Große Errungenschaften der Antike. Holger Sonnabend
Читать онлайн книгу.ist, obwohl er sich in der Sparte der Heiztechnik unsterbliche Verdienste erworben hat.
Wenn also bei dem Personal notwendigerweise eine Auswahl zu treffen war, so könnte man eine ganze Gruppe vermissen, die eigentlich in einer Parade kreativer Geister der Antike nicht fehlen sollte. Der Fischzüchter und Heiztechniker Orata ist vertreten, aber was ist mit Prometheus, mit Daidalos und Ikaros, mit Odysseus? Auch Prometheus machte sich um das Allgemeinwohl verdient, als er den Göttern das Feuer stahl und es den Menschen schenkte. Ohne ihn hätten die antiken Menschen also nie heizen, kochen und für Licht sorgen können. Für seinen Diebstahl wurde er von dem erbosten Zeus zur Strafe an einen Felsen im Kaukasus gefesselt, und zu allem Überfluss fraß ein Adler täglich an seiner Leber, die daraufhin immer wieder nachwuchs. Befreit wurde er endlich vom Helden Herakles. Und Ikaros? Er machte den Traum vom Fliegen wahr, weil er das Glück hatte, über einen sehr patenten Vater zu verfügen. Jener Daidalos, der Prototyp des antiken Erfinders, baute als erster Statuen, die sich automatisch bewegten. Er konstruierte auch das berühmte Labyrinth im Palast von Knossos auf Kreta. Der König Minos zeigte sich allerdings wenig dankbar und setzte ihn dort gefangen. Da stellte Daidalos für sich und seinen Sohn Flügel her, deren Federn er mit Wachs zusammenklebte, und mit deren Hilfe erhoben sie sich in die Lüfte. Dem unbesonnenen Ikaros wurden aber gleich die Grenzen antiker Luftfahrt aufgezeigt: In seinem Übermut kam er zu nahe an die Sonne heran, da schmolz das Wachs, und Ikaros stürzte hinab ins Meer. Daidalos wenigstens glückte die Flucht, und er konnte nach Sizilien entkommen. Schließlich Odysseus, der griechische Trojaheld, »listenreich«, wie ihn Homer zu bezeichnen pflegt und unsterblich geworden als Architekt des »Trojanischen Pferdes«, das es den Griechen ermöglichte, Troja zu stürmen – darf er keinen Platz in der Reihe prominenter Protagonisten antiker Wissenschaft beanspruchen?
Aber das sind alles Figuren des Mythos – zumindest sind Zweifel angebracht, ob es einen Prometheus, einen Daidalos, einen Ikaros, einen Odysseus wirklich gegeben hat. Und doch zeugen diese von antiken Menschen produzierten Mythen von einem sehr realen Interesse daran, etwas Neues zu schaffen, Herausforderungen anzunehmen, die Welt zu verändern, die eigenen Grenzen zu überschreiten, die Natur in den Griff zu bekommen oder gar zu überlisten. Wie das in der Wirklichkeit funktioniert hat, soll der folgende, chronologisch angelegte Streifzug durch über 600 Jahre antike Geschichte zeigen.
MATHEMATIK
Thales
Griechischer Naturwissenschaftler, um 625 – um 547 v. Chr.
Pionierleistung: der »Satz des Thales«
Es gibt viele Persönlichkeiten der Antike, die man heute nicht mehr unbedingt kennen muss. Andere sollten einem schon etwas sagen, will man nicht in den Verdacht geraten, bei seinen Bemühungen um eine gediegene Allgemeinbildung Wesentliches versäumt zu haben. Dann aber gibt es glücklicherweise Namen, an denen man einfach nicht vorbeikommt, weil sie sich einem geradezu aufdrängen. Zu diesem illustren Kreis gehört zweifellos auch Thales, dessen berühmter, nach ihm benannter »Satz« fester Bestandteil eines jeden Mathematik-Unterrichts ist.
Thales – ein Phantom?
Wer aber war dieser Thales? Forscht man in den antiken Quellen nach gesicherten Informationen über sein Leben und sein Wirken, so ergibt sich ein höchst diffuses Bild. Zu unterschiedlich sind die wissenschaftlichen Großtaten, die man ihm zuschreibt, als dass man all diesen Nachrichten Glauben schenken mag. Thales als Pionier der Philosophie, Meister der Astronomie, Protagonist der Geometrie, Kenner der Meteorologie, Experte der Geographie, nebenbei auch noch Fachmann für Politik und Diplomatie – das scheint, bei allem Respekt vor antiken Forschungsleistungen, doch des Guten etwas zu viel zu sein. Und dann die vielen Anekdoten, die über ihn kursierten, die ihn einmal als weltfremden Sonderling, dann wieder als patenten, marktorientierten Kapitalisten porträtieren: Gehören diese Facetten tatsächlich zu ein und derselben Persönlichkeit? Oder ist dieser Thales am Ende nur ein Phantom, eine Chiffre für Leistungen, die in Wirklichkeit ganz andere erbracht haben?
Auf der Suche nach dem historischen Thales
Zur Beruhigung sei versichert: Die Bücher zur europäischen Wissenschaftsgeschichte müssen nicht neu geschrieben werden. Es entspricht nach wir vor den Tatsachen, wenn in den ersten Kapiteln dieser Bücher der Name Thales auftaucht. Allerdings kommt man nicht umhin, behutsam zu prüfen, was von dem historischen Thales übrig bleibt, wenn man die antiken Zeugnisse, die auf ihn Bezug nehmen, nach ihrem Wahrheitsgehalt befragt. Zuzutrauen ist ihm auf jeden Fall die postulierte wissenschaftliche Vielseitigkeit. In jener frühen Phase der griechischen Geschichte, in die Thales hineingehört, gab es noch keine Spezialisierung. Ein kluger Kopf, der über genügend Geld und Zeit verfügte, interessierte sich so ziemlich für alles, was es in der Welt zu erkunden gab. Andererseits hatten die Griechen die Angewohnheit, große Erfindungen und Errungenschaften im Rückblick gleich paketweise einzelnen Protagonisten wie eben Thales zuzuschreiben.
Heimat Milet
Was die Biographie des Thales angeht, so gibt es immerhin zwei unumstößliche Fakten: Er stammte aus der Stadt Milet, und er erlebte das Jahr 585 v. Chr. Die Herkunft ist in diesem Fall nicht unwichtig und geeignet, das Phänomen Thales zu erklären. Milet war eine alte griechische Gründung und entwickelte sich bald zur bedeutendsten Stadt in Ionien (wie die Griechen diese Landschaft im Westen Kleinasiens nannten). Im Gegensatz zu den mutterländischen Griechen empfingen die Ionier, wegen der räumlichen Nähe, viele Impulse von den hochentwickelten Kulturen des Orients.
Die Sonnenfinsternis vom 28. Mai 585 v. Chr.
Und so dürfte Thales die Inspiration für eine erste, vielbewunderte Leistung aus dem babylonischen Raum empfangen haben: die Vorhersage einer Sonnenfinsternis, die nach modernen astronomischen Berechnungen am 28. Mai 585 v. Chr. stattgefunden hat. Die antiken Thales-Forscher rekonstruierten aus dieser Angabe ein Geburtsdatum 625 v. Chr., gemäß der vorherrschenden Auffassung, dass der Mensch im 40. Lebensjahr seine bedeutendste Tat vollbringt (eine für ältere Menschen, die glauben, noch nichts Besonderes geleistet zu haben, durchaus beunruhigende Einschätzung). Vermutlich hatte sich Thales bei seiner Prognose babylonischer Schaltzyklen bedient. Heutige Forscher sind allerdings skeptisch, ob er auch wirklich den genauen Tag und den genauen Monat und nicht nur das betreffende Jahr vorausgesagt hat. Aber das schmälert seine Verdienste um die wissenschaftliche Astronomie nur unwesentlich.
Die Suche nach der Grundsubstanz
Wahrscheinlich schon älter als 40 Jahre war Thales, als er zum Begründer dessen wurde, was man heute die ionische Naturphilosophie nennt. Wiederum unter dem Eindruck der innovativen geistigen Atmosphäre des Orients, machte er sich auf die Suche nach der Antwort auf eine wahrlich fundamentale Frage: Was ist die Grundsubstanz der Welt und allen Lebens? Das Ergebnis seines diesbezüglichen Nachdenkens: Der Ursprung und die Grundlage von allem Seienden ist das Wasser. Mit dieser revolutionären Meinung trat der Forscher geradezu eine Lawine los. Seine ebenfalls aus Milet stammenden Schüler und Kollegen Anaximander und Anaximenes wandelten auf seinen Spuren und kamen zu alternativen Resultaten: Anaximander ersetzte das Wasser des Thales etwas abstrakt durch eine Substanz, die er das ápeiron, das Grenzenlos-Unbestimmbare, nannte, Anaximenes hingegen tauschte das Wasser gegen ein anderes Element, die Luft, aus. Das Thema sollte die antiken Denker jedenfalls nicht mehr loslassen und wurde vor allem von Demokrit, dem Pionier der antiken Atomforschung, wieder aufgegriffen.
Die Geographie des Thales
Wie Thales ausgerechnet auf das Wasser gekommen ist, lässt sich nicht deutlich ausmachen. Doch spielte das Wasser in seinem Denken überhaupt eine große Rolle. Er fragte nicht nur nach der Substanz allen Seins, sondern – etwas pragmatischer – auch nach der geographischen Beschaffenheit der Erde. Diese dachte er