Die Stimme. Bernhard Richter

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Die Stimme - Bernhard Richter


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Wissenschaft erhoben« (Nehrlich 1853). In diesem Werk formulierte er bereits in der Vorrede seinen Anspruch an eine rationale Wissenschaft und leitet hiervon Implikationen für die Gesangspädagogik ab:

      »Wenn Alles, was auf Gesetzen beruht, sich durch Nachweisung dieser Gesetze rationell begründen lässt, so kann die Gesangskunst keine Ausnahme machen; denn sie beruht eben so, wie jede andere Kunst, auf gewissen ewig geltenden Gesetzen, mit deren Ergründung man das, was darauf ruht, in seine volle Gewalt bekommt.« (Nehrlich 1853, S. IV)

      Wer sich so weit vorwagt, bleibt nicht unbemerkt – Haböck bezeichnet Nehrlich ob seines allumfassenden Wissensdurstes auch als »Faust unter den Gesangslehrern« (Haböck 1927). Nehrlich blieb zudem nicht unwidersprochen. So formulierte Gustav Nauenburg im Jahr 1841 für die von Robert Schumann herausgegebene Neue Zeitschrift für Musik in seinem Beitrag »Revision der herkömmlichen Gesanglehre« folgende grundlegende Kritik an der Wissenschaftsgläubigkeit von Nehrling:

      »Die Theorie der Gesangkunst ist zur Zeit noch unvollkommen, weil die Kenntniß des Instruments, d. h. die Kenntniß des menschlichen Stimmorganismus mangelhaft genannt werden muss. Sind wir auch mit Hülfe der Anatomie im Besitze einer detaillierten Stimm-Organen-Lehre, so muß doch die, für die Gesangkunst weit wichtigere Functionen-Lehre mangelhaft und ungenügend genannt werden.« (Nauenburg 1841)

      Die auf Garcias Epoche folgenden Jahrzehnte waren geschichtlich von zahlreichen bahnbrechenden technischen Erfindungen und Entdeckungen auf unterschiedlichen Wissensgebieten gekennzeichnet, die in rascher Folge die Untersuchungsmöglichkeiten der stimmphysiologischen Forschungen verbesserten, auch wenn die einzelnen Verfahren zum Teil nicht in Hinblick auf eine Anwendung in diesem Forschungsfeld entwickelt wurden.

      So begann Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts eine breite technische Anwendung der unter dem Begriff Elektrotechnik zusammenfassbaren Verfahren, nachdem in vielen kleinen Einzelschritten die Gesetzmäßigkeiten der Elektrizität erkannt worden waren (Sjobbema 1999). Im heutigen wissenschaftlichen und medizinischen Alltag ist Elektrizität im Sinne von elektrischer Energie unentbehrlich (Eckert 2011), ohne sie wäre auch die moderne Stimmforschung mit ihren Verfahren zur Visualisierung und akustischen Analyse nicht denkbar (vgl. Kap. 3, S. 62 ff.).

      Auch in der Akustik erfolgten ab Mitte des 19. Jahrhunderts wegweisende Endeckungen u. a. durch die grundlegenden Arbeiten des herausragenden Physiologen und Physikers Hermann von Helmholtz (1821–1894), die den gesamten Wissenschaftszweig revolutionierten (Helmholtz 1863). Sehr bedeutsam war in diesem Bereich auch die rasante Entwicklung der Tonübertragung und -aufzeichnung durch die Erfindung des Telefons, des Grammofons sowie die Entwicklung der Mikrofone und der gesamten Aufnahmetechnik. Die überragende Bedeutung dieser Erfindungen für jegliche »Schallkunst« wird auch dadurch unterstrichen, dass Alexander Graham Bell (1847–1922), einer der wichtigsten Persönlichkeiten in diesem Gebiet, die Ehre zu Teil wurde, dass nach ihm die Maßeinheit Dezibel benannt wurde.

      Die Entdeckung der nach ihm benannten Strahlen durch Wilhelm Conrad Röntgen (1845–1923) im Jahr 1895 ermöglichte erstmals Einblicke in den unversehrten Organismus z. B. eines Sängers während des Singens. Radiologische Untersuchungen unter Verwendung von Röntgenstrahlen wurden in stimmphysiologischen Untersuchungen in einem Zeitraum von über 50 Jahren häufig eingesetzt, z.B. von Richard Luchsinger (1900–1993) schon 1949 und von Tom und Mitarbeitern noch 2001 in tomografischen Untersuchungen des Kehlkopfes (Luchsinger 1949; Tom et al. 2001). Mittlerweile ist das Verfahren wegen der möglichen Nebenwirkungen durch die ionisierenden Strahlen in physiologischen Untersuchungen bei Sängern weitgehend von der Magnetresonanztomografie (MRT) (vgl. Kap. 4, S. 74 f.) abgelöst worden (Story et al. 1996).

      In das Jahr 1895 fallen ebenfalls die ersten öffentlichen Filmaufführungen durch die Brüder Max und Emil Skladanowsky in Berlin sowie Auguste und Louis Lumière in Paris. Die Verbindung von Ton und Bild, in ersten Anfängen ca. dreißig Jahre später im sogenannten Tonfilm realisiert, ermöglichte in der Folge die Entwicklung von sehr wertvollen Visualisierungsverfahren für die Stimmforschung und hierbei insbesondere die Dokumentation und Nachvollziehbarkeit von Bewegungsabläufen bei der Stimmproduktion.

      »Worte waren ursprünglich Zauber, und das Wort hat noch heute viel von seiner alten Zauberkraft bewahrt. […] Worte rufen Affekte hervor und sind das allgemeine Mittel zur Beeinflussung der Menschen untereinander.« (Freud 1917, S. 10)

      Schon Charles Darwin (1809–1882) behauptete in seiner 1872 erschienen Schrift »The expression of the emotions in man and animals«:

      »[…] dass die Voreltern des Menschen wahrscheinlich musikalische Töne hervorbrachten, bevor sie das Vermögen der artikulierten Sprache erlangt hatten; und dass demzufolge, wenn die Stimme unter irgendeiner heftigen Erregung gebraucht wird, dieselbe vermöge des Prinzips der Assoziation einen musikalischen Charakter anzunehmen strebt.«2

      Diese »musikalischen Elemente« der Sprache werden auch als Prosodie (von griech. prosodía, »Zugesang, Nebengesang«) bezeichnet (Meyer-Kalkus 2001). In Anlehnung an die Musikpraxis schrieb Friedrich Nietzsche über den Begriff Prosodie spezifischer:

      »Das Verständlichste an der Sprache ist nicht das Wort selber, sondern Ton, Stärke, Modulation, Tempo mit denen eine Reihe von Wörtern gesprochen wird – kurz, die Musik hinter den Worten, die Leidenschaft hinter dieser Musik, die Person hinter dieser Leidenschaft: alles das also, was nicht geschrieben werden kann.« (Nietzsche 1980, S. 89)

      Garcia und seine direkten Nachfolger konnten nur die groben Bewegungen der Stimmlippen beobachten, da die Frequenzen der Stimmlippenschwingungen beim Singen und Sprechen für die Zeitauflösung des menschlichen Auges zu hoch sind: Sie liegen deutlich oberhalb der Flimmerverschmelzungsfrequenz des menschlichen Sehens von etwa 50 Hz. Die Schwingungen liegen in der mittleren Sprechstimmlage des Mannes bei ca. 100–150 Hz, bei Frauen etwa eine Oktave höher bei ca. 200–250 Hz. In der Singstimme ist der Frequenzbereich, den die menschliche Stimme erreichen kann, sehr breit (vgl. Kap. 3, S. 64). Dies spiegelt sich entsprechend in der Gesangsliteratur wider. So schrieb beispielsweise W. A. Mozart (1756–1791) sowohl eine der tiefsten Basspartien – Osmin in der ENTFÜHRUNG AUS DEM SERAIL – als auch eine der höchsten Sopranpartien – Königin der Nacht in der ZAUBERFLÖTE – der Opernliteratur. Wenn der Kammerton beim eingestrichenen a auf 440 Hz festgelegt ist, dann ist der tiefste Ton des Osmin ein großes D = 73 Hz, der höchste Ton der Königin der Nacht ein dreigestrichenes f = 1397 Hz. Wenn also schon die Frequenz dieses tiefen Tones »zu schnell« für das menschliche Auge ist, dann benötigt man zur Visualisierung der Stimmproduktion im Kehlkopf unbedingt eine Technologie zur verlangsamten Darstellung der Schwingungsabläufe.


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