Die Ehe des Dr. Jorg - Liebesroman. Marie Louise Fischer
Читать онлайн книгу.Chauffeur war herausgeklettert, riß die Tür auf, beugte sich hinein, richtete sich wieder auf, stand offensichtlich ratlos.
Dr. Jorg hatte schon das Fenster heruntergekurbelt, wollte den Fahrer zurechtweisen, als ihm auffiel, wie ungewöhnlich das Benehmen des Mannes war. Er stieg aus, trat auf ihn zu. „Etwas nicht in Ordnung?“ fragte er.
„Kann man wohl sagen! Die alte Dame ist umgekippt! Zufällig sehe ich in den Spiegel, und da rutscht sie zusammen.“
„Was für eine Dame?“
„Mein Fahrgast natürlich! Vor fünf Minuten hat sie mich angehalten und . . .“
„Lassen Sie mich mal sehen. Ich bin Arzt.“
„Na, da bin ich aber froh, Herr Doktor! Ich habe einen Schreck gekriegt, sage ich Ihnen . . .“
Dr. Jorg kletterte in das Taxi hinein, fühlte den Puls der alten Dame, die, halb vom Sitz gerutscht, dalag. Er war tastbar, aber stark verlangsamt. Er zog die Augenlider hoch, stellte fest, daß die Pupillenreaktion beidseitig vorhanden, aber ebenfalls sehr verlangsamt war.
Dann richtete er sich wieder auf.
„Hat sie’s erwischt?“ fragte der Chauffeur.
„Nein. Sie ist nur bewußtlos.“
„Sie wollte zum Bahnhof. Soll ich sie trotzdem dorthin fahren? Vielleicht kommt sie unterwegs wieder zu sich.“
„Nein. Bringen Sie sie zur Unfallklinik. Augenblick . . .!“
Er wandte sich wieder der alten Dame zu. Außer einer schwachen, kaum merkbaren Atemtätigkeit gab sie kein Lebenszeichen von sich.
„Hat sie eine Handtasche bei sich?“
„Ja doch . . . ich glaube wenigstens. So ein schwarzes großes Ding, wenn ich mich recht erinnere. Vielleicht ist sie heruntergerutscht.“
Dr. Jorg tastete den Sitz ab, dann den Boden, fand die Tasche. Sie lag zwischen den Füßen der Bewußtlosen. Er griff hinein, fand zwei leere Medikamentenröhrchen, suchte die Aufschrift bei dem schwachen Licht einer Straßenlaterne zu entziffern. Es handelte sich um ein bekanntes Schlafmittel.
Er pfiff durch die Zähne. „Verdammt noch mal“, sagte er, „habe ich es mir doch gedacht . . . ein Suicid.“
„Ein was?“
„Selbstmordversuch.“
„Und da setzt sie sich zu mir ins Taxi! Großer Gott, die Leute haben Nerven!“
„Passen Sie auf, ich werde vorausfahren . . . folgen Sie mir, so schnell Sie können!“
Ohne eine Bestätigung des Fahrers abzuwarten, lief er zurück, stieg in sein Auto, fuhr an dem Taxi vorbei, bog nach rechts ab in Richtung Unfallklinik.
Im Rückspiegel sah er, daß der andere Wagen dicht hinter ihm war.
Als die Lichter der Unfallklinik vor ihm auftauchten, atmete er auf. Er fuhr in den Hof, bremste, sprang aus dem Auto, eilte in die Ambulanz hinein, beorderte zwei Krankenpfleger zum Taxi.
Der diensthabende Arzt war gerade damit beschäftigt, den Arm eines Mannes zu verbinden.
„Schnell!“ sagte Dr. Jorg. „Ein Suicid! Der Magen muß sofort ausgepumpt werden, sonst . . .“
„Aber ich kann hier nicht fort“, sagte der junge Arzt hilflos und wies auf eine Reihe wartender Patienten.
„Dann lassen Sie jemanden aus dem Vorbereitungsraum kommen!“
„Unmöglich! Ein schwerer Autozusammenstoß auf der Sonnenstraße . . .“
„Verflucht! Dann mache ich es eben selber! Geben Sie mir wenigstens eine Schwester!“
Dr. Jorg wies die Krankenpfleger an, die Trage mit der Bewußtlosen in das Untersuchungszimmer neben der Ambulanz zu bringen, warf Mantel und Jacke über einen Stuhl, krempelte sich die Ärmel auf, wusch sich die Hände.
Die Schwester kam herein, eine ältliche, resolute Person.
„Kleiden Sie die Patientin aus, Schwester“, sagte Dr. Jorg, „heiße Tücher!“
Er riß den Schrank auf, fand einen Kittel, zog ihn über. Dann inspizierte er die Mundhöhle, stellte fest, daß die Patientin kein künstliches Gebiß trug, rief: „Magenspülung!“
Er führte die Magensonde ein, verband sie mit einem Gummizwischenstück mit dem Trichter, in den die Schwester lauwarmes Wasser einlaufen ließ. Dann hob er den Trichter, das Wasser lief langsam ein. Er senkte den Trichter, und Wasser, vermischt mit dem Mageninhalt, lief ab.
Die Schwester wiederholte diese Prozedur noch achtmal, bis der Magen völlig ausgespült war. Dr. Jorg überprüfte indessen Blutdruck, Atmung und Puls. Aber es zeigte sich kein Zeichen von Besserung. Immerhin war jedoch erreicht, daß kein weiteres Gift in die Blutbahn aufgenommen werden konnte.
„Sauerstoff!“ ordnete Dr. Jorg an.
Die Schwester reichte ihm die Nasensonde, durch die der Patientin Sauerstoff zugeführt wurde.
Dr. Jorg überprüfte die Reflexe der Patientin. Sie waren kaum noch da.
Jetzt gab es nur noch eine Möglichkeit, die alte Dame dem selbstgewählten Tod zu entreißen. Dr. Jorg mußte Gegengift spritzen, hochgiftige Substanzen, die im menschlichen Körper Muskelzuckungen und Muskelkrämpfe auslösen. Die richtige Dosierung dieser Toxine hing von der Schwere des Falles ab, sie mußte sehr behutsam und überlegt vorgenommen werden.
Aber Dr. Jorg war erschöpft.
Er zog die Spritze mit dem Gegengift auf, während die Schwester der Patientin eine Staubinde um den Arm legte. In diesem Augenblick stürzte der junge Arzt aus der Ambulanz herein. „Kann ich helfen? Ich bin . . .“
„Ja, das können Sie!“ unterbrach ihn Dr. Jorg grob. „Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie jetzt endlich den Fall übernehmen würden!“
„Aber natürlich, Herr Kollege! Ich konnte bis jetzt nur nicht, weil . . .“
Dr. Jorg schnitt ihm das Wort ab. „Der Magen ist abgesaugt“, sagte er, „auf Sauerstoff hat die Patientin nicht reagiert. Ich wollte gerade Gegengift injizieren . . .“
Er sah auf die Spritze in seiner Hand, spürte, wie ihm kalter Schweiß aus allen Poren brach – er hatte 5 ml aufgezogen, für die alte Dame eine möglicherweise tödliche Dosis!
Er hatte das Gefühl, daß die Schwester und der junge Arzt ihn entgeistert anstarrten, gewann mit äußerster Anstrengung seine Beherrschung zurück.
„Das ist denn doch wohl zuviel“, sagte er gepreßt, „2 ml genügen fürs erste. Wenn die Patientin darauf nicht anspricht, können Sie die Dosis allmählich erhöhen. Ich würde sagen, alle Viertelstunden.“
„Jawohl, Dr. Jorg“, sagte der junge Arzt.
„Wenn sie Zeichen motorischer Unruhe gibt, können Sie die Dosis wieder senken. Und vergessen Sie nicht, ihr eine Spritze zur Unterstützung des Herzmuskels zu geben, später eine Tropfinfusion mit einem Liter physiologischer Kochsalzlösung, um die Ausscheidung durch die Nieren und damit die Entgiftung des Körpers zu beschleunigen.“
„Wird gemacht“, sagte der junge Arzt munter, „und noch einmal vielen Dank, Herr Kollege, daß Sie für mich eingesprungen sind!“
„Keine Ursache“, murmelte Dr. Jorg und verließ mit schleppenden Schritten das kleine Zimmer.
Nur sehr langsam erholte er sich von seinem Entsetzen. Noch nie zuvor war ihm ein solcher Irrtum unterlaufen. Wie war es möglich, daß ihm, gerade ihm so etwas hätte passieren können?
Ihm war, als wenn er am Rande des Wahnsinns stünde.
Mitternacht war vorbei, als Dr. Jorg die Tür seines Hauses aufschloß. Er hatte erwartet, daß Inge längst zu Bett gegangen war. Aber in der Diele brannte Licht.