren zu ihnen gezogen. Sie kannten sich schon lange.«

      In diesem Augenblick zog Lucy an der Leine, und als Clara aufblickte, sah sie Peter aus ihrem Haus kommen und über die Straße gehen, er winkte. Sie machte Lucy nach einem Blick auf


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