Die Stimme. Bernhard Richter

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Die Stimme - Bernhard Richter


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die Methode erst nach den technischen Verbesserungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Einzug in die allgemeine stimmärztliche Routine. Wichtige Arbeiten wurden hierzu von Elimar Schönhärl (1916–1989) und Volker Barth (1943–2011) geleistet (Schönhärl 1960; Barth 1977). Letzterem gelang es, die Stroboskopie in die Lupenlaryngoskopie zu integrieren und damit nicht nur eine verlangsamte, sondern auch eine optisch vergrößerte Darstellung der Stimmlippen zu erreichen. Auch heute, am Beginn des 21. Jahrhunderts, ist eine computergestützte Stroboskopie in digitaler Aufnahmetechnik aus der angewandten Laryngologie nicht wegzudenken (Dejonckere et al. 2001). Sie hat jedoch den Nachteil, dass sie bisher eine Methode ist, die keine objektiven Messwerte liefert (vgl. Kap. 3, S. 72). Die Beurteilung der in der Stroboskopie erhobenen Befunde erfolgt bisher nicht standardisiert und ist in erheblichem Maße von der Erfahrung des Untersuchers abhängig.

      Mit neueren technischen Verfahren wie der Hochgeschwindigkeitsglottografie (vgl. Kap. 3, S. 72) können hier in der Zukunft sicherlich Verbesserungen in der Quantifizierbarkeit und der untersucherunabhängigen Objektivierung der Stimmlippenschwingungen erzielt werden (Richter et al. 2005; Deliyski u. Hillmann 2010).

      Diese technischen Entwicklungen des 19. Jahrhunderts ebneten im 20. Jahrhundert den Weg für das für Sänger sehr bedeutsame Forschungsgebiet der Stimmklanganalyse, wie sie u. a. von Willmer T. Bartholomew (1903–1994), Fritz Winckel (1907–2000), Gunnar Fant (1919–2009) und Johan Sundberg im Rahmen der Untersuchungen der Formanten (vgl. Kap. 4, S. 82ff.) entwickelt wurde (Bartholomew 1934; Winckel 1952; Fant 1960; Sundberg 1970). Insbesondere von Sundberg konnte herausgearbeitet werden, dass der Höreindruck der Stimmqualität eines Sängers wesentlich vom sogenannten »Sängerformanten« abhängt (Sundberg 1995; Berndtsson u. Sundberg 1995) (vgl. Kap. 4, S. 86f.).

      Durch die rasante Entwicklung der technischen Möglichkeiten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – insbesondere durch die Entwicklung der Computertechnologie – wurde es möglich, eine Vielzahl von Parametern in die Stimmanalyse einzubeziehen. In Anlehnung an eine Aufstellung von Michaelis werden als physikalische Methoden zur Beurteilung der Stimmgüte neben den akustischen Analysen aktuell vornehmlich aerodynamische und elektroglottografische Verfahren eingesetzt (Michaelis 1999) (vgl. Kap. 3, S. 76).

      Im Zusammenhang mit der Erforschung der Akustik der Stimme ist – seit den wegweisenden Arbeiten von Helmholtz – auch der Einfluss des Vokaltraktes als wichtiges Forschungsthema der Stimmphysiologie bei Gesangspädagogen wie Wissenschaftlern etabliert worden. Bereits im Jahr 1902 stellte die Sängerin und Gesangspädagogin Lilli Lehmann (1848–1929) die auch heute noch häufig zitierten Bereiche der Vibrationsempfindungen in Brust und Kopf in Abhängigkeit von der Tonhöhe in Schemazeichnungen dar (Lehmann 1902) (Abb. 2).

      Abb. 2: Vibrationsempfinden in Brust und Kopf in Abhängigkeit verschiedener Tonhöhen (aus Lehmann 1902)

      Die Stimmwissenschaft konnte jedoch immer weitere Erkenntnisse zusammentragen. So interessierte sich Woldemar Tonndorf (1887–1957) 1925 für die Wechselbeziehungen zwischen dem Kehlkopf und dem Vokaltrakt, ohne jedoch über die nötigen technischen Voraussetzungen für exakte Messungen zu verfügen (Tonndorf 1925). Seit die dynamische MRT als Methode zur Untersuchung des Vokaltraktes eingeführt wurde (vgl. Kap. 3, S. 74), steht eine Messmethodik zur Verfügung, die detaillierte Untersuchungen des Vokaltraktes und des Larynx im Zusammenhang mit akustischen Analysen ermöglicht (vgl. Echternach 2010).

      Bereits Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte der aus Berlin stammende und in Straßburg als Professor tätige Physiologe Julius Richard Ewald (1855– 1921) eine myoelastische Theorie der Stimmlippenschwingungen (Ewald 1898), die von Tonndorf unter Anwendung des schon seit dem 18. Jahrhundert bekannten Bernoulli-Effekts erklärt wurde (Tonndorf 1925). Janwillem van den Berg (1920–1985) griff diese Gedanken auf und entwickelte sie zur Myoelastisch-aerodynamischen Theorie weiter (van den Berg 1958), die im Wesentlichen bis heute Gültigkeit hat (Titze 2006) (vgl. Kap. 2, S. 54).

      Grundlage für ein korrektes Verständnis der Schwingungseigenschaften der Stimmlippen waren auch die Arbeiten des Freiburger Anatomieprofessors Kurt Goerttler (1898–1983) über die Feinstruktur der Larynxmuskulatur (Goerttler 1950) und von Minoru Hirano zum mehrschichtigen feingeweblichen Aufbau der Stimmlippe im sogenannten Body-Cover-Modell (Hirano 1974) (vgl. Kap. 2, S. 51 ff.). Hirano legte schon zuvor Forschungsarbeiten zur Elektrophysiologie der Kehlkopfmuskulatur vor (Hirano et al. 1970), die heute noch Beachtung finden. Darüber hinaus leistete er wichtige Beiträge zur Entwicklung der funktionserhaltenden Stimmlippenchirurgie, der sogenannten Phonochirurgie (von Leden 2005b; Zeitels 2005). Hans von Leden und Oskar Kleinsasser (1929–2001) werden als Pioniere dieser Operationstechniken angesehen, die auf den Kenntnissen der Stimmlippenstrukturen und ihren Bedeutungen für die Tonproduktion aufbauten (s. Kap. 2, S. 50). Als Vorarbeiten hierfür können die bereits von Gustav Killian (1860–1921) im Jahr 1912 eingeführte Technik der Schwebelaryngoskopie (Killian 1912) und die rasche Entwicklung der Narkoseverfahren sowie der Mikroskoptechnik angesehen werden.

      Betrachtet man die historische Entwicklung der Diagnostik und Therapie von Personen mit Stimmstörungen, so wird klar, dass schon seit der Antike bekannt ist, dass die Stimme einer besonderen Aufmerksamkeit bedarf (Göttert 2002). Damals schulte die Berufsgruppe der Phonasken die Redner in der Deklamationskunst und im stimmlichen Vortrag. Zur spezifischen Betreuung der Sing- und Sprechstimme hat sich im Laufe der letzten 130 Jahre die Phoniatrie als eigenes medizinisches Fachgebiet entwickelt. Zusammen mit der Pädaudiologie bildet die Phoniatrie seit 1992 in Deutschland einen wesentlichen Eckpfeiler eines eigenen Facharztgebietes, welches sich auf die Pathophysiologie der Kommunikation spezialisiert hat und für die Diagnostik und Behandlung von Erkrankungen und Störungen der Sprache, der Stimme, des Schluckens sowie für kindliche Hörstörungen zuständig ist.

      Die Grundlagen der Phoniatrie als moderne medizinische Wissenschaftsdisziplin wurden – nahezu zeitgleich mit den oben angesprochenen technischen Neuerungen – Ende des 19. Jahrhunderts durch Monografien des Freiburger Internisten Kussmaul (1877) und des Berliner Taubstummenlehrers Gutzmann (1879) gelegt (Richter 2011 a). Eine detaillierte Darstellung der historischen Entwicklung der Phoniatrie wurde ausführlich von Jürgen Wendler beschrieben (Wendler 2005).

      Im europäischen Kontext entwickelten sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wichtige phoniatrische Zentren in Berlin und Wien, deren Bedeutung bis in die skandinavischen Länder, vornehmlich Schweden und Finnland, sowie nach Frankreich ausstrahlte. Der Wiener Phoniater Emil Fröschels (1884–1972) führte für die Stimmtherapie im Jahr 1924 offiziell den Begriff »Logopädie« ein. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bildeten sich weitere Zentren in der Tschechoslowakei, England, USA und Lateinamerika.

      Parallel zu dieser internationalen Entwicklung wurden verschiedene Fachgesellschaften ins Leben gerufen, zunächst ab 1924 die International Association of Logopedics and Phoniatrics (IALP) und in der Folge zahlreiche nationale und internationale Vereinigungen. Bereits 1925 wurde die Deutsche Gesellschaft für Stimm- und Sprachheilkunde (DGSS) gegründet, 1969 das Collegium Medicorum Theatri (CoMeT), 1970 die Union der Europäischen Phoniater (UEP), 1972 die Voice Foundation


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