Die Stimme. Bernhard Richter

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Die Stimme - Bernhard Richter


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Kontext heraus zu entwickeln. Es ist dabei nicht das Anliegen des Autors, eine möglichst umfassende und detaillierte historische Übersicht vorzulegen, hierzu sei der Leser auf die Darstellungen von Peter-Michael Fischer (Fischer 1998) sowie Hans von Leden (Leden 2005a) verwiesen. Vielmehr werden im folgenden Abschnitt einige historische »Meilensteine« in der Erforschung des Phänomens Stimme dargestellt, welche für das Verständnis des vorliegenden Buches von Bedeutung sind.

      Eine klare Definition, was unter den Begriffen Stimme und Stimmphysiologie – oder auch Stimmgesundheit – zu verstehen sei, ist nicht trivial, da sich eine Vielzahl von wissenschaftlichen, pädagogischen und therapeutischen Disziplinen mit der Stimme beschäftigt und somit eine Betrachtung aus sehr verschiedenen Blickwinkeln möglich ist. Aus diesem Grund kommen Stimmexperten aus unterschiedlichen Gebieten wie der Anatomie, der Physiologie, der Stimmheilkunde, der Stimmtherapie, der Gesangspädagogik, der Gesangsbühnenpraxis, der Akustik, der Phonetik, der Musikwissenschaft, der Kommunikationswissenschaft, der Psychosomatik und Psychologie, der Sprechwissenschaft sowie der Kulturwissenschaft – um nur einige grundlegende Fächer zu nennen – zu Wort. Entsprechend breit gefächert ist auch die historische Entwicklung in den unterschiedlichen Traditionen.

      Während im Altertum in den Zeiten von Hippokrates (460–377 v.Chr.) und Aristoteles (384–322 v.Chr.) über Bau- und Funktionsweise der Stimme nur sehr unklare Vorstellungen bestanden, entwickelte der vornehmlich in Rom wirkende griechische Arzt und Forscher Galen (131–201 n.Chr.) anhand seiner Untersuchungen an Tieren grundlegende Beschreibungen des Kehlkopfgerüstes und einiger seiner Muskeln (Feldmann 2001). Auf ihn gehen die Bezeichnung »Glottis« für den Spalt zwischen den Stimmlippen und auch die Entdeckung der Stimmlippennerven zurück.

      Im Kontrast zu diesen nur basalen physiologischen Kenntnissen bestand im Altertum ein reiches Wissen über die Stimmpraxis – vornehmlich der Sprecherstimme im Theater und bei öffentlichen Reden (Göttert 1998). Die Rhetorik und ihre Vermittlung hatten einen hohen Stellenwert. Die Sprech- und Formulierungskunst berühmter Redner und Rhetoriker wie z.B. Demosthenes (384–322 v.Chr.) und Cicero (106–43 v. Chr.) und ihre teilweise erhaltenen Schriften (bspw. Cicero 2007) gelten auch heute noch als legendär.

      Erste Zeichnungen, welche den Bau des Kehlkopfes mit seinen wichtigsten Strukturen erstaunlich korrekt und detailliert abbildeten, fertigte das Renaissance-Genie Leonardo da Vinci (1452–1519) im Rahmen seiner systematischen anatomischen Studien an, ohne jedoch die Funktionsweise der einzelnen Elemente zu verstehen (von Leden 2005a) (Abb. 1). In der Folge verfeinerten insbesondere die italienischen Anatomen Vesalius (1514–1564), Fallopio (1523–1563) sowie Eustachius (1520–1574) die Kenntnisse über die Knorpel, Muskeln und Nerven des Kehlkopfes erheblich, ohne jedoch zu gesicherten Kenntnissen über die Stimmproduktion zu gelangen. Weitere Anatomen des 16. und 17. Jahrhunderts wie Fabricius (1537–1619) und Casserius (1561–1616) stellten Überlegungen zur Entstehung der Stimme im Kehlkopf an, erkannten jedoch den präzisen Mechanismus der Tonentstehung noch nicht.

      Abb. 1: Anatomische Zeichnung des Kehlkopfes von Leonardo da Vinci

      Anfang des 18. Jahrhunderts vermutete der französische Arzt und Professor an der Medizinischen Fakultät der Universität Paris Denis Dodart (1634–1707), dass die Tonproduktion im Kehlkopf analog der Entstehung der Pfeiftöne an den Lippen des Mundes zu erklären sei (Dodart 1700).

      Den Durchbruch im Verständnis der Kehlkopfphysiologie brachten die Experimente seines Landsmannes und Professorenkollegen Antoine Ferrein (1693–1769) im Jahre 1741. Ferrein führte seine Versuche vornehmlich an Hundekehlköpfen durch, er besaß aber als ehemaliger Marinearzt auch umfangreiche Erfahrung in der Sektion von verstorbenen Menschen. Er beschrieb den Kehlkopf als ein sonst in der Musik nicht vorkommendes einzigartiges Instrument, welches die Eigenschaften eines Saiten- mit denen eines Blasinstruments in sich vereinigt (Ferrein 1741); er formulierte:

      »[…] ich möchte […] ein neues Instrument vorstellen, welches den Anatomen und Musikern gleichermaßen unbekannt ist. Es gibt Saiteninstrumente, wie beispielsweise die Geige, das Cembalo; es gibt andere Instrumente, die Blasinstrumente, wie die Flöte oder Orgel, aber man kennt bisher keine Instrumente, die gleichzeitig Saiten- und Blasinstrumente sind, so wie das Instrument, welches ich im Inneren des menschlichen Körpers gefunden habe«.1

      Die Untersuchungen von Ferrein wurden erst etwa hundert Jahre später – ab 1837 – durch Johannes Peter Müller (1801–1858) und seinen Mitarbeitern in Berlin wieder aufgegriffen und an menschlichen Leichenkehlköpfen wissenschaftlich so exakt wie damals möglich nachvollzogen (Müller 1840). In experimentellen Versuchsaufbauten konnten hierbei erstmalig verschiedene Registerkonditionen – vornehmlich Modal- und Falsettregister (vgl. Kap. 6, S. 132 ff.) – simuliert werden.

      Im 18. Jahrhundert wuchs das Interesse an den Funktionen des Körpers im Allgemeinen und an der Stimme im Besonderen. So erregte Ende des 18. Jahrhunderts Wolfgang von Kempelen (1734–1804) mit seiner »Sprechmaschine« große Aufmerksamkeit (Felderer 2004). E.T.A. Hoffmann (1776–1822) verarbeitete diese Thematik des »Menschen als Maschine« im Jahr 1816 literarisch in seiner Novelle Der Sandmann und schuf die Figur der Olympia, die von Jacques Offenbach (1819–1880) wiederum kongenial in dessen Oper Les Contes D’HOFFMANN im Jahr 1881 an der Pariser Opéra comique musikalisch auf die Bühne gebracht wurde.

      Aus diesem gesellschaftlichen Umfeld resultierten auch im Bereich der Stimmphysiologie neue Entwicklungen. So war ein weiterer wichtiger Meilenstein die erste Beobachtung der Kehlkopffunktion bei der Phonation am lebenden Menschen. Wer tatsächlich hierbei historisch der erste war, ist nicht mehr mit letzter Sicherheit festzustellen (Feldmann 2002). Es ist jedoch bekannt, dass es 1854 dem spanischen Gesangslehrer Manuel Garcia d. J. (1805–1906) gelang, seinen eigenen Kehlkopf mittels eines Spiegels zu untersuchen. Seine Ergebnisse legte er im März 1855 der Royal Society in London schriftlich vor und machte sie somit der Öffentlichkeit zugänglich (Garcia 1855). Wegen seiner bahnbrechenden Untersuchungen und seines Pioniergeistes wurde Garcia von Franz Haböck (1868–1922) auch als »Kolumbus der Stimme« bezeichnet (Haböck 1927). Garcia war über seine Entdeckung der Laryngoskopie hinaus ein wissenschaftlich sehr gebildeter Gesangslehrer, der sich mit der mechanischen Entstehung der Register eingehend auseinandersetzte, wovon seine Veröffentlichungen – die man auch heute noch mit Gewinn lesen kann – ein eindrucksvolles Zeugnis ablegen (Garcia 1847 a/b; 1855). Auch andere prominente Gesangslehrer der Zeit versuchten ihre Methode nach wissenschaftlichen Kriterien zu beschreiben. So verfasste beispielsweise Christian Gottfried Nehrlich (1802–1868), Direktor des Konservatoriums für Gesang zu Berlin, mehrere gesangswissenschaftliche Bücher, unter anderem 1853 eine Publikation mit dem vielsagenden Titel »Die Gesangkunst, physiologisch, psychologisch, ästhetisch und pädagogisch dargestellt. Anleitung zur vollendeten Ausbildung im Gesange, sowie zur Behandlung und Erhaltung des Stimmorgans und zur Wiederbelebung einer verloren geglaubten Stimme. Mit Berücksichtigung der


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