Das verlassene Haus. Louise Penny
Читать онлайн книгу.richtete sich wieder auf und kam zu ihnen gehumpelt, vorne an der Hose zwei Pfotenabdrücke.
»Chief Inspector.« Peter Morrow streckte die Hand mit mehr Würde aus, als Gamache es für möglich gehalten hätte. Gamache erhob sich und schüttelte ihm fest die Hand. »Leider ein trauriger Anlass«, sagte Peter.
»Ja. Ich sagte gerade zu Clara, wir halten es für möglich, dass Madame Favreau keines natürlichen Todes starb.«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Sie waren nicht dabei, oder?«, sagte Gamache, ohne auf Peters Frage einzugehen.
»Nein, wir hatten gestern Abend ein paar Leute zum Essen da, und ich bin zu Hause geblieben, um aufzuräumen.«
»Wären Sie mitgegangen, wenn Sie Zeit gehabt hätten?«
Peter zögerte nur kurz. »Nein. Ich war nicht damit einverstanden.« Selbst für seine Ohren klang er wie ein viktorianischer Pfarrer.
»Peter versuchte, es mir auszureden«, sagte Clara. Inzwischen standen sie alle drei, und Clara nahm Peters Hand. »Er hatte recht. Wir hätten es nicht tun sollen. Wenn wir uns alle von dort ferngehalten hätten«, Clara deutete mit dem Kopf zu dem Haus auf dem Hügel, »dann wäre Madeleine noch am Leben.«
Wahrscheinlich stimmte das, dachte Gamache. Aber für wie lange? Es gab Dinge, denen man nicht entkommen konnte, und der Tod war eins davon.
Inspector Jean Guy Beauvoir sah zu, wie der letzte Kriminaltechniker seine Sachen zusammenpackte, dann verließ er das Schlafzimmer und schloss die Tür. Er riss ein Stück gelbes Klebeband von der Rolle ab und verklebte die Tür damit. Das wiederholte er öfter, als er es normalerweise getan hätte. Irgendetwas rief in ihm das Bedürfnis hervor, einzusperren, was immer sich in diesem Raum befand. Jean Guy Beauvoir würde das natürlich niemals zugeben, aber er hatte gespürt, wie etwas dort wuchs. Je länger er sich in diesem Zimmer aufhielt, desto stärker wurde es. Eine Vorahnung. Nein, keine Vorahnung. Etwas anderes.
Leere. Jean Guy Beauvoir hatte das Gefühl, ausgehöhlt zu werden. Plötzlich wurde ihm klar, dass an der Stelle, an der sein Innerstes war, bald nur noch ein Abgrund mit einem darin widerhallenden Echo gähnen würde, wenn er in diesem Zimmer blieb.
Er wollte so schnell wie möglich raus hier. Er sah hinüber zu Agent Lacoste und fragte sich, ob sie das Gleiche empfand. Für seinen Geschmack wusste sie viel zu viel über diesen Hexen-Schwachsinn. Er murmelte leise ein Ave-Maria, während er das Zimmer versiegelte, dann trat er einen Schritt zurück und begutachtete sein Werk.
Wenn er gesehen hätte, wie Christo den Reichstag in Berlin verhüllte, hätte er vielleicht eine gewisse Ähnlichkeit erkannt. Die Tür verschwand praktisch unter gelbem Klebeband.
Zwei Stufen auf einmal nehmend, stürmte er in den Sonnenschein hinaus. Die Welt schien so viel heller, die Luft so viel frischer, nachdem er dieser Gruft entkommen war. Selbst das Rauschen des Bella Bella klang tröstlich. Natürlich.
»Prima, Sie sind noch nicht weg.«
Beauvoir drehte sich um und sah Agent Robert Lemieux auf sich zukommen, ein Lächeln auf dem jungen, eifrigen Gesicht. Lemieux war noch nicht lange bei ihnen, aber er war bereits Beauvoirs Liebling. Er mochte junge Polizisten, für die er ein Idol war.
Das änderte jedoch nichts an seiner Überraschung.
»Hat der Chief Inspector Sie kommen lassen?« Beauvoir wusste, dass Gamache den Aufwand bei dieser Ermittlung möglichst gering halten wollte, bis zweifelsfrei feststand, dass es sich um einen Mord handelte.
»Nein, ich habe es von einem meiner Freunde bei der Polizei hier gehört. Ich bin gerade zu Besuch bei meinen Eltern drüben in Ste-Catherine-de-Hovey. Ich dachte, ich schau mal vorbei.«
Beauvoir warf einen Blick auf seine Uhr. Jetzt, wo er aus diesem verfluchten Haus heraus war, fragte er sich, ob es sich bei der Leere in seinem Inneren vielleicht einfach um Hunger handelte. Ja, das musste es sein.
»Kommen Sie mit. Der Chef ist im Bistro, wahrscheinlich hat er sich gerade das letzte Croissant geschnappt.« Obwohl das als Scherz gemeint war, merkte Beauvoir, dass ihn die Angst packte. Angenommen, es stimmte? Er eilte zum Auto, und die beiden Männer fuhren die hundert Meter nach Three Pines hinunter.
Armand Gamache saß vor dem Kamin, nippte an einem Martini und lauschte auf das Knistern der Flammen. Selbst Ende April war ein wärmendes Feuer gerade recht. Olivier hatte ihn mit einer Umarmung und einer Lakritzpfeife begrüßt.
»Danke, patron«, sagte Gamache, erwiderte die Umarmung und nahm die Pfeife entgegen.
»Es ist so entsetzlich, dass man es kaum begreifen kann«, sagte Olivier, schick wie immer in Cordhosen und einem übergroßen Kaschmirpullover. Jedes einzelne blonde Haar genau da, wo es sein sollte, kein Fältchen oder Fleck, die den Gesamteindruck gestört hätten. Im Gegensatz dazu hatte sein Partner sein Gebiss vergessen und war unrasiert. Dicke schwarze Bartstoppeln kratzten über Gamaches Wange, als er und Gabri sich umarmten.
Peter, Clara und Gamache folgten Gabri zu dem von der Sonne ausgeblichenen Sofa vor dem Kamin, während Olivier sich um die Getränke kümmerte. Als sie es sich gerade gemütlich machten, gesellte sich Myrna zu ihnen.
»Ich freue mich, Sie zu sehen.« Sie ließ sich auf einem der Ohrensessel neben dem Sofa nieder.
Gamache betrachtete die große schwarze Frau voller Sympathie. Sie führte seinen Lieblingsbuchladen.
»Warum sind Sie hier?«, fragte sie und sah ihn mit ihren intelligenten Augen freundlich an, was die unverblümte Frage etwas abmilderte.
Gamache fühlte eine gewisse Verwandtschaft mit dem Telegrammboten auf seinem wackeligen Fahrrad, der im Zweiten Weltkrieg unterwegs gewesen war. Der Überbringer schlechter Neuigkeiten. Immer misstrauisch beäugt.
»Er glaubt natürlich, dass sie ermordet wurde«, sagte Gabri, auch wenn es ohne sein Gebiss so klang, als würde Gamache etwas »klauen«.
»Ermordet?«, sagte Myrna und schnaubte. »Es war entsetzlich, sogar gewalttätig, aber es war kein Mord.«
»Inwiefern war es gewalttätig?«
»Ich glaube, wir fühlten uns alle, als würden wir angegriffen«, sagte Clara, und die anderen nickten.
In diesem Moment rissen Beauvoir und Lemieux in eine Unterhaltung vertieft die Tür des Bistros auf. Gamache hob die Hand, um sie auf sich aufmerksam zu machen. Sie verstummten und kamen zu dem Grüppchen am Kamin herüber.
Die Sonne schien durch das Fenster und im Hintergrund war das Gemurmel der anderen Gäste zu hören. Alle wirkten bedrückt.
»Erzählen Sie mir, was passiert ist«, sagte Gamache leise.
»Das Medium hat das Salz verstreut und die Kerzen angezündet«, sagte Myrna und schien die Szene dabei vor sich zu sehen. »Wir saßen im Kreis.«
»Wir hielten uns an den Händen«, ergänzte Gabri. Sein Atem war schneller und flacher geworden, er sah aus, als würde er allein bei der Erinnerung jeden Moment in Ohnmacht fallen. Gamache vermeinte fast den Herzschlag des großen Mannes zu hören.
»Ich hatte in meinem ganzen Leben noch nie so viel Angst«, sagte Clara. »Nicht einmal, als ich im Schneesturm auf der Schnellstraße unterwegs war.«
Die anderen nickten. Sie alle waren schon einmal in der gleichen Situation gewesen und davon überzeugt, dass ihr letztes Stündlein geschlagen hatte. Ein heftiger Aufprall, das schleudernde Auto außer Kontrolle geraten, unsichtbar in den wild durcheinanderwirbelnden Schneeflocken.
»Aber genau darum ging es doch, oder?«, fragte Peter, der sich auf der Lehne von Claras Ohrensessel niedergelassen hatte. »Euch selbst Angst einzujagen?«
Hatten sie es deswegen getan, fragte sich Clara.
»Wir waren dort, um die bösen Geister aus dem Haus zu vertreiben«, sagte Myrna, aber im hellen Licht des Tages klang das albern.
»Und vielleicht, um uns