Vicky Victory. Barbara Sichtermann

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Vicky Victory - Barbara Sichtermann


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außer dass ich das erste Mal nach sieben Jahren wieder in den Osten kam. Viel hatte sich nicht verändert, nur die ganz natürliche Verwitterung, welche die Jahre an Häusermauern, Straßenbahnen und Laternenpfählen hinterlassen, die konnte ich sehen. Und dass es gar nichts Neues gab, keine frischen Scheiben am Eckhaus neben meiner alten S-Bahn-Station, stattdessen Westklebeband entlang der Sprünge, keinen neuen Briefkasten vor dem Konsum gegenüber, stattdessen war der alte, schief hängende einfach abmontiert worden und den Pfosten hatte man stehen lassen wie ein Menetekel; kein buntes Pflaster auf den Bürgersteigen wie überall im Westen, nur Matsch oder Teer in den Löchern. So kannte ich sie, meine Hauptstadt: in ihren Hinterhöfen, ach, was sag ich, auch in ihren Vorderhäusern nie saniert, nicht mal richtig repariert, nur geflickt, gestückelt, notdürftig abgestützt, und wo man hätte mauern, schrauben und schweißen müssen, da klebte man: mit Eiweiß und Spucke.

      Ich bin dort großgeworden, in der Cecilienstraße, unter der Obhut meines Opas. Er erzählte mir einst, wie sehr er gefürchtet habe, dass seine Straße, nach einer Heiligen getauft, das Schicksal so mancher Straßenschwester teilen müsste und nach einem sozialistischen Heros umbenannt würde. Aber in der zuständigen Behörde hatte man die Cecilienstraße wohl vergessen, und sie blieb, was sie war - ganz wie mein Großvater. Seine Ahnen waren einst aus Polen zugewandert, er selbst war der Urtyp des toleranten Katholiken, vor dem Krieg als Lehrer für alte Sprachen tätig und in jeder Beziehung untauglich für das sozialisti­sche Experiment an lebenden Menschen. Auch die Nazis hatten ihn nicht zu keilen vermocht, obwohl er damals ja noch jung genug gewesen wäre, um sich anzupassen. Doch nein, mein Opa blieb in seiner antiken Wunderwelt mit ihren polymorphen Göttern wohnen; es kostete ihn gerade genug Anstrengung, diese Treue mit seinem christlichen Glauben zu vereinbaren, was auch nie ganz gelang. In der DDR durfte er Lateinkurse für Archäologie-Studenten ge­ben, und wenn ich nicht selbst ein ferngelenkter Stasi-Spitzel war, so hat die »Firma« meinen antisozialistischen Großvater genauso übersehen wie der Bezirksrat die Cecilienstraße. Wahrscheinlich hat man den Dr. phil. Marenge unter »ungefährliche Sonderlinge« abgeheftet - was zu­mindest hinsichtlich des Einflusses, den der alte Herr auf seinen Enkel ausgeübt hat, ein Irrtum war.

      Lange zögerte ich am Friedhofstor. An den feinen Strohduft der Winterastern erinnere ich mich noch immer. Endlich fasste ich mir ein Herz und ging auf mich selbst als ein gekrümmtes, schluchzendes Etwas zu - ich wusste, dass es mit mir dahin kommen würde, wenn ich erst mal am Grab von Joseph Marenge stand.

      Dauert es über halb sieben hinaus, bis eine Supermarkt-Kassiererin ihren Arbeitsplatz verlassen hat? So'n Mäd­chen braucht doch seinen Feierabend. Was machen die mit ihr da drin? Ob der Lagerverwalter sie in der Damentoilet­te bumst? Nein, der wäre nicht ihr Typ, viel zu dusselig und aufgeblasen. Da! Dahinten geht sie doch, Mensch Igor, blinde Flasche; hinterher! Nee was, das war sie nicht, stop, Fehlanzeige. Aber dieses Trüppchen, das aus der Durchfahrt kommt, da müsste sie drunter sein, Guten Abend! - So was Blödes, wieder nichts. Die Kleine aber da, die könnte ’ne Kollegin sein, ob ich die einfach Frage? Oje, das Mädel steuert schon auf ’ne Karosse zu, steigt ein, surrt ab. Genaugenommen ist sie’s nicht gewesen, denn Loreleys Kollegin, die kleine Dunkle mit dem schiefen Rücken, die ist richtig winzig, und sie geht anders, trippelt wie ein Spatz. Mist. Entweder ist die gesamte Minipreis-Belegschaft an mir vorbeigeschoben, und ich hab’s nicht mitgekriegt, oder sie hat sich in Luft aufgelöst. Jetzt ist es zwanzig vor sieben, und der Minipreis sieht so finster und verlassen aus wie die geschlossene Tankstelle im amerikanischen Road-Movie. Brechen wir die Belagerung ab. Morgen ist auch noch ein Tag mit normalen Öffnungszeiten.

      ☆

      Und nun? Ohne ein Pfand, ein Wort, ein Lächeln von ihr, ohne den Funken einer Hoffnung, dass Loreley mit mir ausgehen wird, mag ich nicht heimwärts ziehen. Also gut, noch nicht in die Heinrichstraße, sondern in die Dämme­rung: in die Kögelstraße, die Sieglindenstraße, die Galvanistraße. Geschlossen stehen hier die Häuser Spalier und drohen den Unbefugten. Wie nah und unzugänglich sie sind, die schwarzen Verliese. Da leuchtet ein Fenster auf, es spreizt sich ein Schatten hinter’m Vorhang, und es er­lischt eine Treppenhausbeleuchtung - viermal synchron hinter Milchglasscheiben. Ja, da leben sie, meine Berliner, in ihren mit Ketten und Stangen gesicherten Burgen, da tun sie Dinge, von denen ich nichts wissen darf. Schon bald machen sie ihre Lampen aus und träumen Träume, die ich nie kennen werde, nicht mal, wenn das Totalmodell mit Menschen funktionieren würde. Sie zappeln als Opfer hässlicher Verstrickungen und würden staunend ihre dicken Köpfe schütteln, wenn sie wüssten, wie sehr sie mich herausfordern. Sie gähnen, kichern, trinken, telefonieren, planen Familienfeste, - Morde und andere Ausschweifun­gen, ohne mich ins Vertrauen zu ziehen - und das millio­nenfach. Nicht auszudenken, und wenn ich’s bedenke, tritt mir der Schweiß auf die Stirn.

      Hab schon überlegt, ob es nicht klug wäre, in eins der jetzt wieder erreichbaren brandenburgischen Weiler zu flüchten und unter Nachbarn zu leben, deren Zeitvertreib und Albträume mir bald so geläufig sein würden wie meine eigenen. Aber ich werd es nicht tun. Was käme schon dabei heraus, als die Erkenntnis, dass es sich nicht lohnt zu wis­sen, was hinter den Fenstern passiert und hinter den Stir­nen brütet. Der Reiz der großen Stadt, er ist die bloße Vorspiegelung eines Geheimnisses, das diesen Haufen Menschen und Material zusammenhält und von den trutzigen Fassaden des Häusermassivs gehütet wird wie der Schlüssel zum ewigen Leben. In Wahrheit ist gar nichts dahinter. Aber der Schein ist schön.

      Auch ich falle drauf rein. Es nützt nichts, dass ich es bes­ser weiß. Ich verzehre mich nach dem Schatten dort im vier­ten Stock. Wer ist der Kerl, der hinter der Gardine auf und ab geht? Ein Sohn, der sich mit seiner Mutter zankt? Ein Vater, der sein Gör zusammenstaucht? Ein Angestellter, der in Gedanken mit seinem Chef anstößt? Oder eine Frau? Die Umrisse sind zu grob, es lässt sich nicht mehr sagen als: ein Mensch. Und diese Ungewissheit macht mich fertig.

      Warum gehe ich nicht hinauf in den vierten Stock der Galvanistraße Nr. 22, klingele auf der linken Seite und stelle den Bewohner zur Rede:

      »Ihre Papiere bitte. Ihren Lebenslauf, Ihre Lebenslage, Ihren Lebensplan. Glauben Sie, ich lasse mich mit Ihren Umrissen abspeisen? Ich weiß, dass Sie eine Infamie ver­bergen. Würden Sie sonst solche Schattenspiele mit mir treiben? Heraus mit der Sprache!«

      Und wenn es eine Frau ist? Was werde ich ihr sagen?

      »Gestatten Sie, Marenge ist meine Name, ich komme vom Statistischen Landesamt, wir machen eine Umfrage.«

      »Was für eine Umfrage?«

      »Uns interessiert Ihre Lebenslüge.«

      »Wie bitte?«

      »68 Prozent aller Stadtbewohner überwinden ihre Selbstwertkrisen nur dank einer an Größenwahn grenzen­den Selbstüberschätzung, einer riskanten Täuschung über ihre miserable Position im sozialen Wettbewerb, wobei der Alkohol …«

      »Ach rutschen Sie mir doch den Buckel runter.«

      Rrrums. So wird die Tür zufallen. Und wenn schon. Was ein echter Jäger ist, ein Schicksals-, Verstrickungs- und Verhängnisjäger, der lässt sich nicht aufhalten. Mit den Fäusten werde ich gegen ihre Tür trommeln, werde die Briefschlitzklappe hochdrücken und hindurchbrüllen: »Fliehen ist zwecklos! Mir entkommt keiner!«

      Ob das Eindruck macht? Kaum. Die Frau geht zum Te­lefon und ruft die Polizei. Doch hab ich keine Angst vor der irdischen Gewalt. Wenn die mich schnappt, spiele ich den Idioten und sage die Wahrheit. Hauptsache, ich wirke harmlos.

      »Wissen Sie, Herr Wachtmeister, ich kann nichts dage­gen tun. Ich gehe abends durch die Straßen, ich sehe, wie die Leute ihre Vorhänge zuziehen, das Licht oder den Fernseher einschalten und Schatten gegen die Gardinen werfen. Dann überkommt es mich. Ich ahne, dass sie alle von schwärzesten Kümmernissen niedergedrückt und von irrwitzigen Hoffnungen erfüllt sind, und sie tun mir leid, so leid, dass ich nicht anders kann, als hingehen und ihnen mein Mitgefühl …«

      »Frau Rosinski meldet, Sie hätten sich unter dem Vor­wand, eine statistische Erhebung durchführen zu müssen, Eingang in ihre Wohnung und Informationen über ihr Pri­vatleben verschaffen wollen.«

      »Würden Sie es denn nicht versuchen bei einem so at­traktiven Kind wie der


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