Frauenlob. Der Roman eines jungen Mannes. Rudolf Stratz
Читать онлайн книгу.ersten Stock wohnen wir!“ Er pfiff schrill auf zwei Fingern und schrie in die offenen Fenster hinauf: „Pappa! Da kommen Herrschaften aus Russland! Verwandte vom Sascha! . . . So! Ich muss springe, dass ich ins Museum komm’!“
Er lüftete seinen Strohhut und stürzte davon. Oben dröhnte die Treppe. Professor Hermann Ritter eilte den Besuchern entgegen. Kaum mittelgross, tief schwarz mit künstlerischem Knebelbart und leichtgelocktem Haar. Beleibt und beweglich. Die feurigen Braunaugen eines fünfundvierzigjährigen Jünglings unter der Brille. Der weiche, starke, helle Tenor seines Willkomms verriet den geübten Sänger des ,Bachvereins‘ und der ,Liedertafel‘ — neben dem Brotberuf des Schulmanns.
„Unverhoffte Ehre . . .“ Er nötigte die Gäste in sein Arbeitszimmer. Die Trippelsche Riesenbüste Goethe’s beherrschte mit olympischen Seheraugen den Raum. An der
Wand hingen Stahlstiche der Preller’schen Odyssee — der göttliche Dulder und über ihm der Herrscher im Donnergewölk, Zeus. Über dem Kanapé unter Glas und Rahmen eine grosse Photographie der Sixtina. Auf dem Flügel in der Ecke zerstreut die Noten: Schumann — Brahms — Beethoven . . . In dem schlichten, offenen, eichenen Bücherschrank ein Leuchten der Menschheit erhellenden Geister durch die Jahrtausende wie Hunderte von Kerzen am deutschen Weihnachtsbaum — von Plato bis Kant — von Euripides bis zu den Humboldts.
Der Professor hatte purpurne Flecken an den Fingern. Die kamen nicht von Blut, sondern von der roten Tinte, mit der er die blauen Klassenhefte korrigierte. Er schob geschäftig die Stösse von Heften von den Stühlen. Er machte das Kanapé frei, auf dem schon seine Krankenpfleger-Ausrüstung für heute Nacht lag: Eine graue Joppe. Eine Mütze und weisse Armbinde mit dem roten Kreuz. Er bat die Besucher, Platz zu nehmen. Er rieb sich aufgeregt die Hände. Er rief in melodischem Zweiklang nach seiner Frau: „Käthchen! . . Käth—chen!“ und stellte sie vor, als sie endlich in einer frischen Bluse und mit ordentlichem Haar erschien — etwas grösser als er — blond und blass — mager und mild — so selbstverständlich abgehetzt — so bescheidenverblüht — so gottergeben-zufrieden in ihrer kleinen Welt wie nur irgend eine deutsche Hausfrau. Nebenan lärmten die Kinder. Aus der Küche kam Kaffeegeruch. Die Sonne schien in den kleinen Raum, in dem der Geist siegreich aus Gips und billigen Bildern, abgenutzten Klaviertasten und zerlesenen Klassikern sprach, und vergoldete ihn mit ewigem, deutschem Leben.
Der Schulmann liess seinen Gästen nicht erst Zeit, das Gespräch zu beginnen. Er hub selber von dem an, dess das Herz voll war, mit freudig aufflammenden braunen Augensternen und über dem Knie verschlungenen Händen.
„Nun — so hat auch Sie die grosse Zeit nach Deutschland gerufen? Oh — es ist herrlich! Eine Lust zu leben! Die Geister erwachen! Hören Sie: Da draussen singen sie schon wieder das Lied der Lieder . . . Ja wahrhaftig: ,So lang ein Tropfen Blut noch glüht‘ . . .“
„Jede Nacht haben sie es vor unserem Hotel in Frankfurt gesungen. Man konnte nicht schlafen“, sagte Madame Melanie Gebauer nervös. Sie thronte entrüstet in ihrem weitgeblähten, grell violetten Taftkleid wie eine grosse verblühte Tulpenglocke auf ihrem Stuhl, atmete in kurzen Stössen im Panzer des Mieders, und fächelte der Puderschicht auf ihren erhitzten, regelmässigen, nichtssagenden Zügen Kühlung zu. Ihr Mann räusperte sich und versetzte in das verdutzte Schweigen des Professors mit seiner vorsichtigen, kaufmännischen Höflichkeit:
„Es ist doch nicht ganz so, Herr Professor! — was den Anlass meines Aufenthalts hier betrifft! Wir haben mit deutschen Dingen nichts zu tun! Wir sind Untertanen eines fremden Staates . .“
„Aber doch Deutsche . . . Deutsche!“
Der alte Deutsch-Russe überhörte es geflissentlich.
„Mögen Odessaer Damen, die hier in Heidelberg ansässig sind, sich in der Verwundetenpflege betätigen und auch sonst leidenschaftlich für Deutschland eintreten!“ sagte er. „Möge eine dieser Damen, wie ich höre, bereits als Ausländerin und geborene Wienerin das Eiserne Kreuz am weissen Band erworben haben! Mich geht das nichts an. Ich bin hier lediglich gemäss meiner Pflicht als Vormund meines verwaisten Neffen!“
„Soll ich den Sascha holen? Er ist in seinem Zimmer.“
„Einen Augenblick noch, wenn ich bitten darf! Unter uns gesagt: Herr Professor — ich möchte meinen Neffen morgen mit in die Schweiz nehmen!“
Professor Hermann Ritter zupfte erstaunt den malerischen Knebelbart. Er lächelte freundlich und begriffsstutzig.
„Ja — warum denn?“
„Nun — ehe der Sascha womöglich in das Kriegsgetümmel gerät, wenn die Franzosen hierherkommen!“
„Die Franzosen nach Heidelberg?“ Der kleine dicke Pädagoge schnellte wie eine Sprungfeder in die Höhe. Es schien, als sträubten sich ihm die Künstlerlöckchen um die angehende Glatze. Er faltete entsetzt die Hände über dem gerundeten Leib, auf dem die Weste sich in vielen Fältchen knitterte. „Ja — du liebe Zeit! Lesen Sie denn keine Zeitung? Wissen Sie denn nicht, dass wir gesiegt haben?“
„Bisher!“ sprach der alte Kaufherr knapp. „Und auch da . . . diese drei mörderischen Schlachten bei Metz waren schliesslich so gut wie unentschieden. Seit gestern oder vorgestern ist dort ein neuer, grosser Ausfall der Franzosen im Gang. Eine andere entscheidende Hauptschlacht scheint jetzt eben im Norden Frankreichs, nahe der belgischen Grenze, zu toben . . . Wer da schliesslich siegen wird . . . . .“
„Ja — wir doch!“ versetzte sanft und laut Frau Professor Käthchen Ritter, die bisher kein Wort gesprochen. Ihr vom Alltag müdes Gesicht übersonnte sich von einer gläubigen und glücklichen Hoffnung. Sie war schön in diesem Augenblick. Wie von Licht umflossen. Ein Mädchenzauber von einst blühte flüchtig auf.
„Da gucken Sie ʼmal meine Alte an! Die wird förmlich wieder jung!“ rief Professor Ritter triumphierend. „Wir alle werden jung! Die Welt wird jung! Die Zeit erfüllt sich.“
„In Frankfurt, von wo ich komme, hat man sehr gute Beziehungen zu Österreich!“ sprach Otto Gebauer bedächtig. „Das Eingreifen Österreichs in den Krieg gilt Eingeweihten nur noch als eine Frage von Wochen. Das Ministerium Potocki — in Wien . .“
„Der Polack wird unsern Herrgott auch nicht aufhalten! Und ich weiss, was unser Herrgott vorhat!“ Der Schulmann streckte enthusiastisch den kleinen, fetten Arm aus. „Der Heinrich Heine war ein Lump. Ich hab’ ihn gar zu gern! Und sogar der gottlose Schote hat’s prophezeit — aus Paris — aus seiner Matratzengruft heraus: ,Komme du bald — oh Kaiser!‘“
,,Eine internationale Familie wie die unsere — verzeihen Sie, wenn ich als ein prosaischer Bankier spreche — meine Familie, die überall in Europa: — in Wien — Paris — Lyon — London — enge verwandtschaftliche und zugleich damit geschäftliche Verbindungen unterhält . . .“
„. . Der Kaiser kommt . . . der Kaiser kommt . .“
„. . muss nach allen Seiten geradezu ängstlich neutral sein und hat Einblicke nach allen Seiten! Und diese Einblicke sagen mir mit einer geradezu unumstösslichen Gewissheit . .“ Der alte Odessaer Kaufmann sprach leise, als verkündete er ein Geheimnis, und unwillkürlich etwas feierlicher als sonst: — „und ich habe — im Vertrauen — meine gesamten, gerade jetzt für einen Finanzier doppelt entscheidungsvollen geschäftlichen Massnahmen darauf eingestellt: An Englands Missgunst und an Österreichs Rache für Sadowa wird, ehe der Herbst kommt, die Staatskunst des Herrn von Bismarck und die Feldherrnkunst des Generals von Moltke scheitern!“
„Ja — aber das deutsche Volk steht doch hinter dem Bismarck und dem Moltke!“ sagte Professor Ritter halblaut und erstaunt. „Sehen Sie denn nicht, dass bei uns ein Wunder geschieht? Sehen Sie denn nicht, dass alle Menschen leuchten? Es hat jeder einen hellen Schein ums Haupt! Es steht ein Licht vom Himmel über Deutschland! Jeder fühlt’s: Jetzt muss es werden! Jetzt oder nie! Und es wird! Das hört man in den Lüften singen! Das sind Stimmen von oben: Es wird! . . . Es wird! . . . . . Es stirbt keiner umsonst da draussen . . . .“
„Ja eben! Denken Sie an die Opfer!“
„Mein Ältester, der Adolf, kämpft