Gesammelte Werke: Historische Romane, Kriminalromane, Erzählungen & Essays. Rudolf Stratz
Читать онлайн книгу.rel="nofollow" href="#u0ee4c3fb-1222-5c54-94b6-2bd40dfbb0da">Inhaltsverzeichnis
Valere aude!« Wage es, gesund zu sein! – Werde, was du bist – oder vergehe! – Die Worte lagen stumm auf seinen Lippen, als der Afrikaner am selben Morgen vor das Hotel trat. Noch glitzerten überall nebelfrei die Sterne über und zwischen den in dämmerndem Weiß vom Himmel sich abhebenden Schneeflächen. Während sie im Morgengrauen erloschen, dampften alle Täler von würzigkaltem, feinem Rauch, langgezogene weiße Dunststreifen schwebten wie ausgespannte Schleier an den Flanken der Berge und vergingen langsam vor dem Hauch der Sonne, die in wolkenlosem Blaßblau über den goldig blitzenden Firnkämmen aufstieg.
Da stand der Montblanc, ein strenger Gebieter, ein Monarch, wie man früher seine Spitze nannte, als freier Herrscher der Alpenwelt. Sein weißes Haupt ragte über die Menge der Gipfel, von seinen mächtigen Schultern wallte im Faltenwurf des ewigen Schnees, von azurnem Gletschergefunkel gestirnt, der hermelinreine Krönungsmantel bis zum Fuß, dem die Täler unten in schwarzer Tannenwildnis und mit lichtgrünen Matten als Schemel dienten. Alles umher war sein Reich. Was da war, kam von ihm: die Eisströme, die in erstarrten, hochaufgebäumten Wellen in die Tiefe flossen, die Meere von Steingeröll und Bergtrümmern, die ihrem Zuge sich voranwälzten, die schäumenden grauen Wildbäche, die von den Gletschertoren durch breite, von der Verwüstung geschaffene Kieselbetten waldabwärts brausten! Manch eingestürztes Haus, manches beharrlich neu aufgebaute Menschenwerk wies dort unten ihren verderblichen Weg, auf dem der weiße König da oben, achtlos, wie der Fuß des Wanderers das Leben unter sich zertritt, über die Ameisenhaufen im Tal hinweggeschritten war.
Aber heute hätte man das dem Gewaltigen kaum zugetraut! Er zeigte im Sommersonnenschein sein freundlichstes Gesicht, jene heitere, kraftgetragene Ruhe, die den Wanderer unwiderstehlich zu ihm emporzog.
Das Denkmal am Ausgang des Städtchens wies dem Afrikaner den Weg. Die Augen erhoben, blickte die Gestalt Saussures nach dem Berg, neben ihm, tollkühn lachend, mit dem ausgestreckten Finger auf die höchste Spitze des Montblanc weisend, sein Führer Jacques Balmat. »Balmat de Montblanc«, wie der König von Sardinien auf Lebenszeit den verwegenen Savoyarden nannte, der, als der erste Mensch und allein, in dieser Höhenluft von fast fünftausend Metern geatmet.
Der Afrikaner sah ihn nachdenklich an. Er kannte wohl sein Schicksal. Immer wieder hatte es den trotzigen Gesellen hinaufgelockt in die weiße Märchenwelt. Einsam, menschenscheu strich er dort umher und suchte und suchte ... Gold, sagten die einen, neue Wege zum Gipfel, die anderen. Schließlich war er nicht wiedergekommen ... der Montblanc hatte seinen ersten Bezwinger bei sich behalten. Er bettete den gealterten Mann da, wo unterirdisch die Gletscherwasser sprudeln und von oben her ein schmaler himmelblauer Spalt, der Sonnenschein, in azurne Finsternis leuchtet. Die Stelle weiß man nicht, und die Gebeine bleiben verschwunden. Der Montblanc hat sich gerächt.
Aber andere folgen nach. Die treibt auch die Sehnsucht nach oben, dem Himmel zu. Die suchen auch dort oben Schätze, verlorenes, geheimnisvolles Gut, und finden statt der Erkenntnis den Tod. Und damit wenigstens die Befreiung von allen Zweifeln!
Empor über den Zickzackweg ewigen Tannenforstes, stunden- und stundenweit empor über kahler werdende Berghalden, über quelldurchsprudelte, blumenbesäte Grashänge, über Felsblöcke und Geröll – da schon über das erste kleine Schneefeld und unter einem neugierig von hoher Felswand herablugenden Gletscherwall hindurch bis zur Grenze des toten Reiches!
Da begann es: eine weite Ebene von graukörnigem Eis, durch klaffende, riesige Risse in Trümmer- und Bruchwerk, in haushohe Würfel, in lange chausseeartige Rücken geschieden.
Anfangs zahm und eben, gewann der Gletscher, wo er an der »Jonction« mit seinem Nachbar zusammenstieß, das wilde, bizarre Angesicht der Hochwelt.
Wie durch die Gassen einer aus Firn und Eis erbauten und im Erdbeben wieder eingestürzten Stadt wandelte der Eindringling dahin. Ein Pompeji im ewigen Schnee. Steil ragende Glaswände und zerschellte, glitzernde Scherben, eingerutschte Hügel, schiefgeneigte oder abgebrochen am Boden schmelzende Kristallsäulen, Zacken und Zähne, Türme und Mauerreste überall, und als Bewohner des weißen Kirchhofs, da und dort aufstarrend, wunderliche, in der Sonnenglut triefende und schwitzende Eismänner; wie ein Koboldkönig unter ihnen ragend ein bogenförmig nach hinten in Art eines Walroßhauers gekrümmtes Firnhorn – das alles säumte den Weg ein, der sich durch lange, stille Gletschergassen, auf freiem Schnee, in Mulden hinab, über spröde Glasstufen zu schmalen Firndächern empor, die Séracs aufwärts schlängelte.
Gleich den Spuren eines Erdbebens klafften überall zwischen den Trümmern die in unbekannte Tiefen führenden Spalten, die einen tückisch mit Schnee verklebt, der beim ersten Stich des Pickels in Brocken in den Abgrund fiel, die anderen mit offenen schwarzen Rachen zum blauen Himmel aufgähnend. Die größten von ihnen zu überspringen war unmöglich. Sie klafften wohl fünfzehn, zwanzig Fuß, und schmale Leitern führten, den scheußlichen Abgrund überbrückend, von dem Talhang eines solchen Gletscherrisses zu dem ihn weit überhöhenden Bergrand empor.
Den Afrikaner durchfröstelte ein eigenes wollüstiges Grausen, während er, auf die Hände und Knie gestützt, über die Leiter kroch und durch deren Sprossen unter sich, wo sich der bläuliche Metallglanz der Gletscherspalten in unergründliche Nacht und Tiefe verlor, die unterirdischen Ströme brausen hörte. Der alte Reiz kam wieder über ihn, dies Necken mit dem dumpf glotzenden und schwerfällig nach seiner Beute tappenden Tode. Der letzte dieser Übergänge war bequemer: eine Art großer Laufbrücke mit Geländer, dahinter steil aufsteigend der schneebedeckte Gletscherhang, an dem hoch oben ein rot gestrichenes Haus mit zwei niedrigen Stockwerken aus dem Eise aufwuchs und sich an eine Reihe Felsklippen lehnte. Unter dem neuen »Hotel des Grands Mulets« stand wie ein Nebelstrich die grauverwitterte, halbzerstörte alte Steinhütte.
Auf der Galerie bewegten sich Punkte. Rufe und Juchzer tönten durch die dünne Luft und empfingen den vom Gletscher aufsteigenden Wanderer.
Einer der grauköpfigen Engländer vom »Alpine Club« bog sich mit jungenhafter Behendigkeit über das Geländer. » En avant, monsieur!« schrie er aufmunternd. » Le diable est presque morti«
Die Führer hinter ihm lachten rauh wie die Bären, und auch der Afrikaner lachte, während er, am Ziele angekommen, die Schneebrille abnahm.
Jetzt erst sah er die volle Pracht der Umgebung. Blendendes, leuchtendes Weiß überall und strahlendes Tiefblau darüber. Es gab keinen Übergang, keine anderen Farben. Nur an dem stumpfen Braun der Hüttenfelsen konnte sich das Auge ausruhen.
Diese Felsstufen waren mannigfach geschmückt. Die nassen Lappen der Flanell- und Seidenhemden hingen da mit beschwörend aufgereckten Ärmeln zum Trocknen, die Unterkleider flatterten, durch Steine beschwert und festgehalten, im Winde, die Bergstiefel standen gereinigt und frisch eingefettet auf den warmen Steinplatten, und dazwischen saßen, die mit Pantoffeln und Halbschuhen bekleideten Füße herabbaumeln lassend, die Briten und rauchten ihr Pfeifchen.
Die Führer trieben sich um sie her. Sie fühlten sich zu den erfahrenen Gletschermeistern des Londoner Alpenklubs vertraulich hingezogen und gingen erfreut auf deren trockene Witze und Späße ein, ohne doch die Ehrerbietung außer acht zu lassen. Besonders bewunderten sie den Matador der Gesellschaft, einen hageren Graukopf, um den seit Jahrzehnten sich der Nimbus alpiner Heldentaten wob. Er kannte alle Führer bei Namen. Mit den älteren Männern, die unter den struppigen Bärten schmunzelnd ihm zuhörten, verkehrte er auf dem Fuß derber Kameradschaft. Die jungen Leute, die unter seinen Augen im Hochgebirge aufgewachsen waren, begönnerte er mehr väterlich, und als er dem einen einmal ein anerkennendes Scherzwort hinwarf, verklärte sich das magere Eulengesicht des Burschen förmlich vor Wonne.
Die beiden anderen Engländer – Vater und Sohn – schienen von einem merkwürdigen Tatendrang belebt, zu dessen Dämpfung die Überwindung von zweitausend Metern Höhe zwischen Chamonix und den Grands Mulets offenbar nur wenig beigetragen hatte. Fortwährend waren sie unterwegs, auf Expeditionen, deren Zweck und Ziel keinem anderen einleuchtete. Bald erklommen sie mit Hilfe der mit den Schultern sie stützenden Führer irgendeine steile Felsplatte, um sich dort gähnend und zum Himmel aufblinzelnd zu sonnen, bald wieder übten sie, von oben herabgeglitten, keuchend ihre