Das Meer. Blai Bonet

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Das Meer - Blai Bonet


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sie nicht auf, nicht zu sündigen. Das wäre zu viel verlangt angesichts dieser tiefen Wurzeln des Bösen. Ich ersuche sie, gewahr zu werden, dass sie sündigen. Ihr Schweigen hinter dem Gitterfenster des Beichtstuhls, wenn ich auf sie einrede und sie bedränge, alles auszusprechen, zeigt mir, wie versteinert ihre Gleichgültigkeit ist. Allerdings spüre ich im Halbdunkel des Beichtstuhls, wenn ich den Stoff sehe, den ich über die löchrige Blechdose gezogen habe, in die sie ihre Sünden hineinsprechen, die Gewissensbisse meiner eigenen Angst, die Sünde in meiner Vorsicht. Meine Feigheit vor einer möglichen Ansteckung ist der Vorsehung Gottes unwürdig. Ich bin ungeeignet als sein Diener.

      Sie kommen zu mir, erfüllt von Verachtung und getränkt mit Vernunft wie mustergültige Zöglinge des Französischen Gymnasiums.

      Heute hatte ich kein Glück, als ich für Jaume Galindo eine Metapher erdachte, eine miserable Metapher. Ich sagte ihm, die Welt sei ein Fußballstadion und Christus der Ball (Ich bin ein miserabler Priester!), und dass die Menschen ihn sich auf skandalöse Weise, mit der Spitze ihrer Stiefel, zuspielten und nur der Torwart der perfekte Christ wäre, der ihn mit der Hand finge.

      Jaume Galindo antwortete, dass der Torwart den Ball auffange, um ihn zurück ins Feld zu schießen, mit der Picke seines Stiefels.

      In ihren Augen bleibt mir nichts anderes als für sie betend zu sterben und mein Gebet ihren zunehmenden Läsionen der Lunge anzugleichen. Ich beginne fast zu weinen, wenn ich die reine, duftende Nacht vor mir sehe, aufgespannt wie die Flügel eines Vogels in der Luft. Diese neue, seiende, wie Bäume im Frühling so durchlässige Nacht.

      Kurz bevor sich die Dunkelheit der Nacht auf alles legt, flackert im Fenster der Schlussstein der Landstraße wie eine winzige Nacht, wie Kalk auf einer Wand auf. Mit dem Erzbischof in der Mitte, der die Hand auf seine Brust gelegt hat, sind wir vierzehn. Neben dem bischöflichen Thron – und neben mir – hat Ramon Duch die Hand auf die Kreuzblume des erzbischöflichen Stuhls gelegt. Ramon Duch, mein Gefährte im Patio und bei den Exkursionen, hat das Gesicht eines unverbrauchten, aseptischen, blassen Knabens, das Gesicht eines verbannten Engels. Auf dem Foto erkennt man, dass Ramon Duch prädestiniert war, die seidene Soutane zu tragen. Ramon Duch war weniger ein Mensch. Er verstand weder die Seele noch das Fleisch und schon gar nicht das Blut. Mehr als mit der Stille des Blutes Christi war Ramon Duch mit dem Kanonischen Recht und den synodalen Dekreten gewappnet. Er sagte nicht mehr Hosentaschen, sondern meinte die Tasche in der Soutane, jene Tasche in seiner tadellos sitzenden Soutane, die zusammen mit seinen Händen die Synthese zweier Jahrtausende Zivilisation war. Ich kann mich an das eine Mal erinnern, als ich ihn lachen sah; er wälzte sich zuckend auf dem Boden meiner Zelle. Das war während des ersten Theologiekurses und nachdem er sich das erste Mal seinen Schnauzbart rasiert hatte. Wir feierten das Ereignis auf meinem Zimmer, saßen auf dem Boden, auf der Truhe, auf dem Bett. Wir schenkten ihm einen Gilette-Rasierer, einen Pinsel und ein Stück Rasierseife. Später imitierte ich die Flötenstimme des Unterrichtspräfekten und erfand eine Lektion: «Die Dekadenz des Eselhaars in der Ästhetik des 20. Jahrhunderts.» Ich erinnere mich an die Soutane Ramon Duchs – die ganz staubig war von den Fliesen, die nicht sehr gut gereinigt waren. Nun, da ich mich in meine Kindheitstage zurücksehne – als meine Mutter mit einer Schale dampfender Milch in mein Zimmer trat –, knie ich nieder. Ich stütze meine Ellbogen auf das Bett und weine und spüre die leisen Tränen auf der Haut, denn mein Leben und das Blut Christi sind Verlorene in der Wüste … weil ich für die Dinge, die mir aufgetragen wurden, ungeeignet bin … weil ich keinen Impuls spüre, die unerhörte Kraft der Sünder zu hassen.

      Was mir geblieben ist, ich darf den schwarzen, wärmenden Schal spüren, den ich um meinen Hals gelegt habe, ich darf in die Nacht des Pavillons und dieser Berge schauen, auf das Foto vom Ende des Studiums, auf das Kästlein auf dem Tisch, die sorgfältig gebügelten Taschentücher obenauf, mit der kleinen Spitze und dem Digital darin, falls die Krise beginnt, jene Krise, die ich erwarte.

6 ANDREU RAMALLO

      Joan Mercader und ich verließen die Lungenstation. Mit aufgeknöpftem Kittel und Händen in den Hosentaschen durchquerte Joan Mercader pfeifend und hart mit den Absätzen auftretend den Saal. Er ist jemand, der selbstsicher geht. Wie ein Korporal des Pionierregiments. Er hat etwas von einem Soldaten, der Ausgang erhalten hat. Wie er den Saal der Lungenstation verlässt, den Gürtel offen (den Bauchnabel fast kindlich zur Schau gestellt), wie er sich nicht zur Wand dreht, wenn er seine Hose herunterlässt, um das Hemd einzustecken. Jordi Mercader, der kein Unterhemd trägt, wie er mit dem Gesicht zu uns, als stünde er allein auf einem Feld, sich sein Hemd überzieht, sich im Kreuz streckend das Hemd vorne in die Hose stopft und kurz seinen gelbhäutigen Bauch zeigt. Danach bindet er seinen Gürtel zu und ordnet geistesabwesend und souverän mit zwei sanften Griffen seinen Schritt – wie das ordnende Herumfuchteln eines Matadors nach acht einfachen pases.

      Beim Öffnen der Aufzugstür wandte er sich zu mir.

      „Du hast feuchte Augen, beinahe wärst du in Tränen ausgebrochen, als dich der Direktor fragte, welchen Beruf du hast.“

      Ich antwortete:

      „Weil ich noch nie gearbeitet habe, darum. In meinem Dorf – Du hast keine Ahnung, wie die Leute in einem Dorf ticken! – würden die Leute Mitleid mit mir haben, wenn sie mich in einer Schreinerei arbeiten sähen oder im Steinbruch, wenn sie sähen, wie ich eine Schubkarre durch den Ort placke, mit Zement oder mit Kalk bis oben hin, wenn sie mich als Gepäckjungen auf dem Bahnsteig sähen oder bei Joan Martí, dem Barbier – du hast keine Ahnung, wie Spott auf dem Lande klingt. Einer wie ich dürfte nur in der Verwaltung arbeiten oder in einer Bank. Aber weder im Rathaus noch in der Bank hätte man mich gewollt, weil ich nichts besaß und mir Eugeni, der Kaufmann, manchmal etwas gab und mich in seinem Auto ins Theater in der Stadt mitnahm und ihn die Leute wegen mir schon «La Verònica» nannten.“

      Joan Mercader sagte:

      „Wenn du aus dem Sanatorium rauskommst, wirst du wie wir alle irgendwo schaffen. Der Direktor hat gesagt, dass du bereits gesund genug bist für Arbeit. Wenn du nicht arbeitest, wirst du wie vorher den ganzen Tag die Hände in die Hosen stecken. Man muss immer was in den Händen haben, ob Holz, Steine, Kalk oder Brot. Aber wenn du den lieben langen Tag die Wärme deiner Hosentaschen suchst, kommst du erst mittags aus den Federn. Du wirst sehen, wie du wieder fett wirst und dann traurig. Irgendwann reißen deine Arterien, und das Blut wird so heftig aus dir herausschießen, dass es den Spiegel vollspritzt, wenn du einen Spiegel in deinem Zimmer zu Hause hast. Du wirst wie Justo enden, der das Betttuch über den Spiegel am Waschbecken warf, damit er sein Blut nicht sehen musste. Du musst einen Ausweg finden, Ramallo. Einen Ausweg, hast du gehört …“

      „Ich habe die Lösung. Sie ist mir gestern eingefallen. Im Bett.“

      Und während er die Hand auf meine Schulter legt und mich mit seinen hellen Augen anschaut:

      „Verzeih, was ich dir gesagt habe, Ramallo.“

      „Sei ruhig, du hast ja recht, Mann.“

7 MANUEL TUR

      Was ich denke: Es ist kalt auf dem Klosett.

      Was ich spüre: Wenig Lust, Wasser zu lassen, eine Nervosität, so etwas wie den Vorwand, das Bett zu verlassen.

      Ich setze mich auf und stütze mich kräftig links und rechts mit beiden Händen auf die Matratze.

      Ich schaue auf das gelbe Mosaik der Galerie, auf die weißen Säulen, die grüne Landschaft, mit den Zehen suche ich nach den Pantoffeln unter dem Bett.

      Auf den Füßen stehend. Ich. Der Kopf dreht sich mir und ich suche das Gleichgewicht, während die Augen schwindelig kreisen.

      Warum gehe ich zum Spiegel? Ich weiß es nicht … natürlich, weil er sauber ist und ich mich in der Reinlichkeit des Spiegels begrüßen möchte.

      „Hallo!“

      Die grüne Dose Profidén-Zahnpasta auf dem weißen Waschbecken


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