Das Meer. Blai Bonet

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Das Meer - Blai Bonet


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die Gelegenheit, in seine Jacke zu greifen und die Pistole hervorzuziehen, um sie auf Julià Ballesters Brust zu drücken.

      „Wie einen Hund! Wie einen Hund werde ich dich töten!“

      Pau Ingladas Gesicht, Hände und Hemd waren blutverschmiert. Er sprach mit einer verzerrten Stimme, als hätte er einen Stein im Mund.

      „Wie einen Hund.“

      „Du tötest doch nur mit Worten. Dein Schwanz ist so winzig wie eine Dattel. Du bist wie die Hühner, rennst vor jedem Lärm, dem kleinsten Ping, davon.“

      „Du trinkst jetzt das hier …“

      Mit dem Kopf deutete er auf die Flasche mit dem Sulfat.

      „Tollwütig wie ein Köter wirst du platzen. Weil dein Vater, gestern, fünf Männer abgeschlachtet hat. An der Mauer vom Friedhof. Mein Vater wird vom Himmel herunter deine Mutter umbringen. Schimmlig gelb wird er sie werden lassen. Er wird ihr das Gesicht abziehen, wie die Schlachter, die mit dem Messer die Knochen abschaben. Euer ganzes Haus wird verrotten, weil deine Mutter nicht mehr da sein wird. Und dein Vater wird verlassen sterben, in einer Ecke liegend, wie die Katzen, die liegengelassen auf den Feldern verenden.“

      Pau Inglada griff nach der Flasche. Er legte die Astra auf den Boden. Langsam.

      „Trink das. Alles. Ohne abzusetzen.“

      Er drückte Julià Ballester den Flaschenhals an den Mund, sodass dieser mit zusammengebissenen Zähnen ein wenig schluckte. Dann geschah etwas Unerwartetes: Julià Ballester, der den Ausdruck eines Besiegten im Gesicht hatte, stieß mit dem Kopf in Pau Ingladas Bauch und griff nach seinem Kiefer. Mit aller Brutalität stieß er nach oben, als wollte er ihm den Kiefer brechen. Dann krallte er die Finger in Pau Ingladas Brust, in seine linke Brustwarze. Man hörte das Fleisch reißen, als zöge man mit einer Zange daran. Pau Inglada brüllte wie ein Schlachtvieh. Während er wie am Spieß schrie, sah ich, wie er verzweifelt versuchte, in seine Hosentasche zu greifen.

      „Pau, neeein!“

      Pau Inglada rammte Julià Ballester das Messer in den Hals, bis zum Griff.

      In der Höhle spürte man einen kühlen Luftzug. Das Wasser – plopp, plopp, plopp – tröpfelte im Sekundentakt von den Wänden.

      Ich rannte fort, zum Ausgang der Höhle. Die Sonne war längst untergegangen. Bevor ich in die kühle Abendluft hinaustrat, drehte ich mich um. Pau Inglada hatte die Hand auf die Haare des toten Julià Ballester gelegt und küsste seine Stirn. Kurz. Als schäme er sich. Die Landschaft war beinahe dunkel.

      Ich rannte ins Dorf, ohne Halt zu machen. Nahe dem Tor, als ich die ersten Häuser erkannte, in denen schon das Licht eingeschaltet war, brach ich in Tränen aus.

      Man trug Julià Ballester in sein Haus. Er war in ein Tuch gewickelt und lag auf dem Karren seines Vaters. Das ganze Dorf stand vor der Tür, leise redend und wartend, dass die Männer den Toten bringen. Die zwei in der Nacht zu den Feldern ausgeschickten Männer von der Guardia Civil fanden Pau Inglada nicht. Ganze Brigaden suchten ihn acht Tage lang und, obwohl sie jeden Meter und jeden Busch absuchten, fanden sie ihn nicht. Bis in die Nacht hinein waren Leute und Hunde auf den Feldern. Nach einer Woche entdeckten sie neben dem Brunnen von Jeroni Crous Fußspuren von Pau Inglada. Gleich neben seinen kleinen Fußabdrücken im Staub waren Spuren von Perlhühnern und Wachteln, die zum Trinken an die Schale unter der Pumpe kamen, zu sehen.

      Die lange Leiter des Elektrizitätswerks wurde in den Brunnen hinabgelassen. Ein Mann aus Pau Ingladas Straße brachte ihn nach oben. Er trug ihn unter dem Arm.

      Man legte den Leichnam auf einen Sack, den man auf die Erde geworfen hatte, die Sonne brannte. Man wartete auf den Staatsanwalt, die Guardia Civil, zwei weitere Polizisten aus dem Ort – alles für ihn, der noch ein Kind war … Eine Aasfliege kreiste um seine Augen. Sie zerstörte die bleierne Stille der Menschen, die sich beim Brunnen versammelt hatten und ihre Mützen in den Händen rotieren ließen. Der Pritschenwagen des Bestatters kam heran, ohne jeglichen Flor, staubbedeckt, wie er in der städtischen Garage gestanden hatte. Man steckte den Leichnam in einen langen Nitrat-Sack. Der Kopf schaute am oberen Ende heraus. Ein weiterer Sack, aus Leinen, wurde vom Kopf zu den Füßen darübergestülpt. Das Bündel wurde mit einem dünnen Strick vertäut und auf die Pritsche gelegt. Langsam nässte das Sackleinen durch. Es sah aus, als sei Pau Inglada noch nicht endgültig tot. Mit Äxten hauten einige Männer frische Äste aus den Büschen und warfen sie auf den Wagen, um den Sack zu verbergen. Es war mitten am Tag. Die Straße flimmerte unter der Sonne. Mit maximaler Geschwindigkeit raste das Auto durch den Ort, während tief in den Häusern die Löffel laut in die Teller stießen und die Leute des Dorfes sich gegenseitig anstarrten und aßen …

      So, lieber Herrgott, begann mein Leben. Dies war mein erstes Land, dies waren meine ersten Wurzeln, dies wurde meine erste Bewusstheit. Erspart mir, Herr, Euer niederschmetterndes Urteil. Erinnert Euch, dass ich ein Kind des Krieges bin. Das eines Tages …

5 GABRIEL CALDENTEY

      Ich trachtete nicht nach eigenem Wohlergehen, als ich mich für das Sanatorium und gegen eine Gemeinde entschied. Es wäre ehrlicher, zu sagen, dass ich mein Wohl zuletzt auch nicht fand. Eine anonyme Gemeinde, eine Gemeinde wie alle anderen, besitzt jene geschmierte, unzerbrechliche Routine einer Herde Viecher. Der Mensch der ländlichen Gemeinde ist iterativ und anhänglich wie Raben oder Fliegen. Es macht den Anschein, als sei er unbeweglich. Nur die Kirchenglocken zerren an ihm – wie jene einzige und kaputte Glocke, die wir im ersten Jahr meines Amtes so beherzt läuteten, dass sie uns fast zum Weinen brachte.

      Nicht weil ich mich mit einem Priester aus einem Buch von Bernanos identifiziere, vermag ich über die Eintönigkeit des Alltags einer ländlichen Gemeinde zu reden, dessen Monotonie nicht einmal das tägliche Blut Christi zu verscheuchen weiß.

      Während ich beim Kamin meines ersten Pfarrhauses saß und den Winter hinter den Fensterscheiben betrachtete, durchdachte ich die absolute Notwendigkeit der körperlichen Buße – selbstverständlich hat sich ein Diener Gottes die Haut mit einer Kette aufzureißen, sodass er sein Amt mit der angemessenen Inbrunst ausüben kann und die Gnade auf die abscheulichste Weise erhält. Danach schmerzte es mich, während der Messe die Arme auszubreiten, so sehr, dass mich der Schmerz an meine Mutter denken ließ und ich erkannte, dass die Monotonie nur durch Blut und Gebet überwunden werden kann.

      In meinem ersten Pfarrhaus begriff ich endlich, dass Priesterschaft allein keine Karriere ist, für die Ausführung des Amtes sind Studien zwingend erforderlich. Ich besaß so viel priesterliche Erfahrung und wusste, dass die Monotonie der Gemeinde einer Nacht wie der in Getsemani schon sehr glich, samt den besten Gefährten, die eingeschlafen sind, dem reichlichen Blut auf der Bühne und dem allumfassenden und entsetzlichen Schweigen Gottes.

      Im Seminar hätte man uns einen anderen Charakter einschärfen müssen, einen gewarnten und militanten, der uns das Amt hätte richtig annehmen lassen, nachdem wir so oft mit der Härte der Wirklichkeit Christi zusammengestoßen waren und uns vor dem grausamen Dilemma befunden hatten, zwischen der Gnade und der Hierarchie entscheiden zu müssen. Wo Gnade ist, ist Kirche.

      Wir hätten diesen Charakter auf eine gewinnende Weise annehmen können, wenn die Studien der Kirchenfächer darin bestanden hätten, die Wahrheit, die in drögen Büchern niedergeschrieben wurde, zu leben und innerlich zu erfahren. Theologie zu studieren, ohne sie als lebendige Wirklichkeit auszuprobieren, ist absurd. Diese Absurdität ist die Quelle der Eintönigkeit in den ländlichen Gemeinden und ihrer Pfarrer.

      Das Sanatorium ist der Gegenentwurf zur Eintönigkeit. Hier sündigt man auf die feine Weise, man sündigt und man redet über die Sünde, wie seinerzeit in der gehobenen Gesellschaft. In diesem Sanatorium sündigt man ausgeklügelt, nicht im Verborgenen, wie auf dem Lande. Die Insassen dieses Internats stammen aus bescheidenen Häusern. Der Komfort, die ganze Annehmlichkeit des Komplexes, die modernen Geräte, das uniformierte Personal vermitteln ihnen ein unbekanntes Gefühl des gehobenen Lebens. Sie sündigen mit Frivolität, mit dem Naturell dekadenter Menschen. Auf dem Brett in meiner Kabine sitzend


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