Das Meer. Blai Bonet

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Das Meer - Blai Bonet


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      „Es muss spät sein.“

      „Ja.“

      „Hast du Tabak dabei?“

      „Ich habe vergessen, ihn einzustecken.“

      „Du bist ein, eine Hure.“

      Das Warten zog sich hin, wir verhielten uns still. Es wurde kein einziges Wort gewechselt. Bloß manchmal legten wir uns die Hand auf die Schulter. Nach einer Weile hörten wir den Motor eines Lastwagens. Als hätte man uns einen Stromschlag verabreicht, hielten wir uns die Hand vor den Mund, um nicht aufzuschreien. Pau Ingladas Hand streifte meinen Hals, ich weiß nicht, an was er beim Geräusch des Motors gedacht hatte, aber er gab mir einen schnellen Kuss auf die Stirn. Weil er sich nicht allein fühlte. Seine Hand war kalt und zitterte.

      „Jetzt werden sie meinen Vater ein zweites Mal umbringen.“

      Der Lastwagen hielt neben der Straße. Dass der Motor verstummte, war furchteinflößend. Die Stille war zum Zerreißen; wie ein gespanntes Seil. Das ganze Feld. Die Wagentür – Bam! – flog zu. Schritte, ihr Rascheln im Gras, Schuhe, die gegen Steine stießen. Im nächsten Moment gefror uns das Blut in den Adern. In einer Reihe liefen die Männer zur Mauer, heulend wie Esel, wie jaulende, rufende Esel. Zwei Uniformierte mit Gewehren über den Schultern hielten Laternen in der Hand, die für mäßiges Licht sorgten. Der Lastwagen gegenüber der Mauer schaltete die Scheinwerfer ein und tauchte die Mauer in grelles Licht. Man konnte die grünen Passionsblumen erkennen, die über die Mauer hingen. Die Uniformierten stellten die Laternen auf den Boden; sie nahmen den Männern die Fesseln ab. Die Männer streckten ihnen mit gebeugten Knien die Arme entgegen, als fielen sie zu Boden; sie plärrten, riefen durcheinander die Namen von Frauen und Männern. Jene männlichen Namen riefen sie anders, jaulender, wie Namen kleiner Jungen. Mit dem Kolben ihrer Gewehre stießen die Uniformierten sie näher auf die Wand zu. Dicht an dicht und mit dem Gesicht zur Wand stellten sich die Männer in einer Reihe auf und heulten wie Esel. Die Milizionäre feuerten mit ihren Maschinengewehren aus zwei Metern Entfernung. Die Erschossenen fielen auf den Rücken und blieben wie Puppen daliegen, mit ausgestreckten Armen. Dann waren kraftlose, stöhnende Laute zu hören. Ein Mann ging auf sie zu – Peng! Peng! Peng! –, woraufhin sich eine Totenstille über die Landschaft legte. Die Scheinwerfer des Lastwagens gingen aus und die Wand verschwand in der nachtschwarzen Dunkelheit, nur ein fahler Mondschein lag auf den Felsen. Ein Vogel sang in den Eichen. Und die duftenden Pinien bewegten sich, leicht hörbar und grün unter den Sternen.

      „Manuel …“

      Pau Inglada streckte mir die Hand entgegen, als wäre er mir gerade, mitten in der Nacht und nach langer Zeit erneut begegnet. Wir kehrten zum Dorf zurück, bedrückt vom Wissen, dass jener, der die Männer mit Schüssen niedergestreckt hatte, Julià Ballesters Vater war, Julià, den Pau Inglada mit der Astra seines Vaters bedroht hatte, damit dieser ihm das Artillerieabzeichen gab.

      Dann, Herrgott, kam der Nachmittag des nächsten Tags – ein feiner, helllichter Nachmittag. Ein Nachmittag im Oktober. Nach der Schule brachte jeder seinen Ranzen nach Hause, um eiligst zur Höhle zu laufen, wo wir unser Camp hatten. Pau Inglada hatte die Astra seines Vaters dabei. Er hielt einen Luftballon mit einer Werbeaufschrift in der Hand, den seine Mutter in einem Textilgeschäft bekommen hatte, sowie ein Paket mit Sulfat und eine Literflasche, die mit Wasser gefüllt war. Auf halbem Wege drückte mir Pau Inglada alles in die Hand, was er trug, und rannte zurück. Als er etwa hundert Meter gerannt war, drehte er sich um und reckte die Hand in die Luft:

      „Das Artillerieabzeichen. Ich hab’s vergessen.“

      „Ah!“

      Ich ging so langsam wie möglich, damit er mich einholen konnte. Er kam zurück, gehetzt, außer Atem. Die Hand auf seiner Brust sagte er:

      „Puh! Ich kann nicht mehr. Ich hatte es vergessen.“

      Und er deutete auf die abgewetzte Plakette voller Grünspan, das Artillerieabzeichen, das er sich links an die Brust geheftet hatte.

      Die Höhle bestand aus einem großen, tiefen Gewölbe, das geräumiger als ein Haus war. In der Decke gab es eine Öffnung, durch die wie durch ein Bullauge Licht eindrang. Der Zugang zur Höhle war niedrig und nicht gerade weit, sodass der Einstieg nicht leicht war. Wir kletterten hinab und stützten uns an den schwarzen, riesigen und feuchten Felsen. In einer Ecke wuchs ein junger, grüner Feigenbaum mit großen Blättern. Wasser floss lautlos an den Felsen herab und da es – plopp, plopp, plopp – an einem Felsvorsprung tropfte, spürte man die etwas kühlere Luft im Innern der Höhle.

      Auf dem Boden sitzend befüllten wir die Flasche mit dem Sulfat und schüttelten sie, zuerst ich, dann Pau Inglada. Bis das Sulfat aufgelöst war. Ich befestigte den Luftballon an einem Stein, der ein Loch hatte. Der Luftballon stieg auf, senkrecht wie eine große Blume.

      Wir warteten auf Julià Ballester. Jeden Nachmittag, wenn er die Kühe zur öffentlichen Tränke brachte, kam er hierher. Julià Ballester, der gerade einmal zehn Jahre alt war, lief ihnen mit einem grünen Ast in der Hand, den er von einem Oleaster abgebrochen hatte, voraus. Die anderen Jungen lachten ihn aus, denn er rief: «Hierher, Clapada, oooouu, Pintora, eeeeh!» Und weil er die langen Hosen seines Bruders auftrug. Wenn er die Tiere zur Tränke führte, grüßte er die Passanten mit wedelnder Hand.

      Als wir seine Schritte hörten, er duckte sich, um in die Höhle zu gelangen, wussten wir anhand des Lichtes, das durch die Öffnung fiel, dass bis zum Sonnenuntergang nicht mehr viel Zeit war.

      „Ku-ku!“

      Julià Ballester stieg die Felsen Stufe für Stufe hinab – seine dunkle Figur zeichnete sich gegen das helle Licht des Zugangs ab. Er stützte sich mit beiden Händen, links und rechts, auf die großen Felsbrocken. Mit ausgestreckten Armen kam er dann näher und suchte uns, nach uns ausschauend und rufend.

      „Manuel?“

      „Hui.“

      „Pau?“

      Das Wasser – plopp, plopp, plopp – tröpfelte im Sekundentakt von den Wänden auf die Felsen.

      „Pau.“

      Der junge und grüne Feigenbaum im Innern der Höhle war wie der Ursprung der frischen Luft.

      „Wenn du nicht antworten willst, antworte nicht, Pau.“

      Das Licht, das durch das Bullauge in die Höhle fiel, verbarg uns im Trugbild der Felsen und des saftigen Grüns, das von den feuchten Felsen herabhing.

      Julià Ballester legte die Hand auf Pau Ingladas Schulter.

      „Was ist mit dir?“

      „Nimm deine Hand von mir, du Stück Scheiße!“

      Es dauerte nur eine halbe Sekunde, kürzer als ein Flackern der Laterne, und Julià Ballester stürzte sich auf Pau Ingladas Hals. Pau Inglada hob einen Fuß und trat Julià Ballester mit dem Absatz seines Stiefels hart in die Leiste. Julià Ballester fiel auf den Rücken. Flink wie eine Katze warf sich Pau Inglada auf ihn, presste ein Knie gegen seinen Magen und würgte mit beiden Händen seinen Hals.

      „Wo war dein Vater gestern Nacht?“

      „Ich weiß es nicht. Was geht es dich an, wo mein Vater war? Mein Vater ist nicht wie deiner, den sie umbrachten, weil …“

      Pau Inglada würgte mit aller Kraft und stemmte das Knie in Julià Ballesters Magen; er klammerte die Finger fest um seinen Hals und näherte sich seinem Gesicht.

      „Ich werde dich umbringen. Hier in der Höhle.“

      Julià Ballester war von kleiner Statur, aber mutig und weinte nicht. Sein Kopf war klein und er war flink wie eine Ratte. Mit zusammengebissenen Zähnen widerstand er der Umklammerung Pau Ingladas, wehrte sich mit Händen und Füßen und drehte seinen Kopf energisch von einer Seite zur anderen. Julià Ballesters Kopf war blauviolett angelaufen. Es sah aus, als wollten seine Augen herausschießen und an der Wand gegenüber zerplatzen. Als Pau Inglada nur kurz den Druck seines Knies und seiner Finger nachgab, wandte sich Julià Ballester flink wie eine Katze aus der Umklammerung und krallte


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