Seewölfe Paket 22. Roy Palmer
Читать онлайн книгу.immer wieder hinausposaunt. Den Denkzettel dafür hatte er erhalten, denn nun befand er sich als Gefangener an Bord des Zweideckers. Daß man sich sein Gezeter dort nicht sehr lange anhören würde, stand wohl fest.
„Wegen der Goldkisten könnten sich allerdings Komplikationen ergeben“, sagte Sir Edward düster. „Die Raffgier gewisser Personen ist nicht zu unterschätzen. Wir müssen auf jeden Fall ständig Wachen einteilen, auch während der Bauarbeiten.“
Für Marc Corbett gab es nichts mehr hinzuzufügen. Er war froh, jetzt einen Kapitän an seiner Seite zu haben, auf den er sich verlassen konnte. So wunderte es ihn auch nicht, als Tottenham kurze Zeit später mit einer der Arbeitsgruppen losmarschierte, um Bäume zu fällen. Jede Hand wurde gebraucht, und am Beispiel ihres Kapitäns orientierten sich auch Corbetts Offizierskameraden. Der alte Gemeinschaftsgeist der „Orion“-Crew war in vollem Umfang wieder erwacht.
2.
Alle drei Jollen der „Dragon“ waren hoch auf den Strand gezogen worden. Eine lag jedoch ein Stück abseits, von Palmwedeln sogar ein wenig beschattet. Die beiden Männer, die dort Wache hielten, waren froh, der sengenden Sonne nicht schutzlos ausgesetzt zu sein.
Aus dem Dickicht sahen sie unvermittelt Charles Stewart auftauchen. Irgendwo dort lungerten auch die anderen herum und pflegten ihre faule Haut. Daran, etwas Eßbares aufzutreiben, dachte keiner. Vorläufig begnügten sie sich mit Kokosnüssen.
Drüben, in einiger Entfernung, hatten die „Orion“-Leute unterdessen ein Kochfeuer angefacht – deutlich sichtbar auf dem Strand. Am liebsten wären die beiden Wachtposten hinübergelaufen und hätten um einen Schlag Suppe gebettelt. Aber sie wußten, daß sie dort gewiß nicht mit offenen Armen empfangen worden wären.
Stewart war nicht allein. An seiner Seite walzte ein Ungetüm aus dem Unterholz hervor, wie es seinesgleichen keine Crew kannte: Joe Doherty, der persönliche Profos des verblichenen Sir Andrew Clifford, Earl of Cumberland.
Dieser Doherty war ein Bulle von einem Kerl, was allein gar nicht mal so schlimm gewesen wäre. An Land hätte er in einem Zirkus auftreten können – als Kinderschreck. Denn sein Gesicht sah wahrhaftig zum Fürchten aus.
Gesicht konnte man diese wüste Landschaft von Narben und Furchen allerdings kaum noch nennen. Einige der Narben waren blutrot, andere dunkel und bläulich. Die Nase war plattgeschlagen, zu allem Überfluß fehlten diesem Monstrum auch noch ein Ohr und die Hälfte der Zähne.
Stewart war schon ein Brocken von einem Mann. Aber neben Doherty wirkte er geradezu zierlich. Zielstrebig marschierten die beiden durch die Sonnenglut am Rand des Dickichts auf die bewachte Jolle zu. Die beiden Posten ahnten, daß ihre geruhsame Zeit im Schatten abgelaufen war.
Sie täuschten sich nicht.
„Ihr könnt abhauen“, sagte Stewart barsch. „Mister Doherty übernimmt diese Aufgabe jetzt.“
Der Profos Sir Andrews stemmte die Riesenpranken in die Hüften und grinste geschmeichelt. Dabei bemerkte er einen Ausdruck des Entsetzens in den Gesichtern der beiden Kerle, die sich da von den Duchten der Jolle erhoben.
Doherty hatte eine Art dumpfes Wissen um die Wirkung seines Erscheinungsbildes. Das hatte er schon oft erlebt, infolgedessen war es nichts Ungewohntes: Sein Grinsen rief bei manchen Leuten geradezu fluchtartige Reaktionen hervor. Gelegentlich hatte er das ausgenutzt. In Hafenschänken beispielsweise, wenn es darum ging, einen guten Platz am Tresen zu ergattern.
Bedauerlicherweise pflegte in solchen Fällen zumeist auch die holde Weiblichkeit Reißaus zu nehmen. Joe Doherty hatte sich schließlich damit abgefunden, daß er stets tiefer in die Tasche greifen mußte als andere, wenn er eins von den Hafenmädchen für sich interessieren wollte. Und dann waren es meist auch nur die fetten älteren Weiber, die sich für ihn zu begeistern schienen.
Er hatte bis heute nicht begreifen können, warum die drallen und hübschen jungen Dinger immer einen großen Bogen um ihn schlugen.
Männer wie Charles Stewart brauchten indessen nur ein paar Worte mit Joe Doherty zu wechseln, um zu wissen, daß die Natur ihn unterhalb der Schädeldecke äußerst sparsam ausgestattet hatte. Das bedeutete allerdings nicht, daß dieses Monstrum ein gutmütiger Trottel gewesen wäre, wie man es oft bei Einfaltspinseln erlebt.
Nein, Joe Doherty hatte alle Eigenschaften, die ein Dienstherr vom Schlage Sir Andrews zu schätzen gewußt hatte – gewalttätig bis zur Grausamkeit, rücksichtslos, frei von menschlichen Empfinden jedweder Art und bärenstark.
Über Dohertys Körperkraft gab es die wildesten Gerüchte. Er selbst brüstete sich bisweilen mit einer Geschichte aus Falmouth in Cornwall. Dort, so behauptete er, hätte er bei einem Gauklermarkt einen ausgewachsenen Stier bei den Hörnern gepackt und auf den Rücken geworfen. Wenn Doherty so etwas erzählte, wagte niemand, ihm zu widersprechen, geschweige denn auch nur Zweifel anzumelden.
Die beiden Wachtposten wollten sich verdrücken.
„Einen Moment noch“, sagte Stewart.
Er bückte sich und überzeugte sich, daß die beiden Goldkisten mit unversehrten Schlössern unter der Achterducht standen. Dann erst scheuchte er die beiden Männer mit einer Handbewegung weg.
Von seinem Mißtrauen blieb niemand verschont, auch die nicht, die sich stets als absolut zuverlässig erwiesen hatten. In besonderem Maße galt das jetzt, da er die beiden Kisten hüten mußte wie seinen Augapfel. Nicht zuletzt deshalb hatte er Doherty mit freundlicher Aufmerksamkeit bedacht.
Das Monstrum war der geborene Befehlsempfänger. Doherty konnte nicht leben ohne jemanden, der ihm sagte, was zu tun war.
„Davon hängt meine Zukunft ab“, sagte Stewart und klatschte mit der flachen Hand auf das Kistenholz. „Also auch die Ihre, Mister Doherty. Ich denke, wir beide verstehen uns.“ Stewart kniff bei diesen Worten in kumpelhafter Vertraulichkeit das linke Auge zu.
„Aye, aye, Sir“, sagte Doherty geschmeichelt. Sir Andrew hatte ihn zwar auch ordentlich behandelt, jedenfalls so, wie er es gewohnt war. Aber der Kapitän Stewart redete ihn sogar mit „Mister Doherty“ an und war auch sonst sehr höflich zu ihm. Dies erfüllte Doherty mit besonderem Stolz, vor allem dann, wenn andere es auch mitkriegten.
Stewart richtete sich wieder auf.
„Sie sind jetzt meine Vertrauensperson, Mister Doherty“, sagte er bedeutungsvoll. „Ich weiß, daß ich mich in jeder Beziehung auf Sie verlassen kann. Was ich vorläufig noch nicht weiß, ist, wie wir von dieser lausigen Insel verschwinden werden. Aber das Gold“, er stieß mit dem Stiefelabsatz gegen die Bootsplanken, „wird uns in jedem Fall dabei helfen. Passen Sie gut auf das Gold auf, Mister Doherty. Und auch darauf, daß mir nie jemand in den Rücken fällt oder sonstwie versucht, mich zu überlisten. Bin ich raus aus dem Schlamassel, dann sind Sie es auch. Klar?“
„Aye, aye, Sir“, sagte Doherty abermals, diesmal dröhnend und voller Selbstzufriedenheit.
Die Ehre, Vertrauensperson des Kommandanten sein zu dürfen, ließ ihn noch um einiges breiter werden. Es sah aus, als sei er aufgeblasen worden. Sir Andrews Umgangston ihm gegenüber war von der Art eines Herrn zu seinem Hund gewesen. Gemessen daran fand sich Doherty nun als Vertrauensperson Kapitän Stewarts in seiner Wichtigkeit um ein Vielfaches angehoben.
Für Stewart indessen war der Kerl nichts weiter als ein nützlicher Idiot. Leichter konnte man es gar nicht haben, sich einen persönlichen Leibwächter zuzulegen. Ein paar freundliche Worte genügten, und man konnte den hirnlosen Narren mit dem kleinen Finger in jede nur beliebige Richtung bugsieren. Auf die Idee, daß er nur ausgenutzt wurde, kam Joe Doherty nie im Leben.
Und Charles Stewart hatte seinerseits nicht vor, das Monstrum bis ans Ende seiner Tage mit sich zu schleifen. Hatte man erst einmal wieder England erreicht und sich ein Leben in Wohlstand gesichert, dann würde es Mittel und Wege geben, sich des ungeschlachten Kerls zu entledigen.
Stewart wies ihn an, sich auf die Achterducht der Jolle zu setzen und niemanden an die Goldkisten