Das verlassene Haus. Louise Penny

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Das verlassene Haus - Louise Penny


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hat recht«, sagte Jeanne. »Das ist eine gefangene Seele. Wir können nicht einfach so tun, als wäre er nicht da.«

      »Vielleicht ist es überhaupt kein Vogel«, flüsterte Gabri Hazel zu, die immer noch nicht glauben konnte, dass sie hier war.

      Eng aneinandergepresst bewegten sie sich wie ein riesiges Insekt weiter. Auf vielen Füßen schlichen sie, verfolgt von vielen Ängsten, durch das feuchtkalte Haus und blieben immer wieder stehen, um sich zu orientieren.

      »Es ist oben«, sagte Jeanne leise.

      »Wo sonst?«, fragte Gilles. »Sie sind nie gleich bei der Tür. Nie hausen sie im sommerlichen Rosengarten oder im Wagen des Eismanns.«

      »Das erinnert mich an ein Spiel, das ich immer mit Peter spiele«, sagte Clara zu Myrna, die sich im Moment nicht die Bohne dafür interessierte. Sie überlegte gerade, ob sie mal wieder die Langsamste von allen war. Vielleicht war Hazel noch langsamer, dachte Myrna hoffnungsvoll, und die Dämonen würden über sie herfallen. Aber Hazel würde garantiert jeden Geschwindigkeitsrekord brechen, um ihre Tochter zu retten. Als Psychologin wusste Myrna, dass Mütter übermenschliche Kräfte entwickelten, wenn es um ihre Kinder ging.

      Dieser miese Mutterinstinkt, dachte Myrna, vermasselt mir noch mein ganzes Leben. Sie trat auf die Treppe, der Treppenläufer war abgetreten und mottenzerfressen, und mit jeder fürchterlichen Stufe, die sie erklomm, hörte sie das wilde Schlagen von Flügeln lauter werden.

      »Immer wenn wir uns einen Gruselfilm ansehen, wo Leute in ein Gespensterhaus gehen …« Clara redete immer weiter. Gut, dachte Myrna, dann werden sich die Dämonen auf sie stürzen, »… dann spielen wir ›Wann haut ihr endlich ab?‹ Körperlose Köpfe schweben herum, Schmerzensschreie, Freunde ohne Eingeweide, und doch bleiben sie.«

      »Bist du fertig?«

      »Ja, völlig.« Clara hatte es geschafft, sich noch mehr in Angst zu versetzen, und fragte sich, ob Peter ihr jetzt zurufen würde, dass sie endlich abhauen sollte, wenn das ein Film wäre.

      »Dort drinnen.«

      »Natürlich«, murmelte Gilles.

      Jeanne stand vor einer geschlossenen Tür. Die einzige geschlossene Tür auf dem ganzen Flur. Plötzlich war es still.

      Dann war direkt hinter der Tür ein heftiges Flattern zu hören, als würde sich das Ding da drinnen gegen die Tür werfen.

      Jeanne streckte ihre Hand aus, aber Monsieur Béliveau trat vor und zog sie mit seiner langen, schmalen Hand vom Türknauf weg. Dann machte er noch einen Schritt und nahm ihn selbst in die Hand.

      Er drehte ihn.

      Sie konnten nichts erkennen. Die Dunkelheit blieb undurchdringlich, obwohl sie mit aufgerissenen Augen in das Zimmer starrten. Aber etwas dort drin entdeckte sie. Nicht der Vogel, der jetzt wieder still war. Etwas anderes. Der Raum strömte Kälte aus, die von einem Hauch Parfüm begleitet wurde.

      Der Raum roch nach Blumen. Frischen Frühlingsblumen.

      Clara überkam plötzlich eine tiefe Melancholie, eine Traurigkeit, die aus ihrem Innersten hochstieg. Sie spürte den Kummer des Zimmers. Die Sehnsucht des Zimmers.

      Sie holte tief Luft und merkte erst jetzt, dass sie sie angehalten hatte.

      »Kommen Sie«, flüsterte Jeanne, ihre Stimme schien in Claras Kopf zu sein, »lassen Sie uns tun, weshalb wir gekommen sind.«

      Die anderen sahen zu, wie zuerst Jeanne und dann Clara in die Dunkelheit traten. Dann folgten sie ihnen, und ihre Taschenlampen erhellten den Raum immer mehr. Schwere Samtvorhänge hingen schief an den Fenstern. An einer Wand stand ein Himmelbett, das immer noch mit weißer Spitzenbettwäsche bezogen war. Das Kissen war eingedrückt, so als hätte dort ein Kopf gelegen und hätte sich unruhig hin und her gewälzt.

      »Ich kenne dieses Zimmer«, sagte Myrna. »Genau wie ihr beiden«, sagte sie zu Clara und Gabri.

      »Das Schlafzimmer der alten Timmer Hadley«, sagte Clara, erstaunt, dass sie es nicht gleich wiedererkannt hatte. Das machte die Angst. Clara war oft in diesem Zimmer gewesen, als sie sich um die sterbende alte Frau gekümmert hatte.

      Sie hatte Timmer Hadley gehasst. Das Haus gehasst. Die Schlangen, die sie durch den Keller gleiten hörte. Vor ein paar Jahren hatte dieses Haus sie beinahe umgebracht.

      Clara spürte eine Welle der Übelkeit in sich aufsteigen. Den Drang, dieses verfluchte Haus niederzubrennen. Dieses Haus, das all ihren Kummer, ihre Wut und ihre Ängste in sich barg, aber nicht etwa aus Selbstlosigkeit. Nein. Das alte Hadley-Haus brütete diese Dinge aus, dann schickte es Kummer und Schrecken in die Welt, und deren Nachkommen kehrten irgendwann zurück, so wie Söhne und Töchter es an Ostern taten.

      »Lasst uns gehen«, sagte Clara und wandte sich zur Tür.

      »Das können wir nicht«, sagte Jeanne.

      »Warum nicht?«, fragte Monsieur Béliveau. »Ich finde, Clara hat recht. Ich habe auch kein gutes Gefühl bei der Sache.«

      »Wartet«, sagte Gilles. Der große Mann stand mitten im Raum, die Augen geschlossen und den Kopf in den Nacken gelegt, sodass sein buschiger roter Bart auf die Wand deutete. »Es ist nur ein Haus«, sagte er schließlich mit ruhiger, eindringlicher Stimme. »Es braucht unsere Hilfe.«

      »Das ist doch Unsinn«, sagte Hazel und wollte Sophies Hand nehmen, aber das Mädchen schüttelte sie ab. »Ist es nur ein Haus, oder braucht es unsere Hilfe? Es geht nur eins von beidem. Mein Haus hat mich noch nie um Hilfe gebeten.«

      »Vielleicht hast du es nur nicht gehört«, meinte Gilles.

      »Ich will bleiben«, sagte Sophie. »Und du, Madeleine?«

      »Können wir uns setzen?«

      »Leg dich doch hin«, sagte Gabri und ließ seine Taschenlampe über das Bett wandern.

      »Nein danke, lieber Gabri. Noch ist es nicht so weit.« Madeleine lächelte, und der Bann war gebrochen. Ohne weitere Diskussion machten sie sich an die Arbeit. Sie trugen Stühle im Schlafzimmer zusammen und stellten sie im Kreis auf.

      Jeanne legte die Tasche, die sie mitgebracht hatte, auf einen der Stühle und fing an, sie auszupacken, während Clara und Myrna sich umsahen. Sie betrachteten den Kamin mit dem dunklen Mahagonisims und dem ernst dreinblickenden viktorianischen Porträt darüber. Im Bücherregal standen lauter ledergebundene Bände aus einer Zeit, als die Leute wirklich noch gelesen hatten und die Bücher nicht einfach meterweise von einem Innenarchitekten anschaffen ließen.

      »Ich frage mich, wo der Vogel ist«, sagte Clara und griff nach einem Nippesstück auf der Kommode.

      »Der Arme wird sich vor uns verstecken. Wahrscheinlich ist er zu Tode erschrocken«, sagte Myrna und leuchtete mit ihrer Taschenlampe in eine dunkle Ecke. Kein Vogel.

      »Es ist wie in einem Museum.« Gabri gesellte sich zu ihnen und nahm einen silbernen Spiegel in die Hand.

      »Eher wie in einem Mausoleum«, sagte Hazel. Als sie sich wieder umdrehten, stellten sie erstaunt fest, dass der Raum jetzt von Kerzen erleuchtet war. Mindestens zwanzig davon mussten über das Schlafzimmer verteilt sein. Sie brannten zwar, aber aus irgendeinem Grund schien das Licht, das bei Clara und Peter so warm und anheimelnd wirkte, sich in diesem Raum selbst zu verhöhnen. Die Dunkelheit wirkte noch dunkler, und die flackernden Flammen warfen grotesk verzerrte Schatten auf die gemusterte Tapete. Clara hätte am liebsten alle Kerzen gelöscht, um die Dämonen, die sie mit ihren eigenen Schatten erzeugten, zu bezwingen. Selbst ihr Schatten, der ihr so vertraut war, wirkte verzerrt und unheimlich.

      Als Clara schließlich in dem Kreis saß, mit dem Rücken zur offenen Tür, bemerkte sie, dass vier Kerzen nicht angezündet waren. Nachdem jeder einen Stuhl gewählt hatte, hatte Jeanne in einen kleinen Beutel gegriffen, nun ging sie um die Stühle herum und verstreute dabei etwas.

      »Jetzt ist der Kreis geweiht«, sagte sie, das Gesicht abwechselnd im Schatten und im Licht, die Augen tief in ihre Höhlen gesunken, sodass sie fast wie schwarze Löcher aussahen. »Das Salz


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