Vicky Victory. Barbara Sichtermann

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Vicky Victory - Barbara Sichtermann


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die Stimme kenn ich und auch die Gestalt. Das ist doch Juni! Wo kommt der plötzlich her? Richtig, da vorne zweigt die Kögelstraße ab, wo er zuhause ist; er hat jetzt Feierabend, seine Augen funkeln. Er bleibt vor mir stehen, hakt die Daumen in den Gürtel und rollt die Schultern.

      »Was treibst du hier? Hast du endlich die Kleine am Haken?« Und er streckt den Unterkiefer vor, als wolle er mich aus lauter Freude über dieses unverhoffte Treffen beißen.

      »Eben nicht«, gestehe ich. »Das is det Elend.« Juni ist einer meiner besten Kumpels. Er ist Kfz-Mechaniker und Türke und heißt eigentlich anders, aber sein wahrer Name ist so schwer auszusprechen, dass sich Juni als eine Art Ber­liner Version durchgesetzt hat. Sogar seine Mutter nennt ihn so.

      Ich hab nur wenige Geheimnisse vor Juni. Also weiß er auch, dass ich seit Längerem davon träume, die Kassiererin unseres Supermarkts anzusprechen und möglichst gleich danach auszuführen. Und er wünscht, über die Entwick­lung auf dem Laufenden gehalten zu werden.

      »Was haste schon wieder vermasselt?« fragt er teilnahmsvoll.

      »Nix. So um sechs ging ich zum ›Minipreis‹ runter und bezog Posten. Kurz nach Ladenschluss muss sie ja raus­kommen, dachte ich.«

      »Logisch.«

      »Schön wär’s. Sie ist gar nicht erst aufgetaucht.«

      »Halt mal. Der ›Minipreis‹ Ecke Clausthaler Straße? Is doch so’n großer Klotz. Wahrscheinlich gibt’s ’n Hinteraus­gang.«

      »Scheiße.«

      Dabei liegt’s auf der Hand. Wenn man sich bis zur Fleischtheke vorgekämpft hat, steht man praktisch an der Darwinstraße. Und hinter der Fleischtheke gibt’s die gro­ßen Glastüren, die führen zu den Büros, und dahinter geht es raus zum Hof, wo die Waren geliefert werden. Völlig klar. Wer in diesem Laden arbeitet, betritt und verlässt ihn hinten rum. Und ich steh mir vorn am Kundeneingang die Beine in den Bauch!

      Juni wiegt sein Haupt, wohlgelaunt, weil er es besser gemacht hätte, und fasst mich am Jackenknopf. Ich ärgere mich eine Spur und behaupte:

      »Wenn du in die Rosinski verknallt wärst, hättest du auch vorne gewartet.«

      »Was?«

      »Ja, die Süße hätte dir den Kopf so verdreht, dass du gar nicht den Verstand zusammengebracht hättest, dir den La­den als Block vorzustellen … Wer auf solche Ideen kommt, ist noch nicht restlos geliefert.«

      »Ach du Scheiße.«

      »Wer verliebt ist, denkt nicht wie ein Häusermakler. Er hat den Kopf voller heißer Bilder …«

      »So wie du, hm? Hör zu, Mann, wenn du nur halb soviel Hirnschmalz locker machen würdest, um Fehler zu ver­meiden, wie um dich rauszureden, wenn’s schiefgelaufen ist, dann würdeste nur halb so viele Fehler machen und ’n Haufen Kraft sparen, um vorher nachzudenken und noch weniger Fehler zu machen. Nettogewinn: satte zweihun­dert Prozent!«

      »Spiel’n wir heute bei Bella?« frage ich versöhnlich. Er rollt die Schultern und fasst mich noch einmal am Jacken­knopf.

      »Ich mach die Nacht ’ne Tour. Wie sieht’s aus - kommste mit? Wär’n Job für dich dabei.«

      »Was liegt denn an?«

      »Ich muss ’n Tschaika-Wrack bergen, drüben im Osten, in Niederschönhausen.«

      »Tschaika?«

      »’N Bonzenauto aus den Sechzigern.«

      »Die gibt’s doch schon lange nicht mehr.«

      »Ich sag doch: ’n Wrack.«

      »Und wozu?«

      »Ich renovier die Kutsche für’n Sammler. Is heiß ge­fragt.«

      »Au warte.«

      »Was is? Interessiert?«

      »Okay.«

      »Also: zehn Uhr? Ich hol dich ab.«

      Er schnalzt mit der Zunge und macht mir ein Victory-Zeichen. Sein schwarzer Kopf rollt in den Nacken, als er davonschlendert. Es dämmert. Und Schwälle von Dunkel­heit stürzen manchmal nieder, als habe im Himmel je­mand den Hahn aufgedreht. So ein Schwall ergießt sich über Juni und schluckt ihn auf, noch bevor er die Ecke erreicht haben kann.

      ☆

      »Du musst beruflich Gestalt annehmen«, sagt Juni gern zu mir. »Das geht doch nicht so weiter.«

      »Ich hab schon nen Beruf. Ich bin Jäger.«

      »Du bist ein Penner, ein Niemand, du lebst auf Pump.«

      »Ich jage Evelyn Rosinski, die schönste Kassiererin aller 672 Supermärkte Berlins.«

      Mit Juni kann ich über alles reden, sogar über mein Berlin-Modell. Er ist ein erfinderischer Zeitgenosse mit erstaunlichen Eingebungen. Als ich ihm erklärt hatte, wozu

      ich das Totalmodell brauche, stieß er einen Pfiff aus und sagte:

      »Das Geheimnis von Berlin liegt nicht hinter Häuser­mauern, Igor, das liegt unterm Straßenpflaster.«

      »Hä?«

      »Den Baukasten kannste vergessen. Die Bausubstanz ist marode, die Leute sind beknackt. Aber der Untergrund hat’s in sich. Hätt ich ’n Wunsch frei, würd ich ’n Trichter bauen lassen in die Unterwelt … zwei, drei, fünf Meter … senkrecht in den Dreck!«

      »Du würdest auf die Kanalisation stoßen, Junge, und auf die U-Bahn-Schächte.«

      »Geheimgänge, Mann, unterirdische Agententunnel. Wo hatte der Senat von Berlin die Rationen für den Ernst­fall gebunkert, na? Geheime Keller, sag ich dir, Tresore mit Plänen, Gräber, Schätze. Der Kronschatz des Kaiser­reichs, der Kunstschatz des Dritten Reichs, der Gold­schatz von Troja, Millionen aus Bankeinbrüchen, Silber­barren, vergrabene Juwelen, von Juden auf der Flucht vor Hitler noch schnell unters Pflaster gedrückt oder von alten Mütterchen vor den Russen in Sicherheit gebracht - alles, alles, ist da unten angesammelt und will gehoben werden. Gib mir ’ne Schaufel, Mann, und ich mach uns beide reich!«

      Juni ist ein Kumpel, der viel an andre denkt und nicht gern allein arbeitet. In seiner Werkstatt beschäftigt er ei­nen Schwager, einen Neffen und einen alten Schulfreund. Wenn ich abgebrannt bin, gehe ich zu Juni, und der kriecht unter einem silbergrauen Mercedes hervor, reckt sich, wetzt die Hände an seinem Overall und geht mit mir nach hinten ins Büro, wo die Kasse neben einem verlassenen Hundekorb in der Ecke wartet.

      »Wann geht's los mit Graben, Igor?« fragte er mich gestern, und ich sagte: »Gib mir zweihundert.« Und: »Jetzt taufen sie den ganzen Osten um. Mit Otto-Grotewohl-Straße isses nix mehr, Ernst-Thälmann-Allee wird auch abgemeldet, und wie ­viele Karl-Marx-Straßen die Post verkraftet, bevor die Zustellung im Chaos versackt, das rechnen die Computer grade aus.«

      Juni schlug vor, die abmontierten Straßenschilder einzusammeln, ein paar Jahre zu lagern und dann als Kunst- oder Kultgegenstände, ganz wie die Brocken der Mauer, auf Flohmärkten oder besser noch vor den Toren einer re­gulären Messe zu versilbern.

      »Was kriegen wir in sieben Jahren für einmal Wilhelm-Pieck, was meinste?« fragte er. »Die Leute stecken sich so was hintern Spiegel, hier, die Fahrer von solchen Autos« - er zeigte mit dem Kopf auf den Mercedes - »sind Leute mit Humor, die nageln sich den Lenin-Platz über ihr Gästeklo.«

      Während Juni sich drüber hinwegsetzt, nehme ich prak­tische Schwierigkeiten ernst. Diese Südländer und ihr Ver­trauen ins Glück!

      »Wie willste das anstellen?« fragte ich. - »Warten, bis die Stadt Arbeiter schickt, die so’n Ding abschrauben und dann zugreifen?«

      »Ach was, gleich jetzt im Blaumann hin und selbst den Arbeiter machen. Wir helfen mit, dass diese Stadt zusam­menwächst, wir tun ein gutes Werk. Man müsste die Stalin-Allee-Schilder ausgraben, von anno dazumal, die wür­den heute was bringen. Oder ›Walter-Ulbricht-Haus‹.


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