Pferdeglück. Lise Gast

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Pferdeglück - Lise Gast


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werden, kurz gesagt.“

      „Brigge schmeißt dich doch nicht hinaus!“ riefen beide wie aus einem Mund. „Und sie sagt, du wärst ein hervorragender Reiter. Wir haben doch Pferde – o Vati, du mußt kommen! Eins heißt Mausi, hellgrau, eine Stute, noch jung – – und eins Prinz. Die Mausi geht ein bißchen schwer an den Zügel, weißt du, sie ist noch steif in den Ganaschen, aber …“, und nun schütteten sie ihre ganze Reitbegeisterung über ihn aus. Der Vater, zurückgelehnt in seinen Sitz, sah von einem der jungen Gesichter ins andere.

      Er hatte sie fast zehn Jahre nicht gesehen. Unvorstellbar, Töchter zu besitzen und sie nicht um sich zu haben, in diesem entzückenden Alter – – –. O Brigge, du Dickkopf, du Rechthaber, du …

      Es gelang ihm im Augenblick recht gut, sich schlecht behandelt und bedauernswert zu fühlen, so etwas konnte er hervorragend. Daß in Wirklichkeit damals er es gewesen war, der von seiner Frau weggegangen war, daran zu denken vermied er geflissentlich. Sie hatte ihn hinausgeworfen, sie hatte ihm vorenthalten, was ihm zustand: eine Familie, zwei entzückende Töchter – – –

      „Was hast du denn, Vati?“ fragte Schimmel jetzt leise. „Ist dir nicht gut?“ Sie sah ihn mit einem ängstlichen und sehr liebevollen Blick an. So konnte auch Brigge schauen, selten, aber manchmal … der Vater bemühte sich um ein Lächeln.

      „Doch. Ich bin nur traurig. – – Ich lebe so allein, wißt ihr – –“

      „Jetzt nicht mehr! Jetzt bist du nicht mehr allein! Du kommst mit zu uns“, sagte Schimmel schnell und drängend in tröstlichem Ton, „Brigge wird sich wahnsinnig freuen, und die-“

      „Die Großmutter auch!“ fiel Gisela ein und schoß einen Löwenbändigerblick auf die Schwester ab, „ja, die auch. Das meinst du doch auch, Schimmel, nicht wahr?“

      „Ja, die Großmutter auch.“ Schimmel hatte verstanden. Brigge hatte es ihnen oft und oft gesagt. Nie sollte der Vater es wissen, nie – – und dann war ihre ganze, stämmige kleine Person eine einzige Drohung gewesen: Warte nur, du wirst dich wundern! Nein, das mußte man ihr nun überlassen, dieser Mutter, die ihnen nun mal gegeben worden war. Manchmal hatte sie über sie geseufzt, wie es Heranwachsende immer und überall über die Altvorderen tun, obwohl sie sie im Grunde schon mochten, jedenfalls mit anderen Müttern nicht hätten tauschen mögen. Mit Müttern: ,Es gehört sich‘ und ,Das hätte ich nie zu meiner Mutter gesagt‘ und solchem Zeug. Brigge war im Grunde schon recht, jetzt aber hatten sie auch einen Vater, wie wunderbar. Jetzt wurde alles anders.

      „Also du kommst mit, und wir sagen Brigge nichts, und – nein, wir sagen es doch! Wir sagen, wir bringen jemanden mit, und ob sie ihn erkennen würde – oder wir gehen einfach ins Haus, und du schleichst dich hintenherum rein – nein, das geht nicht, aber vielleicht – –“ Sie sprachen durcheinander, prusteten vor Lachen, hatten immer neue Ideen, während der Vater seine inzwischen ausgegangene Zigarre anstarrte und immerzu dachte: Fast zehn Jahre. Fast ein Jahrzehnt deines Lebens. War das nötig gewesen? War das richtig? Konnte man da überhaupt noch kommen, ohne zu gewärtigen, daß man hinausflog, diesmal aber im wahrsten Sinne des Wortes?‘

      „Reiterpension Heidehof …“

      Das Wort ,Reiter‘ brachte ihn in die Gegenwart zurück. ,Du müßtest die Mausi mal reiten, ganz zuverlässig ist sie nämlich nicht‘, hatte Schimmel vor ein paar Augenblicken gesagt.

      Brigge war soweit eine ganz gute Reiterin, keine hervorragende, aber immerhin. Und die Mädchen, nun, die waren bestimmt nach ihm, dem Vater, geraten, aber sie waren noch jung. Wenn also eins der Pferde jemanden brauchte, der es – nun, sagen wir mal: korrigierte …

      Er richtete sich auf.

      „Ihr meint also, die Mausi ist nicht zuverlässig? Nun, da muß ich, glaub’ ich, schon mal nach dem Rechten sehen kommen“, sagte er und fühlte sich verantwortlich und pflichtbewußt, uneingedenk dessen, daß er sich zehn Jahre lang nicht gekümmert hatte, „also ich komme mit, wenigstens für kurz. Es geht ja nicht, daß ihr ein Pferd reitet, das – –“

      „Wenn der wüßte, daß die Jungen sie schon reiten“, flüsterte Schimmel Gisela zu, die kichernd in sich zusammensackte. Der Vater war soeben ausgestiegen und um den Wagen herumgegangen, weshalb, ahnten sie nicht. „Sag bloß nichts von den Jungen – –“

      „Mensch, wo werd’ ich denn! Weiß ich doch längst …“

      *

      Brigge radelte heim. Sie war im Nachbardorf gewesen und hatte frische Eier gekauft, Eier von „Herumlauf-Hennen“. Andere konnte man den Gästen ja nicht vorsetzen. Das Eierkörbchen hing an der Lenkstange. Brigge war friedlicher Laune.

      Sie besaß einen kleinen Wagen, einen winzigen, alt gekauft, an dem häufig etwas zu reparieren war, manchmal aber fuhr er auch. Aber sie radelte. Erstens machte es schlank und erhielt fit, zweitens sparte man Benzin, und drittens sollten die Kinder zur Bescheidenheit erzogen werden. Die taten überhaupt, als hätte sie, Brigge, ein Dukatenmännchen in ihrem Sekretär, das Tagund Nachtschicht machte. Jetzt wünschte sich Gisela einen Kassettenrecorder! So was! Sie, Brigge, hätte das nie gewagt, mit siebzehn Jahren!

      Daß es damals noch gar keine gab, überlegte sie nicht. Und ihre Empörung war auch nicht allzu groß, dazu war der Tag zu schön. Sie pfiff vor sich hin, selbstvergessen und vergnügt.

      Der Weg, schwarz mit weißen Sandstreifen durchsetzt, führte hier am Wald entlang, bald würde sie die Oerze queren. Brigge sprang ab, als sie soeben erblühte Heide entdeckte, pflückte ein paar Stengel davon. Jetzt kamen bald die hohen, kühlen, blitzenden Morgen des Herbstes, der die Krone aller Jahreszeiten ist, unumstritten, vor allem hier in dieser Gegend. „Es stehn drei Birken auf der Heide, vallerie und vallera …“

      Sie befestigte die kleinen holzigen Stengel vorn an ihrem Kleid. Dann stieg sie wieder auf, dabei summte sie dieses alte Lönslied vor sich hin, nach der Jödeschen Melodie, die den leichten Sinn der Worte so gut traf. Währenddessen überholte sie einen ziemlich zerlumpt gekleideten Mann, der am Wald entlangging und nach der anderen Seite sah, als sie an ihm vorbeifuhr, so, als wollte er sein Gesicht nicht sehen lassen. Merkwürdig, warum wollte er das nicht? Sein Rücken war ein wenig gebeugt, die Schultern zusammengezogen, seine ganze Haltung machte einen gedrückten und geduckten Eindruck. Brigge hatte aufgehört zu summen und fuhr schneller weiter. Nach einer Weile merkte sie, daß sie nicht mehr vergnügt und zufrieden war.

      Als sie die Oerze überquert hatte, unterhalb der Badestelle, die sie gern mit den Kindern benützte, weil sie so versteckt lag, daß man auch ohne alles ins Wasser gehen konnte, wußte sie plötzlich den Grund ihrer Verstimmung. Sie hatte neulich in Celle, als sie nach dem Einkaufen einen Kaffee trank, in Illustrierten geblättert und dabei einen Artikel gelesen über einen Mann, der sich in der Heide herumtreiben sollte und Kinder, insbesondere kleine Jungen, an sich lockte, um sie umzubringen. Schauerlich, zum Grausen.

      Es war natürlich dumm, sich nun sofort die eigenen Kinder vorzustellen. Gefahr ist überall, wo man einsam wohnt, und wo nicht, ist auch welche. In der Großstadt gibt es den Moloch Verkehr, war der nicht noch größer? Übrigens mochte es auch da solche schrecklichen Menschen geben, vielleicht sogar noch häufiger. Es war gar zu schauerlich, was sie da gelesen hatte, und sie mußte noch heute ganz eindringlich mit den Jungen reden. Mit den beiden Mädchen übrigens auch, denn wer wußte! Ach ja, selbst Mütter von ihrem Schlag, die manches durchgemacht hatten und optimistisch und zuversichtlich dachten: „Es wird nicht gerade uns treffen“, hatten mitunter dunkle Stunden, wenn sie an die Fährnisse der Welt dachten. Der Welt, in die die Kinder hineinwuchsen, jung, dumm, ahnungslos und lebensgierig.

      Die Kinder trieben sich viel zuviel herum, stundenlang oft. Aber sie waren ja immer jeweils zu zweit, die Töchter wie die Söhne. Das war bestimmt ein gewisser Schutz. Trotzdem würde sie ihnen die Hölle heiß machen, wenn sie heimkam, und zwar gründlich.

      Brigge fuhr schneller, als könnten die wenigen Minuten, die sie dadurch gewann, etwas ausmachen. Sie folgte einem mit Birken gesäumten Weg, der außen an der Ortschaft entlangführte, dann sah sie ihrer Mutter Haus, ihr Zuhause. Und wie immer ging ein warmer Strom durch ihr Herz:


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