Gesammelte Werke: Historische Romane, Kriminalromane, Erzählungen & Essays. Rudolf Stratz
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Renntag in Charlottenburg! ...
Die blauen Fähnchen wehen von den Cigarren- und Friseurläden, wo man die Tribünenplätze verkauft, an den Litfaß-Säulen prangen die großen blauen Plakate des Vereins für Hindernis-Rennen, ›Unter den Linden‹ und auf der Friedrichstraße halten die herumziehenden Händler die neueste Nummer der »Sportwelt« feil.
Es ist noch früh. Um zwölf Uhr fangen erst die Rennen an. Aber Berlin W beginnt sich bereits zu regen. Schon rollen vereinzelte Droschken die Charlottenburger Chaussee entlang und befördern Herren in grauen Hüten und gelben Paletots hinaus nach Westend. In immer kürzeren Abständen rollen die mächtigen Wagen der Pferdebahn und immer dichter wird das Gedränge auf ihrem leinwandüberspannten Deck. Die Stadtbahnzüge füllen sich mehr und mehr. Die schwarze Menschenwoge, die alle paar Minuten aus dem Westend-Bahnhof herausquillt, wächst mit jedem neuen Schub an Umfang. Auf der breiten Berliner Straße in Charlottenburg kommen die Leute aus den Häusern, um sich den altbekannten Corso anzuschauen und durch ihre gaffenden Gruppen drängen sich die rüstigen Wanderer, die zu Fuß bis zu dem Rennplatz pilgern.
Das ist ein weiter Weg, aber lohnend bei solchem Wetter. Noch prangt der Tiergarten in den grellen Farben des Septemberlaubes, ein buntes Treiben zieht sich vom Brandenburger Thor in langer Kette hinaus gen Westen und von dem blaßblauen Himmel lacht die Herbstsonne über Gerechte und Ungerechte.
Nicht überall dringen ihre Strahlen hin. Auf der Bühne des Edentheaters herrscht ein ungewisses Dämmerlicht. Grau in grau ist alles ringsum, die staubigen, in die Ecke gerückten Versatzstücke, die Leinwandmassen. die auf den Parkettbänken ruhen und gleich Trauerfahnen über die Logenbrüstungen herabhängen, die Luft selbst, die dumpf und stickig den Raum mit dem eigenartigen Theaterdunst erfüllt. Das hintere Ende des Zuschauer-Raumes verschwimmt völlig, in der Finsternis. Nach vorn wird es allmählich heller. Quer über die Bühne fällt aus einem erblindeten Fenster in der Hinterwand ein einziger schräger Lichtstreifen und malt goldene Kringel über Regietisch und Souffleurkasten.
Man probt da oben. Herren und Damen im Straßenkostüm stehen mit blauen Heften in der Hand herum, sie murmeln einander zu, gehen da und dorthin, blicken wieder in die Hefte und treten zu dem Tischchen, um Bleistiftnotizen in der Rolle anzubringen. Dann stockt die Probe einen Augenblick, die Herren schauen, die Hände in der Hosentasche, vor sich hin, die Damen heben gähnend die Hefte vor den Mund, der Regisseur am Tische aber sieht sich phlegmatisch die Gesellschaft an und wiederholt die stehenden Worte: »Die Kleinigkeit noch einmal!«
Es hat niemand mehr Freude an der Sache. Seit Wochen wird die Novität vorbereitet, das große Ausstattungs-Vaudeville, von dem man sich Wunder verspricht, und noch weiß kein Mensch, wann die Aufführung stattfinden soll. Es ist ein offenes Geheimnis, daß die neuen Kostüme nicht zu beschaffen sind! Die Ausstattung erfordert große Summen, die Lieferanten aber sind mißtrauisch geworden und weigern sich, Kredit zu geben. So spielt man Abend für Abend das alte Repertoirestück herunter. Im Publikum wundert man sich, daß die abgedroschene Burleske so gut geht. Der Kassierer aber weiß das besser. Sonnabend und Sonntag macht sich das Geschäft ja noch leidlich, in der Woche aber werden die Freibillets zu Hunderten versendet und doch ist das Haus kaum halbvoll zu bekommen.
Die Stimmung ist schwül in dem kleinen, schmucken Theater im äußersten Westen der Stadt. Der Direktor ist heute überhaupt noch nicht zur Probe erschienen. In großen Schritten geht er draußen in dem öden Foyer auf und ab, ein vierschrötiger, älterer Mann mit gebeugter Haltung und finsterem Blick. Halb ängstlich, halb erwartungsvoll blicken ihn aus der Entfernung die kleinen Choristinnen, die Theater-Arbeiter und Statisten an. Vorgestern war Gagetag. Ob es wirklich noch einmal Geld giebt? ...
Immerhin ist der Direktor noch da. Das ist doch ein Trost.
»Fräulein Ernesti, passen Sie bitte auf.« sagt der Regisseur drinnen auf der Bühne. »Ihre Sportzeitung können Sie nachher studieren ... Sie haben schon wieder Ihr Stichwort versäumt ... bei den Worten: ›wer klopft so spät ... Mensch oder Geist ... tritt ein!‹ haben Sie durch die Mitte zu erscheinen!«
»Ich finde das Stichwort nicht.« erwidert Fräulein Ernesti, verdrießlich in dem Buch blätternd .... »jeden Tag wird an der Rolle herum korrigiert und gestrichen .... kein Mensch kann daraus klug werden ...«
»Mein Gott ... zweites Bild ... siebente Szene,« sagt der Regisseur und reicht ihr einen Bleistift, »da ... notieren Sie es sich!«
»Wozu die Mühe?« bemerkt eine kleine Blondine schnippisch, die einen Pagen markierend dicht daneben steht, »gespielt wird's ja doch nicht ...«
Ringsum ein drohendes, beistimmendes Murmeln.
»Fräulein Schulz ... ich nehme Sie mit einer halben Monatsgage in Strafe, wenn ...«
»Erst die Gage sehen!« erwidert die Blondine gelassen. Ein stürmisches Gelächter folgt. Der Regisseur klopft wütend auf den Tisch. »Ich bitte um Ruhe ... die Kleinigkeit noch einmal ...«
Aber auf dieser verkrachenden Bühne ist die Disziplin schon seit Wochen erschüttert. Niemand scheint gesonnen, der Aufforderung nachzukommen. »Lassen's uns aus mit dem Schmarrn!« erklingt aus dem Hintergrund eine Stimme, die dem dicken Komiker angehört, »mir probier'n eh schon's zwanzigste Mal!«
»Nun denn ... so fahren wir fort!« ... sagt der Regisseur unsicher. »Fräulein Ernesti ... wenn ich bitten darf ...«
»Ach ... warum denn?«, sagt die Ernesti und klappt ihr Buch zu, »ich kann meine Rolle doch nicht ... «
»Ich auch nicht,« sekundiert die Blondine.
»Weiß der Himmel!« Der Regisseur steht erregt auf – »seit dreißig Jahren bin ich bei der Bühne ... aber dergleichen habe ich noch nicht erlebt ...«
»Wir auch nicht!«, ruft der gereizte Komiker ...
»Vorgestern war Gagetag!« bemerkt die Blondine. Sie weiß, daß diese Bemerkung einen Sturm entfesselt.
»Gagetag!«, tönt's von allen Seiten, – »unser Geld ...«
»Sie werden es bekommen ...«
»Aber wann ...?« viele Stimmen schreien durcheinander.
»Heut Abend streikt Chor und Comparserie,« verkündigt die schadenfrohe Blondine ... »uns gehts nicht besser!«
»Sie brauchen wohl die 75 Mark besonders dringend?« ruft hinter ihr eine spitze Frauenstimme ... »wenn man bloß dreitausend Mark Miete zahlt ...«
»Die Probe ist aufgehoben!« ... Der Regisseur giebt die Schlacht verloren. Er setzt seinen Hut auf und verläßt die Bühne.
Erna Ernesti hat den Skandal mit blassierter Ruhe angehört. Dergleichen kommt jetzt jeden Tag hier vor, aber ihr, dem Stern der Bühne, würde eine Einmischung nicht wohl ziemen. Immerhin ist sie froh, daß die Probe auf die Art ein Ende erreicht. So kommt sie doch noch rechtzeitig zum Rennen.
Draußen im Flur lehnt der Direktor am Fenster. Seine Leute gehen schweigend an ihm vorüber, die meisten, ohne zu grüßen. Er achtet nicht darauf. Angstvoll starrt er auf die kleine eiserne Bühnenthüre, bis endlich Fräulein Ernesti in ihr erscheint. Selbst in diesem Augenblick fällt es ihm wieder auf, wie hübsch sie ist! Eine schlanke, biegsame Gestalt über Mittelgröße, mit tadellosen Chic gekleidet, und dazu das richtige, blendende Bühnengesicht, scharf umrissene, kecke Züge, große sprechende Augen, schmale geschwungene Lippen und lässige Anmut in Haltung und Sprache.
»Liebste Ernesti,« der Direktor tritt flüsternd auf sie zu, »wie stehts? ... Haben Sie Ihren Grafen gesprochen?«
»Noch nicht,« sagt die junge Dame lakonisch, »warten Sie's nur ab!«
»Als ob Sie nicht wüßten, daß der Chor heute Abend streikt, wenn ich die Gage nicht auftreibe,« murmelt der Direktor verzweiflungsvoll ... »und ich kriege kein