Vicky Victory. Barbara Sichtermann

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Vicky Victory - Barbara Sichtermann


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Junis Augen spielt das Leben auf einer Halde ver­senkter Kostbarkeiten, ob das nun Kisten mit antiken Du­blonen oder Tresore mit Formeln für des Führers Geheim­waffe sind. Seine Füße fühlen den Reichtum der Erde beim Gehen. Sie reagieren wie: Wünschelruten; dann springt der Kerl in die Höhe, stößt mich in die Seite und verlangt Kreide, um den Ort zu markieren.

      ☆

      Am Ende der Galvanistraße ragt ein mächtiges vierstöcki­ges Haus mit einem löwenkopfgeschmückten Portal und Balkonen samt bauchiger Brüstung aus Schmiedeeisen auf. Es atmet schwer, dieses Haus, unter schwärzlichem Rauputz, es gibt mir mit seinen glühenden Fenstern ver­stohlene Winke, Anspielungen auf das hinter ihnen sum­mende, Schatten werfende Leben, mir verborgen, aber nah und ahnbar, hiesig und jetzig. Wie komme ich dahinter, wie kriege ich es zu fassen? Ich muss hinein, muss mitten hinein.

      Klingle ich im vierten Stock dieses Hauses, wo, wie ich hier auf dem Klingelschild lese, keine Rosinski wohnt, sondern ein gewisser Wille oder auch Witte, sagen wir eine Familie Witte, klingle ich also bei Wittes und erreiche es wider alle Wahrscheinlichkeit, zum Abendessen eingela­den zu werden, so bringt mich das nicht weiter. Herr Witte ist in der Verwaltung der Berliner Elektrizitäts-Werke be­schäftigt und momentan wegen eines Leberleidens zur Kur. Frau Witte ist ausgebildete Krankenschwester, länger schon als Hausfrau unterfordert, doch mit der Pflege eines Kleingartens an der Havel redlich in Anspruch genommen. Die elfjährigen Zwillinge gehen in die fünfte Klasse, spie­len Handball und züchten Lurche im Bassin. Soweit die Fassade. Dahinter die ganz normalen Geheimnisse. Vater Witte ist statt zur Kur mit der Schankhilfe seiner Stamm­kneipe auf Rügen; Mutter Witte zweigt vom Haushalts­geld seit Jahren satte Summen ab, um diese einer religiö­sen Sekte und insbesondere deren autoritativem Guru zukommen zu lassen, und die Zwillinge rauchen im Keller. Ist jemand beeindruckt? Na bitte. Das kann doch wohl die Aufregung nicht wert gewesen sein.

      Ich suche etwas anderes. Das Leben hinter rauver­putzten Ziegeln, gelben Fenstern und lackschwarzen Bal­kongittern, die Schicksalsverschlingungen von Millionen, sie bilden, sublimiert zu Seufzern und Schluchzern, zu Furcht, Horror und Jubel, einen Niederschlag an Scheiben und Wänden, in den Hausfluren und auf den Treppenge­ländern, der an warmen Tagen zu einer dunklen, bröseligen Schicht trocknet, sodann durch Türen und Fenster hinaus geweht wird und, vermengt mit dem Staub der Straße, als graues Pulver durch die Luft stiebt. Das ist es: das Pulver des Lebens, des Treibens, des Wandels und Sehnens, Derivat der millionenfach hoffenden, irrenden, sich schämenden und sich vergessenden, ausspuckenden und wegguckenden Menschheit. Das möchte ich finden und untersuchen wie ein Chemiker, es als Prise zwischen zwei Fingern halten, daran riechen und es mit der Zunge kosten. Wie wird es schmecken? Salzig vermutlich oder hitzig-dumpf wie Großwäscherei. Können mir die Wittes so was bieten? Nein. Das banale Berliner Kleinbürgerleben ohne Konzentration, ohne kristalline Dichte und Härte, das ist nicht gemeint. Ich pfeife auf die Wittes, auf ihre Schatten, ihre Pelargonien und ihr vermaledeites Aquari­um. Was ich im Sinn und im Visier habe, ist nicht das Le­ben als Einzelfall, sondern als Quintessenz.

      ☆

      Meine Suche nach der pulverisierten Lebensfülle ist so alt wie ich selbst, Igor Marenge, ein begabter, aber arbeitsloser Übersetzer, ein junger Philosoph ohne Geld und Einfluss, doch mit einer Menge innerer Vermögenswerte. Ich ging auf diese Suche, als ich anfing zu atmen, ich glaubte, bald etwas zu finden, solange ich noch Gräser presste, Briefmar­ken sammelte, fremdländische Geldstücke in einer Keks­dose hortete und nicht wusste, was das Wort »prophylak­tisch« bedeutet. Später, als ich dieses und andere längere Wörter verstand, war ich enttäuscht, wie wenig mir das neue Wissen einbrachte, und ich arbeitete mit wachsender Skepsis an der Komplettierung meines Herbariums, mei­ner Briefmarkensammlung und meines Münzschatzes. War nicht, so schwante mir, am Ende alles umsonst, ein armse­liger Zeitvertreib ohne Hintertür in jenen Zustand der Gna­de hinein, der die Augen sehend macht für das graue Pulver und die Zunge empfindlich für sein Salz? Betrogen war ich, ein armer Idiot, der gesammelt und gepresst hatte ohne Sinn, ohne Aussicht auf die Offenbarung, die mir, ich erin­nere mich gut, bei meinem ersten Atemzug versprochen worden war. An normalen Werktagen vergesse ich das alles. Aber im September, wenn die Stadt zu früh eindunkelt, weil die Sommerzeit zu Ende ist und die Uhren eine Stun­de vorgestellt werden, kommen die Urwünsche wieder, und ich verstehe nicht, warum ich jemals einwilligen und den Anspruch auf die Quintessenz verloren geben konnte. Zugleich ist mir vollkommen bewusst, dass ich niemals an das Pulver herankommen werde, den Schnee der Stadt, das große Menschensalz. Ich werde es niemals als Prise zwischen zwei Fingern halten, es einatmen, schnupfen, auf meinem Handteller verreiben oder es mir auf die Zunge streuen. Das bleibt ein Traum, ein Irrwahn dieser Jahreszeit. Septembernächte sind dazu da, uns mensch­liche Kriechtiere mit Hybris zu vergiften, und wir halten die schütteren Platanen der Galvanistraße für Bäume der Erkenntnis, trauen ihnen alle Wunder zu und lauschen auf ihr Blätterspiel.

      ☆

      Um Punkt zehn Uhr stürme ich aus meiner Wohnung, wer­fe mich über das Treppengeländer und rutsche, mich zwi­schendurch an den linoleumbezogenen Stufen abstoßend, vom vierten Stock bis ins Parterre. Ich durchquere den Hof und das Vorderhaus und öffne erwartungsvoll meine gewaltige, schwärzliche, knarzende Haustür. In der Hein­richstraße gibt es keine Parkplätze. Juni wartet immer in der zweiten Reihe. Da ist er schon in seinem weißen Golf. Er winkt vergnügt.

      »Steig ein, du feiger Hund. - Wie viel schuldest du mir mittlerweile?«

      »Lenk nicht ab, Freund. Wir haben meine Gage noch nicht ausgehandelt. Was ist für mich drin?«

      »’N Hunni. Ich zieh ihn dir von den zweihundert ab, die du …«

      »Nix da, ich hab Ziel bis Sonntag.«

      »Auch gut. Also bar.«

      »Heute noch?«

      »Logisch.«

      Juni fährt sachte an und zieht dann seine frisierte Kiste mörderisch in die Hohe.

      »He, bist du toll? Das hier ist Moabit und nicht der Nürburgring.«

      Juni kichert und lässt den Wagen ausrollen.

      »Wollte nur mal wieder den Schisshasen aus dir raus kitzeln«, grient er. - »Weeßte, dass du komisch kiekst, wenn­de Angst hast?«

      »Ja, weiß ich. Wie illegal ist der Coup?«

      »Überhaupt nicht illegal. Wir helfen der Polizei. Die muss den Tschaika irgendwann sowieso aus’m Verkehr ziehn. Steht ohne Zulassung auf der Straße rum, die Kutsche.«

      »Na dann. Und wem gehört sie?«

      »Einem Ex-Bonzen. Der hat sie 25 Jahre in seiner Ga­rage versteckt gehalten wie ’ne geraubte Prinzessin. Er hat sie bloß geliebt, nie gefahren. Ist um sie rumgetanzt und hat sie mit Rostschutzmitteln eingerieben. Ein Irrer.«

      »Garage? Rostschutzmittel? Du sagtest doch - Wrack

      »Naja, ’n gut erhaltenes Wrack. - Der Bonze ist übrigens nach Schweden abgehauen. Und seinen heiligen Tschaika lässt er auf der Straße verrecken. Da sieht man mal wieder, was beim Sozialismus herauskommt: nix als Unmensch­lichkeit.«

      »Puh.«

      »Wie lange bist du eigentlich im Westen, Igor?«

      »Neun Jahre.«

      »Da könntest du dir’s praktisch aussuchen, ob du Ossi oder Wessi sein willst …«

      »Pfffhh …«

      »Und was nimmste?«

      Nimmste! Als ob man da frei wäre! Noch im Frühjahr 1989 fühlte ich mich als vollgültiger Westberliner, obwohl erst sieben Jahre dabei. Jetzt, wo die Mauer weg ist, ruft mich Friedrichshain. Im Traum erscheint mir der schiefe „ Laternenpfahl vor unserem Haus.

      »He, von wem weißt du das alles, das mit dem Bonzen und seinem Tschaika?«

      »Von meinem Auftraggeber. Der is ’n höheres Tier in der Politik und hat ’ne Schwäche für Oldies. Er wollte den Ex-Bonzen auskaufen, aber da war der schon in Malmö. Hüüi - verdammt!!«


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