Warum der freie Wille existiert. Christian List
Читать онлайн книгу.Versuch, libertarische und kompatibilistische Vorstellungen des freien Willens zu verbinden, stehe ich ebenfalls nicht alleine. Zu den anderen, die dies versucht haben, wenn auch auf etwas andere Weise, gehören Kadri Vihvelin, die eine Auffassung des freien Willens vertreten hat, die sie „libertarischen Kompatibilismus“ nennt; Helen Beebee und Alfred Mele, die dafür argumentieren, dass eine bestimmte, von David Hume inspirierte Form des Kompatibilismus dem Libertarismus in mancher Hinsicht ähnlich ist; und Bernard Berofsky, ein weiterer Verteidiger eines Kompatibilismus humescher Prägung, der libertarische Intuitionen ernst nimmt.19 Und schließlich liegt mein Ansatz auch mit den Ansichten einiger nichtreduktionistisch gesinnter Physiker auf einer Linie.20
Trotz dieser anderen Arbeiten stellte ich jedes Mal, wenn ich einen Vortrag über Willensfreiheit hielt oder jemand meine Artikel kommentierte, fest, dass man meine Ideen für provokativer und innovativer hielt, als ich dies erwartet hätte. Und so kam ich zu dem Schluss, dass es sich lohnen könnte, meine Ideen in der Form eines Buches zu präsentieren. Es ist in einem eher informellen, weniger technischen und verklausulierten Stil gehalten, in der Hoffnung, dass es für einen interessierten Laien anregend und einigermaßen zugänglich ist.
Kapitel 1
Der freie Wille
Was ist Willensfreiheit?
Willensfreiheit ist zunächst zu verstehen als die Fähigkeit eines Akteurs, seine oder ihre Handlungen zu wählen und zu kontrollieren. Manchmal wird sie auch als „Handlungsfreiheit“ oder „Wahlfreiheit“ bezeichnet, aber ich werde den üblichen Begriff „Willensfreiheit“ verwenden. Der Oxford-Dictionaries-Webseite zufolge ist sie „das Vermögen, ohne den Zwang durch gesetzmäßige Notwendigkeit oder Schicksal zu handeln; die Fähigkeit, nach eigenem Belieben zu handeln“1. Der gesunde Menschenverstand geht davon aus, dass wir als Menschen alle diese Fähigkeit haben. Wenn Sie in ein Café gehen, haben Sie die freie Wahl, eine Art von Getränk (sagen wir Kaffee) statt einer anderen (sagen wir Tee oder Orangensaft) zu bestellen. Ebenso steht es Ihnen frei, wenn Sie heute Abend Zeit dafür haben, das Radio einzuschalten oder dies nicht zu tun. Auch bei einer deutlich wichtigeren Entscheidung, etwa der Wahl des Partners, eines Berufs oder eines Reiseziels, ist zumindest bis zu einem gewissen Grad der freie Wille im Spiel. Bei jedem dieser Beispiele liegt es, zumindest teilweise, in unserer Hand, was wir wählen, und wir hätten anders wählen können. Natürlich unterliegen wir bei unserer Wahl oftmals gewissen Einschränkungen durch die uns zur Verfügung stehenden Mittel und Ressourcen, durch unseren sozialen Kontext, unsere Geschichte und unsere Verpflichtungen. Eine andere Wahl zu treffen wäre möglicherweise schwieriger – oder es wäre so schwierig, dass es gar nicht infrage kommt. Denken Sie an jemanden, der in einem autoritär regierten Land lebt und überlegt, ob er das herrschende Regime kritisieren soll, aber aus Furcht vor Vergeltung davor zurückschreckt. Dessen ungeachtet gibt es in vielen Situationen einen gewissen Spielraum für den freien Willen. Selbst die restriktivsten Lebensumstände lassen uns zumindest in trivialen Fragen freie Wahl: ob wir auf unserer linken oder rechten Seite schlafen, ob wir noch ein paar zusätzlich Schritte gehen oder noch ein Glas Wasser trinken wollen. Aber natürlich würden wir es vorziehen, wenn unsere Freiheit weit über diese trivialen Entscheidungen hinausginge.
Versuchen Sie einmal Folgendes, um ein besseres Gefühl für die Vorstellung von der Willensfreiheit zu bekommen. Führen Sie in ein paar Sekunden eine bestimmte Bewegung aus, sagen wir eine Fingerbewegung oder die eines Beines oder Augenlids. Entscheiden Sie, was für eine Bewegung sie ausführen möchten. Und jetzt tun Sie es. Waren Sie in der Lage, Ihren freien Willen auszuüben? Nun, Folgendes scheint alles der Fall zu sein:
•Sie hatten die Absicht, die Bewegung auszuführen.
•Sie hätten eine andere Bewegung wählen können oder gar keine Bewegung.
•Was Sie taten, unterlag Ihrer Kontrolle.
So trivial dieses kleine Experiment auch scheinen mag, es veranschaulicht doch, was es im Kern mit dem freien Willen auf sich hat. Wie auch andere Philosophen festgestellt haben, kann die Willensfreiheit als eine dreiteilige Fähigkeit verstanden werden.2 Sie besteht in
•der Fähigkeit zu intentionalem Handeln;
•der Fähigkeit, zwischen alternativen Möglichkeiten zu wählen; und
•der Fähigkeit, die eigenen Handlungen zu kontrollieren.
Ich werde diese Bedingungen gleich präziser formulieren. Aber eines können wir bereits feststellen. In unserem täglichen Leben lässt sich die mächtige Intuition nicht unterdrücken, dass wir alle über diese Fähigkeit verfügen. Wenn nicht schwere medizinische und psychologische Beeinträchtigungen vorliegen, ist die von mir beschriebene dreiteilige Fähigkeit von zentraler Bedeutung für unseren Status als Handelnde. Wir haben diese Fähigkeit auch dann, wenn ihre Ausübung bisweilen durch unsere Umgebung eingeschränkt ist.
Psychologische Studien belegen die Robustheit unserer Intuitionen bezüglich der Willensfreiheit. Eine neuere Studie fand heraus, dass bereits vier- bis sechsjährige Kinder Intuitionen haben, die denen von Erwachsenen ähnlich sind. Im Alter von vier Jahren erkennen sie ihre eigene Fähigkeit wie auch die Fähigkeit anderer, in Abwesenheit bestimmter physischer Einschränkungen zwischen alternativen Möglichkeiten zu wählen; das heißt, wenn sie eine bestimmte Handlung wählen, hätten sie auch eine andere wählen können. Im Alter von sechs Jahren erkennen sie sogar die Freiheit einer Person, entgegen den von ihr selbst bekundeten Wünschen zu handeln.3
Obgleich die Intuitionen zur Willensfreiheit bei Erwachsenen nicht immer stimmig sind4, deutet manches darauf hin, dass unser gewöhnliches Verständnis des freien Willens teilweise auch von anderen Kulturen geteilt wird. In einer Untersuchung mit Teilnehmern aus Kolumbien, Hong Kong, Indien und den Vereinigten Staaten äußerte die Mehrzahl von ihnen Intuitionen, die mehr oder weniger mit dem übereinstimmen, was die Philosophen ein „libertarisches“ Verständnis des freien Willens nennen.5 Der Libertarismus ist die Ansicht, dass Willensfreiheit alternative Handlungsmöglichkeiten erfordert und dass die Welt diese alternativen Möglichkeiten tatsächlich bereitstellt: Wir haben eine echte Wahl. Eine andere Studie ist noch nuancierter. Sie zeigt, dass Kinder im Vorschulalter sowohl in den Vereinigten Staaten als auch in Nepal die Existenz der Wahlfreiheit anerkennen, nepalesische Kinder aber im Vergleich zu amerikanischen der Ansicht sind, dass soziale Verpflichtungen die Handlungsmöglichkeiten stärker einschränken. Nadia Chernyak und ihre Kollegen kommen zu dem Schluss, dass „die grundlegenden Vorstellungen von freier Wahl universell gegeben sind“, aber dass „das Bewusstsein sozialer Verpflichtungen als Einschränkungen des Handelns möglicherweise der Effekt kulturellen Lernens ist“.6
Unterm Strich ist das Bild des menschlichen Akteurs als eines frei Wählenden, der Kontrolle über seine oder ihre Handlungen ausübt, ebenso geläufig wie tief verwurzelt in unserem Denken.7
Was hängt von der Willensfreiheit ab?
Der freie Wille ist eine wesentliche Voraussetzung unseres praktischen Überlegens und Entscheidens und gehört zum Kern unseres Selbstverständnisses als Handelnde. Es wäre problematisch, uns ernsthaft zu fragen: „Was soll ich tun?“, ohne dabei vorauszusetzen, dass wir frei wählen können. Wenn man verschiedene Handlungsweisen gegeneinander abwägt, muss man jede von ihnen als eine reale Möglichkeit betrachten, die man tatsächlich verfolgen könnte. Andernfalls wäre unsere Überlegung sinnlos, da es nicht wirklich in unserer Hand läge, so oder anders zu handeln. So dachte auch Kant, dass wir einen freien Willen voraussetzen müssen, um uns als rationale und moralische Wesen verstehen zu können. Freiheit muss „als Eigenschaft des Willens aller vernünftiger Wesen“ vorausgesetzt werden. Die Vernunft „muss sich selbst als Urheberin ihrer Prinzipien ansehen, unabhängig von fremden Einflüssen, folglich muss sie als praktische Vernunft, oder als Wille eines vernünftigen Wesens, von ihr selbst als frei angesehen werden“.8
Der freie Wille steht auch im Zentrum unserer Praxis der gegenseitigen Zuschreibung von Verantwortung in der Moral und im Recht. Für das, was Menschen nicht aus freiem Willen getan haben, loben und tadeln wir sie gewöhnlich nicht. Und wir glauben auch nicht, dass ihre Einwilligung,