Das Rauschen der Stille. Heidi Cullinan

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Das Rauschen der Stille - Heidi Cullinan


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denn seine Worte klangen wie auswendig gelernt. »Es ist ein wunderschöner Tag für ein Picknick, nicht wahr? Nicht zu heiß und nicht zu windig.«

      Ich musste etwas sagen. Es war offensichtlich, dass ich nun an der Reihe war, aber ich war so verwirrt. Warum redete er mit mir? Was sollte ich sagen?

      Er ist einfach nur höflich. Vielleicht hat ihn seine Mom auch gezwungen, zum Picknick zu gehen und ihm gesagt, dass er sich unter die Leute mischen soll. Der Gedanke ließ mich ein wenig entspannen. Offensichtlich hatte Emmet eine Behinderung. Würde es mir schaden, nett zu ihm zu sein?

      »H-hi.« Ich errötete, beschämt über meine eigene Ungeschicklichkeit. Wer ist jetzt behindert, Idiot?

      Falls Emmet mich für einen Trottel halten sollte, ließ er sich nichts anmerken. Er wartete geduldig, wippte sanft auf seinen Fersen und starrte auf die Stelle neben meinem Kopf. Seine Haltung war so merkwürdig. Seine Schultern waren zu hoch und seine Hände waren vor seinem Körper verdreht. Manchmal bewegte er sie, aber nur ganz kurz, dann erstarrten sie wieder.

      Er war süß. Seine Haare waren hellbraun und etwas zu lang, sodass sie sein Gesicht umspielten, als wäre er in einer Boyband. Seine Augen waren blassblau mit unzähligen, feinen Linien darin, als hätte man einen zerbrochenen Kristall wieder zusammengesetzt.

      »Du musst dich jetzt auch vorstellen«, sagte Emmet schließlich.

      »'tsch-'tschuldigung.« Ich wollte meine Hand ausstrecken, zog sie aber zurück, weil ich nicht mutig genug war. Stattdessen schob ich die Hände unter meine Arme. »Ich… ich bin Jeremey.«

      »Es ist eine Freude, dich kennenzulernen, Jeremey.« Er wartete einen Herzschlag lang und ich fragte mich, ob er die Sekunden zählte, als wüsste er, dass er innehalten muss. »Ich bin Student im zweiten Studienjahr an der Iowa State University. Ich studiere angewandte Physik und Informatik. Was ich gerne mache, sind Puzzles, Spiele und Spaziergänge.« Eine weitere Pause folgte, die ebenso wohlüberlegt war wie die erste. »Was ist mit dir?«

      Ich war durcheinander, hin- und hergerissen zwischen Unbehagen angesichts seines Unwillens, einfach zu gehen, und Erstaunen darüber, was er mir gerade erzählt hatte. »Du… du gehst aufs College?« Und er studierte angewandte Physik?

      Plötzlich war ich mir nicht mehr sicher, ob ich mit meiner Vermutung, dass er eine Behinderung hatte, richtiglag. Wodurch ich mich schuldig und beschämt fühlte und die Panik am Rande meines Bewusstseins immer näher kroch.

      Emmet fuhr fort, als würde ich innerlich nicht gerade den Verstand verlieren. »Ich gehe aufs College. Wir sind letzten Herbst hierhergezogen, damit ich zur Schule gehen kann. Für mich ist es keine gute Idee, in einem Studentenwohnheim oder allein zu wohnen, und Mom sagt, dass es sowieso Zeit für eine Veränderung war. Mein Dad arbeitet als Forschungsspezialist bei ConAgra. Meine Mom ist Allgemeinärztin und arbeitet Teilzeit in der Ames Medical Clinic. Meine Tante Althea arbeitet im West Street Deli und ist Aktivistin. Ich möchte entweder Programmierer oder Physiker werden. Ich hab mich noch nicht entschieden.« Pause. »Was machst du, Jeremey? Gehst du aufs College?«

      Physiker. Ich schluckte schwer und war verwirrt und verloren und fühlte mich unzulänglich. »N-nein. Ich… hab im Mai meinen Abschluss gemacht. H-highschool.«

      »Planst du, aufs College zu gehen?«

      Es war nett, dass er nicht davon ausging, ich würde aufs College gehen, aber die Beschämung über ein Nein, dass ich vor einem College so weit wie möglich davonlaufen würde, war noch immer zu viel. »Ich… will nicht. Aber meine Eltern…« Ich sah mich kurz um, um sicherzugehen, dass Mom und Dad nicht zuhörten. »Sie zwingen mich, auf die University of Iowa zu gehen.«

      Emmet runzelte die Stirn und sein Wippen wurde stärker. »Das ist schade. Sie sollten dich auf die Iowa State gehen lassen. Das ist eine gute Schule und sie ist genau hier in Ames.«

      Es war lustig – ich hatte mich sofort in einer Abwärtsspirale aus Schuld befunden, weil ich schlecht über meine Eltern gesprochen hatte, aber Emmet hatte einfach darüber hinweggesehen. Es regte mich an, noch mehr zuzugeben. »Ich möchte überhaupt nicht aufs College gehen.«

      Sein Blick wandte sie nie von der Stelle neben meinem Ohr ab. »Was möchtest du tun?«

      »Ich weiß es nicht.« Es war zu viel, ihn weiter anzusehen – es überforderte mich –, also starrte ich auf den Boden vor mich. »Ich möchte mich ausruhen. Das letzte Jahr war schwierig, vor allem der letzte Monat. Aber ich schätze, das richtige Leben funktioniert so nicht.«

      »Was war schwierig?«

      Für eine kurze Weile war es in Ordnung gewesen, mit Emmet zu reden, fast schon angenehm, aber jetzt wollte ich aufhören. Ich suchte nach einem Weg, aus dieser Unterhaltung verschwinden zu können.

      Emmet hörte auf zu wippen. »Es tut mir leid. Ich glaube, meinetwegen fühlst du dich unwohl. War das eine schlechte Frage?«

      Überrascht sah ich zu ihm auf. Jetzt wippte er offenkundig. Er war bestürzt. Ich musste dafür sorgen, dass er sich nicht schlecht fühlte. »Es war keine schlechte Frage. Ich bin… ein ziemliches Fiasko.«

      »Du hast in letzter Zeit traurig gewirkt, wenn ich dich in deinem Garten gesehen habe.«

      Whoa. »Du… hast mich im Garten gesehen?«

      »Ja. Du wohnst hinter den Bahngleisen, gegenüber von mir. Ich hab gesehen, wie du auf der Veranda gesessen oder im Garten gearbeitet hast. Manchmal hast du traurig gewirkt.«

      Wahrscheinlich erschien ich ziemlich häufig traurig im Garten – es war der Ort, an den ich ging, wenn ich vor meinen Eltern flüchten musste. Der Gedanke, dass die Nachbarn mich beobachtet hatten, machte mich wahnsinnig und schon wieder schämte ich mich. »Es… es tut mir leid.«

      »Warum tut es dir leid, traurig zu sein?«

      Diese Unterhaltung musste aufhören. »Ich… weiß es nicht.«

      »Jetzt fühlst du dich wieder unwohl.«

      Ja, das tat ich. Außerdem fing ich an, zu schnell zu atmen und ich spürte, wie mein Herz so schnell schlug, als wollte es aus meinem Brustkorb springen. Ich schloss die Augen. Oh Gott, ich würde hier auf dem Picknick eine Panikattacke bekommen. Meine Mutter würde mir niemals verzeihen. »Ich… ich muss… gehen.« Ich sah mich um und stellte fest, wie viele Menschen gekommen waren und wie nah sie mir waren. Meine Atmung wurde flacher und flacher und ich wollte in Tränen ausbrechen. »Ich kann hier nicht weg. Ich bin gefangen. Sie werden so wütend sein.«

      »Erlaubst du, dass ich dir helfe?«

      Ich blinzelte Emmet an, da ich zuerst nicht verstand, was er gesagt hatte. Noch immer sah er mich nicht an, aber er hatte die Hand ausgestreckt und aufgehört, auf den Fersen zu wippen. Er wartete.

      Ich legte meine Hand in seine. Ich wusste nicht warum, aber ich ließ mich von ihm wegführen, weg vom Baum, weg vom Picknick. Er führte mich um einige Mülltonnen am Haus herum, platzierte mich auf einer Bank und setzte sich neben mich. Anschließend ließ er meine Hand los und genügend Platz zwischen uns. Er sagte nichts, sondern saß einfach nur bei mir, während ich tief durchatmete und mich wieder beruhigte.

      »Da-danke«, sagte ich, als ich wieder sprechen konnte.

      Er setzte sich aufrecht hin und richtete seinen Blick auf meine Knie. »Es tut mir leid, falls ich etwas Falsches gesagt habe. Ich hab geübt, aber es ist schwer, jemanden kennenzulernen.«

      »Du… hast geübt?«

      »Ja. Ich wollte dich schon sehr lange kennenlernen.«

      »Du… wolltest mich kennenlernen?« Schon sehr lange?

      »Ja.« Er wippte auf seinem Platz und sein Blick wanderte zu einem der Bäume. »Ich wollte einen guten ersten Eindruck machen, aber ich habe eine Panikattacke ausgelöst. Es tut mir leid.«

      Scham überfiel mich, heftig und unangenehm. »Das hast du nicht. Ich bin… ein Fiasko. Ich hab mich geschämt zuzugeben, dass ich nicht aufs College will.«

      »Es


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