Celtic. Dietrich Schulze-Marmeling
Читать онлайн книгу.An Gortar Mór
Mitte des 19. Jahrhunderts plagen die irische Insel eine Reihe von Hungerkatastrophen, die als „The Great Famine“ (gälisch: An Gortar Mór) in die Geschichtsbücher eingehen. Das rasche Bevölkerungswachstum – 1800 leben ca. fünf Millionen Menschen auf der Insel, 1846 sind es ca. 8,5 Millionen – hatte zu einer weiteren Parzellierung des Bodens geführt, wovon vor allem die wohlhabenden englischen Landlords profitieren. Da die südirische Industrie von der britischen Konkurrenz zerstört wurde, sind etwa zwei Drittel der Bevölkerung von der Landwirtschaft abhängig. Für die armen Bauern, die hohe Abgaben an die Landbesitzer und die protestantische Church of Ireland zu entrichten haben, ist die Kartoffel das Hauptnahrungsmittel. Als zwischen 1846 und 1851 mehrere Kartoffelernten durch Fäule fast vollständig vernichtet werden, kommt es zur Katastrophe. 1,5 Millionen Iren sterben den Hungertod, etwa die gleiche Zahl von Menschen sieht den einzigen Ausweg in der Emigration.
Die Hungerkatastrophe zeitigt im Norden und Süden der Insel unterschiedliche Auswirkungen. 1841 leben in der Provinz Ulster (sechs ihrer neun Grafschaften bilden später den Staat Nordirland) noch 2.386.000 Menschen, 1891 sind es nur noch 1.620.000. Ulsters Bevölkerungsexpansion wird durch die Hungerkatastrophen beendet. Aber in den südlichen bzw. westlichen Provinzen Munster und Connacht ist die Entwicklung noch viel dramatischer.
Die unterschiedliche Intensität der Hungerkatastrophen in Ulster und Munster/Connacht sowie innerhalb Ulsters, wo die katholischen Gebiete stärker betroffen sind als die protestantischen, nährt das protestantische Überlegenheitsdenken und vertieft auf der Insel die Kluft zwischen Norden und Süden sowie zwischen privilegierten Protestanten und unterprivilegierten irischen Katholiken. Das Massensterben im Süden der Insel wird auf eine vermeintliche Unfähigkeit und Rückständigkeit der dort lebenden katholischen Bevölkerung geschoben. Die katholische Sichtweise von „The Great Famine“ lautet indes völlig anders: Die Hungerkatastrophen waren ein bewusst herbeigeführter Genozid, um die irisch-katholische Bevölkerung zu dezimieren und so die irische Insel regierbarer zu machen. Denn wirksame Hilfsmaßnahmen seitens der britischen Regierung waren ausgeblieben. Dem Land hatte es nicht an Lebensmitteln gefehlt. Aber Vieh und Getreide waren für die Versorgung Englands bestimmt, und der Lebensmittelexport wurde in den Jahren des Hungers nur unwesentlich eingeschränkt.
„The Great Famine“ ist für Irland ein Ereignis von kolossaler Bedeutung und zeitigt vielschichtige politische und soziale Konsequenzen. Die Katastrophe erhöht die wirtschaftliche Abhängigkeit vom britischen Nachbarn, wohin nun nicht nur Getreide und Vieh exportiert werden, sondern auch jener Teil der Bevölkerung, den die Heimat nicht mehr ernähren kann. In den Städten der Industrieregionen Schottlands und Nord-Englands sowie in London entstehen große irische Communities. Friedrich Engels schreibt 1845 in seiner Studie „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“ (in der er sich aber auch Schottland – namentlich Glasgow und Edinburgh – widmet): „Man rechnet, dass bis jetzt über eine Million auf diese Weise eingewandert sind und jährlich noch an fünfzigtausend einwandern, die sich fast alle auf die Industriebezirke, namentlich die großen Städte werfen und dort die niedrigste Klasse der Bevölkerung bilden. So sind in London 120.000, in Manchester 40.000, in Liverpool 34.000, Bristol 24.000, Glasgow 40.000, Edinburgh 29.000 arme Irländer. (…) Die schlechtesten Viertel aller großen Städte sind von Irländern bewohnt; überall, wo ein Bezirk sich durch besondern Schmutz und besonderen Verfall auszeichnet, kann man darauf rechnen, vorzugsweise diese keltischen Gesichter anzutreffen …“
Die irischen Einwanderer tragen erheblich zur wirtschaftlichen Entwicklung der britischen Insel bei. Friedrich Engels: „Die rasche Ausdehnung der englischen Industrie hätte nicht stattfinden können, wenn England nicht an der zahlreichen und armen Bevölkerung von Irland eine Reserve gehabt hätte, über die es verfügen konnte. Der Irländer hatte daheim nichts zu verlieren, in England viel zu gewinnen.“ Für Engels, bei dem man sowohl Bewunderung wie Verachtung für Irland und die Iren findet, haben die irischen Einwanderer die Funktion von Lohndrückern, die herausgefunden hätten, „was das Minimum der Lebensbedürfnisse ist, und lehren es nun den englischen Arbeitern. (…) Mit einem solchen Konkurrenten hat der englische Arbeiter zu kämpfen – mit einem Konkurrenten, der auf der niedrigsten Stufe steht, die in einem zivilisierten Land überhaupt möglich ist, und der deshalb auch weniger Lohn braucht als irgend ein andrer.“
Dies gilt auch für Schottland, wo die irisch-katholischen Einwanderer Hilfsarbeiterjobs im Schiff- und Maschinenbau, in der Baubranche und im Bergbau verrichten. Ohne diese industrielle Reservearmee, die bereit ist, für einen Hungerlohn zu arbeiten, und damit die Löhne der heimischen protestantischen Arbeiterschaft drückt, wäre die rasche Industrialisierung Schottlands nicht möglich gewesen. Es sind in der Regel Iren, die das Straßen- und Eisenbahnnetz bauen, die Kanäle und Dämme und Fabriken. Ihre Männer, Frauen und Kinder sind die unbesungenen Helden der industriellen Revolution Schottlands.
Aber die Erzählung von den Iren als Lohndrücker gibt nur die halbe Wahrheit wieder. Denn dort, wo sie nicht Hilfsarbeiterjobs im Freien nachgehen, sondern Teil einer Fabrikbelegschaft werden, entwickeln sie ein ausgesprochenes Klassenbewusstsein und profilieren sich als radikale Kraft. Schotten irischer Abstammung spielen eine bedeutsame Rolle bei der Entstehung der schottischen Labour- und Gewerkschaftsbewegung.
Doch die Neuankömmlinge haben generell mit Vorurteilen zu kämpfen. Ihre Lebensweise ist den schottischen Protestanten, in ihrer Mehrheit Presbyterianer, völlig fremd. Die katholischen irischen Einwanderer gelten als charakterlich schwach, unfähig zur Selbstkontrolle (insbesondere ihre Sexualität betreffend, weshalb ihre Frauen häufig schwanger würden), zum Alkoholismus und Diebstahl neigend, schmutzig, unzuverlässig, verantwortungslos und disloyal.
Andererseits stimulieren die Hungerkatastrophen bei den Iren einen neuen militanten Nationalismus, der sich zunächst in der Gründung von Young Ireland und später der Irish Republican Brotherhood (IRB, ein Vorläufer der IRA) manifestiert. Verstärkt wird die Forderung nach einer Landreform erhoben. Die Befriedung Irlands auf dem Wege seiner vollständigen Integration in das Vereinigte Königreich ist gescheitert. Die Mitglieder der IRB werden auch „Fenians“ genannt. Der Name geht zurück auf die 1858 in der amerikanischen Diaspora gegründete Fenian Brotherhood, die Geld und Waffen an die IRB schickt. Die USA werden ein wichtiges Hinterland für den militanten Nationalismus. „Fenian“ (das gälische „Fianna“ bezeichnete einen legendären Heerhaufen) ist neben „Taig“ ( „Tadg“ war die gälische Bezeichnung für einen Dichter) noch heute in Nordirland und Glasgow das populärste protestantische Schimpfwort für Katholiken und wird hier vor allem von Fans der Rangers gegenüber Fans von Celtic benutzt.
Endstation East End
Auf der britischen Insel wird Glasgow nach Liverpool zum zweitwichtigsten Anlaufpunkt für die irischen Hungerflüchtlinge. Ein Teil der irischen Katholiken, der dorthin kommt, sieht Schottland nur als Sprungbrett in die „Neue Welt“. Mit dem in Glasgow verdienten Geld soll es über den Atlantik in die USA gehen. Doch wer kein Geld für die Überfahrt besitzt, bleibt im Glasgower East End hängen, wo nördlich des Clyde neue Slums entstehen. Zu nennen ist hier vor allem Garngad, wo später einige große Celtic-Spieler aufwachsen, u. a. Celtics Rekordtorschütze James McGlory und der „Lisbon Lion“ Stevie Chalmers. Heute heißt der Distrikt, dem lange die Reputation eines Slums anhängt, offiziell Roysten / Roystenhill, wird von seinen Bewohnern aber weiterhin Garngad genannt. Die Gegend ist unverändert irisch geprägt. Jedes Jahr ist hier das größte Event das St Patrick’s Day Festival, dem in den letzten Jahren einige Wochen später spontane Feiern folgten – wenn Celtic wieder einmal Meister geworden war.
Ähnlich wie den Iren ergeht es später den jüdischen Immigranten, die in Russland verfolgt werden und ab den 1880ern nach Glasgow kommen. Auch sie wollen von hier aus in die USA weiterreisen. Aber auch von ihnen bleiben viele in Glasgow hängen. In den Gorbals, einem innerstädtischen Ghetto, wo auch viele irische Einwanderer leben, entsteht eine große Yiddish-sprechende Community und eine Infrastruktur aus jüdischen Schulen, koscheren Metzgereien, Bäckereien etc. Im Jahr 1914 leben etwa 12.000 Juden in Glasgow.*
Der Zensus von 1851 ergibt, dass