Das verlassene Haus. Louise Penny

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Das verlassene Haus - Louise Penny


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einzige Geräusch war das leise Prasseln des Salzes auf dem Boden. Claras Kopf dröhnte, so angestrengt lauschte sie auf die kleinste Regung. Der Gedanke, dass ein Vogel mit ausgestreckten Krallen und aufgerissenem Schnabel kreischend aus der Dunkelheit hervorstürzen könnte, trieb ihr den Angstschweiß auf die Stirn. In ihrem Nacken kribbelte es.

      Als Jeanne ein Streichholz anriss, fuhr Clara vor Schreck zusammen.

      »Wir laden die Weisheit der Welt in unseren geweihten Kreis ein, um uns zu schützen und zu führen und über unser Werk in dieser Nacht zu wachen, während wir dieses Haus von allen Geistern, die es besetzt halten, befreien. Von dem Bösen, das sich hier eingenistet hat. Von all der Verruchtheit, der Angst, dem Schrecken, dem Hass, die sich mit diesem Haus verbunden haben. Mit diesem Zimmer hier.«

      »Hat der Spaß schon angefangen?«, flüsterte Gabri.

      Jeanne zündete die letzten vier Kerzen an und kehrte zu ihrem Platz zurück, wo sie sich ruhig hinsetzte. Sie war die Einzige, die ruhig war. Clara spürte, wie ihr Herz pochte und sie stoßweise atmete. Neben ihr rutschte Myrna hin und her, als würden Ameisen über sie krabbeln. Alle waren bleich und starrten vor sich hin. Der Kreis mochte ja geweiht sein, dachte Clara, verängstigt war er jedenfalls bestimmt. Sie sah sich um und fragte sich, wer aus der Gruppe als Erster daran glauben müsste, wenn das ein Film wäre und sie und Peter ihn sich auf dem Sofa aneinandergekuschelt ansähen.

      Der ängstliche, hagere Monsieur Béliveau, immer noch in Trauer?

      Oder der große, kräftige Gilles Sandon, in den Wäldern mehr daheim als in seinem viktorianischen Haus?

      Hazel, so freundlich und großzügig. Oder war sie schwach? Vielleicht aber auch ihre Tochter, die unersättliche Sophie?

      Nein. Claras Blick landete bei Odile. Sie wäre die Erste, die verloren war. Arme, kleine Odile. Schon jetzt ganz verloren. Diejenige, die am bedürftigsten war und die am wenigsten vermisst würde. Sie war geradezu genetisch dazu bestimmt, als Erste gefressen zu werden. Clara hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie so grausame Gedanken hatte. Sie gab dem Haus die Schuld. Diesem Haus, das alles Gute fernhielt und das Böse belohnte.

      »Jetzt rufen wir die Toten«, sagte Jeanne, und Clara, überzeugt, sich nicht noch mehr fürchten zu können, fürchtete sich noch mehr.

      »Wir wissen, dass ihr hier seid.« Jeannes Stimme veränderte sich und wurde kräftiger. »Sie kommen. Kommen aus dem Keller, kommen vom Dachboden. Sie sind jetzt alle um uns herum. Sie kommen den Flur herunter.«

      Clara war sicher, Schritte zu hören. Schlurfende, hinkende Schritte auf dem Teppich draußen. Sie konnte die Mumie sehen, die Arme ausgestreckt, eingewickelt in schmutzige, halb verfaulte Verbände, wie sie auf sie zuschlurfte, durch den verdammten dunklen Flur. Warum hatten sie die Tür offen gelassen?

      »Kommt!«, knurrte Jeanne. »Jetzt!« Sie klatschte in die Hände.

      Im Zimmer war ein Schrei zu hören, innerhalb des geweihten Kreises. Dann noch einer.

      Und ein Rums.

      Der Tod war gekommen.

      9

      Chief Inspector Armand Gamache warf über den Rand der Zeitung einen verstohlenen Blick auf seine kleine Enkelin. Sie saß am Ufer des Beaver Lake im Matsch und steckte ihren schmutzigen großen Zeh in den Mund. Ihr Gesicht war mit Matsch oder Schokolade oder etwas ganz anderem, was er sich lieber gar nicht erst vorstellen wollte, beschmiert.

      Es war Ostermontag, und sämtliche Einwohner Montréals schienen dieselbe Idee gehabt zu haben. Einen Morgenspaziergang um den Mont Royal zum Beaver Lake auf dem Gipfel. Gamache und Reine-Marie sonnten sich auf einer der Bänke und sahen zu, wie ihr Sohn und seine Familie ihren letzten Tag in Montréal genossen, bevor sie nach Paris zurückflogen.

      Laut quietschend wankte die kleine Florence ins Wasser, Gamache ließ die Zeitung fallen und war schon halb aufgesprungen, als er spürte, dass ihn eine Hand zurückhielt.

      »Daniel ist da, mon cher. Das ist jetzt seine Aufgabe.«

      Armand lehnte sich wieder zurück und sah immer noch sprungbereit zu. Neben ihm erhob sich sein junger deutscher Schäferhund Henri, der den plötzlichen Stimmungswechsel spürte. Aber da lachte Daniel auch schon und fing seine winzige, tropfnasse Tochter in seinen kräftigen, schützenden Armen auf und drückte sein Gesicht in ihren Bauch, was sie dazu brachte, zu lachen und den Kopf ihres Vaters zu umarmen. Gamache atmete tief durch, beugte sich zu Reine-Marie, küsste sie und flüsterte ein »Danke« in ihr ergrauendes Haar. Dann streckte er seine Hand aus, strich über Henris Flanke und gab auch ihm einen Kuss auf den Kopf.

      »Braver Junge.«

      Jetzt konnte sich Henri endgültig nicht mehr beherrschen, er sprang auf und machte Anstalten, die Pfoten auf Gamaches Schultern zu legen.

      »Nein«, befahl Gamache. »Sitz.«

      Henri ließ sich sofort zurücksinken.

      »Platz.«

      Henri legte sich zerknirscht hin. Es gab keinen Zweifel, wer hier das Alphatier war.

      »Braver Junge«, sagte Gamache und gab Henri einen Hundekeks zur Belohnung.

      »Braver Junge«, sagte Reine-Marie zu Gamache.

      »Und wo ist meine Belohnung?«

      »Monsieur l’inspecteur! In einem öffentlichen Park?« Sie warf einen Blick zu den anderen Familien, die durch den Parc Mont Royal spazierten, den wunderschönen, hügeligen Park, der sich mitten in Montréal erhob. »Wobei es wahrscheinlich nicht das erste Mal wäre.«

      »Für mich schon.« Gamache lächelte und wurde ein wenig rot, froh, dass Daniel und seine Familie nicht zuhörten.

      »Du bist auf eine etwas ungeschlachte Art bezaubernd.« Reine-Marie gab ihm einen Kuss. Gamache hörte ein Rascheln und sah, wie der Feuilletonteil seiner Zeitung davonflog, ein Blatt nach dem anderen. Er sprang auf, rannte hierhin und dorthin, versuchte, auf die Blätter zu treten, bevor sie ganz wegflogen. Florence, die mittlerweile in eine Decke gewickelt war, sah ihm zu, deutete mit ihrem Finger auf ihn und lachte. Daniel stellte sie auf den Boden, und sie stampfte auch mit den Füßen. Gamache stampfte kräftiger, bis Daniel, seine Frau Roslyn und die kleine Florence alle herumstampften und eingebildeten, frech herumflatternden Zeitungsseiten hinterherjagten. Gamache als Einziger den echten.

      »Gut, dass Liebe blind macht«, sagte Reine-Marie lachend, nachdem Gamache zu ihrer Bank zurückgekehrt war.

      »Und nicht gerade schlau«, stimmte Gamache ihr zu und drückte ihre Hände. »Ist dir warm genug? Möchtest du einen Kaffee?«

      »Ja, gern.« Seine Frau sah von ihrer Zeitung, La Presse, auf.

      »Warte, Dad, ich helfe dir.« Daniel übergab Florence seiner Frau, und die beiden Männer machten sich auf den Weg zu dem Pavillon im Wald, unweit des Sees. Jogger liefen keuchend die Pfade auf dem Mont Royal entlang. Hier und da erschien ein Reiter auf einem der Reitwege und verschwand wieder. Es war ein strahlender Frühlingstag, die Luft war angenehm warm.

      Reine-Marie sah ihnen hinterher, zwei in der Menge auf und ab hüpfende Köpfe. Sie waren sich so ähnlich. Groß und kräftig wie Eichen, Daniels braune Haare fingen gerade an, sich zu lichten, während die von Armand oben schon fast verschwunden waren. Die Seiten, kurz und dunkel, wurden langsam grau. Mit seinen Mitte fünfzig hielt sich Armand Gamache sehr aufrecht, genau wie sein Sohn, der schon unglaubliche dreißig war.

      »Vermisst du ihn sehr?« Roslyn setzte sich neben ihre Schwiegermutter und sah in das freundliche, von feinen Fältchen durchzogene Gesicht. Sie mochte Reine-Marie sehr, und zwar von ihrer ersten Begegnung an, als sie bei den Gamaches zum Essen eingeladen gewesen war. Daniel und sie kannten sich damals noch nicht lange, und er wollte sie seiner Familie vorstellen. Sie war wie vom Donner gerührt. Zum einen wusste sie damals schon, dass sie Daniel liebte, zum anderen sollte sie nun auch noch den berühmten Chief Inspector Armand Gamache kennenlernen. Er hatte die schwierigsten Mordfälle gelöst, unbestechlich und ohne sich je aus der Ruhe


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