Das verlassene Haus. Louise Penny
Читать онлайн книгу.ansah, wenn ihr Vater die Berichte über Gamaches Großtaten las. Gamache war auf diesen Bildern über die Jahre gealtert, die Haare waren ihm ausgegangen und ergraut, das Gesicht ein wenig breiter geworden. Ein gestutzter Schnurrbart war aufgetaucht und Falten, die nicht vom Zeitungspapier stammten, stellten sich ein.
Jetzt sollte sie diesem Mann leibhaftig begegnen, unglaublich.
»Herzlich willkommen.« Er hatte sie angelächelt und mit einer kleinen Verbeugung begrüßt, als er die Tür der Wohnung in Outremont öffnete. »Ich bin Daniels Vater. Treten Sie ein.«
Er trug für das sonntägliche Mittagessen graue Flanellhosen, eine bequeme Kaschmirjacke mit Hemd und Krawatte. Er roch nach Sandelholz, und seine Hand fühlte sich warm und fest an, vertraut. Sie kannte diese Hand. Die von Daniel fühlte sich genauso an.
Das war vor fünf Jahren gewesen, seither war vieles passiert. Sie hatten geheiratet und Florence bekommen, und eines Tages war Daniel in die Wohnung gestürzt und hatte ihr erzählt, dass eine Managementfirma ihm eine Stelle in Paris angeboten hätte. Nur einen Zwei-Jahres-Vertrag, aber immerhin, was sie davon hielte?
Sie musste nicht lange nachdenken. Zwei Jahre Paris? Eines davon war mittlerweile vergangen, und sie waren nach wie vor begeistert. Aber gleichzeitig vermissten sie ihre Familien und wussten, wie schwer den beiden Großelternpaaren der Abschied von Florence am Flughafen gefallen war. Ihre ersten Schritte und Worte nicht mitzubekommen, den ersten Zahn und die niedlichen Grimassen und wechselnden Launen. Roslyn hatte erwartet, dass es ihre Mutter am härtesten anging, aber stattdessen schien es Papa Armand am schlimmsten zu treffen. Als sie durch den verglasten Korridor zu ihrem Flugzeug ging und sah, wie er die Hände gegen die Scheibe im Warteraum presste, brach ihr fast das Herz.
Aber er hatte nichts gesagt. Er war froh für sie, und das hatte er ihnen auch zu verstehen gegeben. Er hatte sie gehen lassen.
»Wir werden euch alle vermissen.« Reine-Marie nahm ihre Hand und lächelte sie an.
Jetzt war ein zweites Kind unterwegs. Sie hatten es den Eltern Karfreitag beim Abendessen gesagt, sie waren völlig aus dem Häuschen gewesen. Ihr Vater hatte Champagner aufgemacht, und Armand war rasch losgelaufen, um eine Flasche mit alkoholfreiem Cidre zu kaufen, damit sie alle anstoßen konnten.
Während sie auf den bestellten Kaffee warteten, nahm Armand seinen Sohn am Arm und führte ihn ein Stück in den Pavillon hinein, weg von den neugierigen Blicken anderer. Er griff in seine Barbour-Jacke und reichte Daniel einen Umschlag.
»Dad, das brauche ich nicht«, flüsterte Daniel.
»Bitte nimm es.«
Daniel ließ den Umschlag in seiner Tasche verschwinden. »Danke.«
Der Sohn umarmte den Vater, und es sah aus, als träfen zwei Megalithen von der Osterinsel aufeinander.
Aber Gamache hatte sich nicht weit genug mit Daniel zurückgezogen. Jemand hatte sie gesehen.
Roslyn und Florence hatten sich zu einer anderen jungen Familie gesellt, und Daniel ging zu ihnen, während Gamache sich wieder auf der Bank niederließ, seiner Frau ihren Kaffee gab und erneut die Zeitung in die Hand nahm. Reine-Marie hatte sich in den politischen Teil von La Presse vertieft. Es fiel ihm auf, dass sie nicht einmal davon aufsah, er wusste, dass sie genau wie er beim Lesen manchmal alles andere vergaß. Henri schlief in der Sonne zu seinen Füßen, und er betrachtete die Leute, die vorbeigingen, während er an seinem Kaffee nippte.
Es war ein wunderbarer Tag.
Nach einigen Minuten ließ Reine-Marie die Zeitung sinken. Sie sah beunruhigt aus. Fast verängstigt.
»Was ist los?« Gamache legte seine große Hand auf ihren Unterarm, suchte ihren Blick.
»Hast du die Zeitung gelesen?«
»Bislang nur das Feuilleton, warum?«
»Ist es möglich, dass man zu Tode erschrickt?«
»Warum fragst du?«
»Offenbar ist das jemand. Zu Tode erschrocken.«
»Das ist ja schrecklich.«
»In Three Pines.« Reine-Marie sah ihm prüfend ins Gesicht. »Im alten Hadley-Haus.«
Armand Gamache erbleichte.
10
»Kommen Sie rein, Armand. Frohe Ostern!«
Superintendent Brébeuf schüttelte Gamache die Hand und bat ihn in sein Büro.
»Et vous, mon ami.« Gamache lächelte. »Frohe Ostern.«
Sein erstes Erstaunen über den Bericht, den ihm Reine-Marie gezeigt hatte, hatte sich gelegt. Er hatte ihn gelesen und gerade als er damit fertig gewesen war, hatte sein Handy geklingelt.
Es war sein Freund und Vorgesetzter bei der Sûreté du Québec, Michel Brébeuf.
»Ein neuer Fall«, hatte Brébeuf gesagt. »Ich weiß, dass Daniel mit seiner Familie zu Besuch ist, tut mir leid. Könnten wir uns trotzdem kurz im Büro sehen?«
Gamache wusste, es war reine Höflichkeit, dass sein Vorgesetzter fragte. Er hätte ihn auch einfach herzitieren können. Aber andererseits waren sie von früher Kindheit an miteinander befreundet und zur gleichen Zeit zur Sûreté gegangen. Sie hatten sich sogar zusammen um den Posten des Superintendent beworben. Brébeuf hatte ihn bekommen, aber das hatte ihrer Freundschaft keinen Abbruch getan.
»Sie fliegen heute Abend nach Paris zurück. Kein Problem. Wir haben die Zeit mit ihnen genossen, und wie immer war sie viel zu schnell vorbei. Ich bin gleich da.«
Er hatte sich von seinem Sohn, seiner Schwiegertochter und Florence verabschiedet.
»Ich rufe dich später an«, sagte er zu Reine-Marie und gab ihr einen Kuss. Sie winkte und sah ihm nach, wie er mit zielstrebigen Schritten zum Parkplatz ging, der hinter einer Reihe von Bäumen verborgen war. Sie sah ihm nach, bis er aus ihrem Blickfeld verschwand. Und dann sah sie ihm immer noch nach.
»Hast du die Zeitung gelesen?«, fragte Brébeuf, zum Du wechselnd, wie immer, wenn sie allein waren, und ließ sich auf dem Drehsessel hinter seinem Schreibtisch nieder.
»Gejagt trifft es eher als gelesen.« Er erinnerte sich an seinen Versuch, die Zeitung mit seinem großen Fußabdruck quer darüber zu lesen. »Du sprichst nicht etwa von dem Fall in Three Pines?«
»Du hast sie also gelesen.«
»Reine-Marie hat mich darauf aufmerksam gemacht. Aber es hieß, es wäre ein natürlicher Tod. Makaber, aber natürlich. Wurde sie tatsächlich zu Tode erschreckt?«
»Das sagen zumindest die Ärzte im Krankenhaus von Cowansville. Herzversagen. Aber …«
»Sprich ruhig weiter.«
»Du musst es dir selbst ansehen, wie ich gehört habe, machte sie den Eindruck, als …« Brébeuf hielt inne, fast schien es ihm peinlich zu sein, es auszusprechen, »als hätte sie etwas gesehen.«
»In der Zeitung stand, sie hätte an einer Séance im alten Hadley-Haus teilgenommen.«
»Eine Séance«, Brébeuf schnaubte. »Unsinn. Na gut, wenn Jugendliche so etwas machen, aber Erwachsene? Ich begreife nicht, warum jemand seine Zeit mit einem solchen Unsinn verschwenden sollte.«
Gamache fragte sich, warum der Superintendent an seinem freien Tag ins Büro gekommen war. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass Brébeuf schon einmal über einen Fall mit ihm gesprochen hätte, noch bevor feststand, dass es sich überhaupt um einen solchen handelte.
Warum also dieses Mal?
»Der Arzt kam erst heute Morgen auf die Idee, das Blut ins Labor zu schicken. Das hier kam zurück.«
Brébeuf reichte ihm ein Blatt Papier. Gamache setzte seine Lesebrille auf. Er hatte schon Hunderte solcher Berichte gelesen und wusste genau, wonach er suchen musste. Nach dem Ergebnis der toxikologischen Untersuchung