Der Krimi an sich. Jerry Cotton

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Der Krimi an sich - Jerry Cotton


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also eine Straftat, die immerhin mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bedroht ist. Der zu Unrecht vergessene Schriftsteller Hermann Mostar (1901-1973) führte in seinem 1966 erschienen Buch »Weltgeschichte höchst privat« wesentliche Teile der neueren Geschichte auf sechs Ohrfeigen zurück. Seine Deutung leuchtet in hohem Maße ein, weshalb ich sie zur Ehrenrettung der Ohrfeige hier zusammenfasse (bitte kein Eintrag in Vroniplag – die Formulierungen stammen von mir): Die erste Ohrfeige knallte nach Mostar anno 1400 in Dresden, als der Burggraf Jeschko von Dohna dem Markgrafen zu Meißen während eines sächsischen Adelstanzes eine Ohrfeige verpasste, nachdem der Markgraf der süßen Burggräfin einen Kuss versetzt hatte. Darob kam es zur Fehde, die der Dohna ungerechterweise verlor. Er floh zum Kaiser Sigismund, der es aber ebenfalls auf die Burggräfin abgesehen hatte, und der auf Empfehlung des Markgrafen dem Dohna den Kopf vor die Füsse legen ließ, womit er gleich zwei Fliegen schlug, nämlich die Burggräfin, die sein wurde, und Dresden, das der Markgraf für seinen guten Ratschlag erhielt. Die Nachfahren des Dohna aber flohen zum Kurfürsten von Brandenburg und sahen ihre Lebensaufgabe sowie die künftiger Dohnageschlechter verständlicherweise darin, gegen die Sachsen und den Kaiser zu wüten, was schon alsbald, nämlich zweihundert Jahre später zum Erfolg führen sollte. Die zweite Ohrfeige knallte anno 1575, als der Herzog Heinrich von Liegnitz aus dem Geschlecht der Piasten seine süße Mätresse namens »Kittlitzin« bei einem Bankett neben seine hässliche Frau setzen wollte. Die aber war eine geborene Hohenzollern und erhob Einwände gegen diese Nachbarschaft an der Tafel, worauf Durchlaucht seiner Durchlauchtin eine klebte. Die Geklebte wandte sie sich empört an ihren Bruder, den Markgrafen von Ansbach, der wandte sich wiederum an den Kaiser, und der tat, was alle Beoachter für ebenso unmöglich unmöglich gehalten hatten wie wir Heutigen etwa den Rücktritt eines Bundespräsidenten wegen eines zinsgünstigen Darlehens. Er erklärte den kinderlosen Herzog in die Reichsacht. Das wirkte, Heinrich musste sein Land an seinen Bruder abtreten und verkam im Elend. Brandenburg aber, das von den Hohenzollern regiert wurde und natürlich mit dem Erbe gerechnet hatte, hatte das, was wir Historiker das Nachsehen nennen. Das Geschlecht der Piasten herrschte in Liegnitz noch hundert Jahre. 1585 nahm Österreich auch noch Schlesien, und Brandenburg hatte erneut das Nachsehen. Auch diesmal dauerte es fast zweihundert Jahre, bis die Hohenzollern die Ohrfeige rächen konnten. Die dritte Ohrfeige knallte 1613. Anno 1609 war das Geschlecht der Herzöge von Jülich, Cleve und Berg in der Hauptstadt Düsseldorf erloschen, weil der letzte Jülich, Cleve und Berg ohne Nachfahren dahingeschieden war. Um das Erbe, immerhin das heutige Bundesland NRW, balgten sich die Kurfürsten von Brandenburg und Sachsen sowie der Graf von Pfalz-Neuburg mit jeweils mehr oder weniger guten Erbansprüchen. Die Verhandlungen für Brandenburg führte ein Dohna, der die erste Ohrfeige nicht vergessen hatte, lag diese doch erst zweihundert Jahre zurück. Er bewirkte eine Einigung nach dem Prinzip »Halbe-Halbe«, wie sie heute noch manche Zivilrichter bei Vergleichsvorschlägen bevorzugen. Diese fand zwischen dem Kurfürsten von Brandenburg und dem Pfalzgrafen statt, was bedeutete, daß der Sachse nichts bekommen sollte. Nach alter Kuchenvergrößerungsart hatte der Dohna dem Pfalzgrafen, um diesem die Sache schmackhaft zu machen, die Tochter des Brandenburgers als Eheweib zugedacht. Darob kam es zu einem Besäufnis, und als der Pfalzgraf seine nicht gerade reizvolle Braut näher besah, soweit ihm dies in seinem Zustand möglich war, kam er auf die Idee, als Ausgleich für soviel Hässlichkeit das ganze Erbe, sprich ganz NRW, zu fordern. Daraufhin erhob sich sein Schwiegervater in spe, Kurfürst Johann Sigismund von Brandenburg, schwankend zu voller Schwiegervatergröße und klebte ihm eine. Am nächsten Morgen reisten die Herren beleidigt ab. Der Pfalzgraf suchte Unterstützung beim Herzog von Bayern, dessen Tochter er dann auch heiratete, wozu er freilich katholisch werden und der katholischen Liga beitreten musste. Der Brandenburger fand seinerseits Unterstützung bei den Holländern, wofür er vom lutherischen zum reformierten Glauben übertreten musste, was damals ungefähr so schlimm war wie wenn heute ein Muslim Mormone würde, und was die lutherische Front schwächte. Die Katholiken fühlten sich gestärkt, die Protestanten waren geschwächt und so kam es zum Dreißigjährigen Krieg, in dem die Protestanten zunächst unterlegen waren. Der Retter der Protestanten war König Gustav Adolf von Schweden. Er verpasste die vierte Ohrfeige seinem Pagen, dem Prinzen Franz Albert von Lauenburg. Was der Pagenprinz angestellt hatte, ist nicht überliefert. Der König handelte jedenfalls nach dem alten Spruch, demzufolge eine Ohrfeige noch niemandem geschadet hat. Das sollte sich jedoch als Irrtum erweisen. Der Page war nämlich ein nachtragender Mensch, und Jahre später, anno 1633, als Gustav Adolf, der die katholische Liga zuvor in die Schranken gewiesen hatte, in die Schlacht bei Lützen ritt, knallte der nachtragende Prinz den König in der Schlacht hinterrücks ab. (Ich komme auf diese Überlieferung zurück.) Womit der Siegeszug der Protestanten gestoppt und der Begriff »Friendly Fire« in der Welt war. Die Katholiken hatten wieder Oberwasser – zunächst. Bald danach knallte die fünfte Ohrfeige, und zwar in Paris. Dort lenkte Kardinal Richelieu im Dreissigjährigen Krieg die Geschicke Frankreichs. Sein Katholizismus hinderte ihn nicht, sich mit den Protestanten gegen das katholische Habsburg zu verbünden. König Ludwig XIII. von Frankreich war kinderlos und hatte nach menschlichem Ermessen keinen Nachwuchs mehr zu erwarten. Sicherer Thronerbe war sein Bruder Gaston, der sich in die hübsche Nichte des Kardinals verliebte. Richelieu überschätzte seine Rolle daraufhin und schlug Gaston bei einem Hoffest vor, die Nichte zu heiraten. Das empörte den adelsstolzen Gaston so sehr, daß er dem Kardinal vor dem versammelten Hofstaat eine fürchterliche Ohrfeige verpasste. Richelieus Rache hierfür war ebenso fürchterlich wie katholisch. Er vermittelte ein Verhältnis des in Paris bekannten Frauenflüsterers Graf von Rivière mit der Königin Anna, die an ihrer trüben Tasse von Ehemann, dem König Ludwig XIII., wenig Freude hatte. Und schon ein Jahr später genas die Königin eines Thronfolgers, der später als Ludwig XIV. Geschichte machen sollte. Gaston aber war aus dem Rennen. Und die von Richelieu unterstützten Protestanten entschieden den Dreißigjährigen Krieg zu ihren Gunsten. Die sechste Ohrfeige verpasste Lieselotte von der Pfalz, die Nachfahrin des erwähnten Pfalzgrafen und Ehefrau des Bruders von Ludwig XIV., ihrem Sohn, und zwar vor dem ganzen französischen Hofstaat, als der sich einverstanden erklärte, eine der unehelichen Töchter des Königs zu heiraten. Es war eine mütterliche Ohrfeige, aber sie nützte nichts. Der Junge musste heiraten, wen der König wollte. »Die geschichtsbildende Kraft der Ohrfeigen war vorbei«, merkt Hermann Mostar an. Lest Mostar, Leute, und druckt seine Bücher wieder, ihr Verleger. Das bringt mehr Nutzen als Werke, in denen Sie erfahren, wer Sie sind und wieviele, ob Deutschland sich abschafft oder wo die weiblichen Feuchtgebiete zu finden sind. Ihre geschichtsbildende Kraft mag vorbei sein. Die krimibildende Kraft der Ohrfeige liegt dagegen noch vor uns.

      Nehmen Sie Bankier, nein, Banker, oder noch treffender, Bankster Gütenkron, den Chef der Gier-Bank, und nehmen Sie dazu seinen Geschäftspartner Kuttendreier vom Happy-Money-Hedge-Fonds, und lassen Sie Bankster Gütenkron mit der Gattin von Kuttendreier, einer geborenen von Schnaps aus der bekannten Rüdesheimer Dynastie derer von Schnaps-zu-Hochprozent, ein Weekend im Golf Resort North Sea Peace auf Sylt verbringen, wo Kuttendreier die beiden überrascht, und lassen Sie Kuttendreier, statt den Gütenkron im Affekt abzuknallen, dem Gütenkron eine Ohrfeige verpassen, die vom Finanzplatz London bis zur Wall Street homerisches Gelächter auslöst und den Lombardsatz ins Wanken bringt – das könnte doch der Beginn eines wunderbaren Krimis zu sein. Statt den Tatort durch die KTU untersuchen zu lassen, indem alle in weißen Overalls herumrennen und Schmauchspuren an der Hand von Kuttendreier sichern und Geschosse aus der Wand kratzen, und statt Kuttendreier die Frage aller Fragen zu stellen – »Wo waren Sie gestern abend zwischen zweiundzwanzig Uhr und Mitternacht?«, was der Kriminalassistent Harry wie stets übersetzt: »Ich meine, wo sind sie in der letzten Nacht gewesen, vor Mitternacht, zwischen zweiundzwanzig Uhr und Mitternacht?«, welche Fragen wiederum auf den Doc von der Gerichtsmedizin zurückgehen, der die Leiche am Tatort untersucht und gesagt hat: »Ich schätze, der Tod ist zwischen zweiundzwanzig Uhr und Mitternacht eingetreten«, was er aber stets mit dem Zusatz versieht: »Genaueres kann ich erst nach der Obduktion sagen« – statt all diese Krimiödnis auszubreiten (und das in Sylt, wo all die Beautifuls zu dieser Zeit im Go-Go-Gärtchen Champagner saufen und sich gegenseitig falsche Alibis geben), könnten Sie einen Rachefeldzug des Gütenkron schildern, der es darauf anlegt, den Kuttendreier zu ruinieren, was wiederum voraussetzt, daß er am Leben bleibt und eben nicht zwischen zweiundzwanzig Uhr und Mitternacht vom Leben zum Tode befördert wurde. Und so ein Bankster, der einen Mittelständler zur Strecke bringt (oder wäre


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