Das Rauschen der Stille. Heidi Cullinan

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Das Rauschen der Stille - Heidi Cullinan


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bitteres Lachen blieb mir beinahe im Halse stecken. »Meine Eltern sagen, dass ich darüber hinwegkommen muss.«

      »Es tut mir leid. So etwas zu sagen, ist gemein.«

      Ich weiß nicht, warum ich es tat. Selbst als sich die Worte auf meinen Lippen formten, versuchte ein Teil meines Gehirns, mir den Mund zu verbieten, aber Emmet vermischte all meine Erwartungen und Mutmaßungen und offensichtlich sorgte das für einen Kurzschluss in meinen Synapsen. Anstatt eine Entschuldigung für meine Eltern zu finden, anstatt zu murmeln Ja, wem sagst du das, oder irgendetwas in der Art, sagte ich: »Ich habe Depressionen.«

      »Oh. Meinst du SDS, eine schwere depressive Störung? Also eine klinische Depression?«

      Ich nickte zutiefst beschämt. »Ich… hatte in der Schule einen Zusammenbruch. Während der letzten zwei Wochen hab ich nicht mehr am Unterricht teilgenommen. Ich hab meinen Abschluss, aber da ich nicht bei der Abschlussfeier war, bin ich mir manchmal nicht sicher, ob es wirklich passiert ist. Ich stecke noch immer vor der ganzen Klasse fest und werde ohnmächtig, weil ich nicht genug Luft bekomme.« Die Erinnerung an diesen schrecklichen Tag lag wie Nebel auf mir. »Mein Arzt will, dass ich Tabletten nehme, aber meine Eltern erlauben es nicht.«

      »Moderne Antidepressiva erhöhen die Monoamine im synaptischen Spalt und es ist klinisch bewiesen, dass sie die Stimmung heben und depressive Symptome in vielen Fällen verringern. Manchmal dauert es eine Weile, bis das richtige Medikament gefunden ist, und bei manchen Menschen wirken sie überhaupt nicht, vor allem nicht ohne die zusätzliche Gesprächstherapie, aber bei einer großen Anzahl von Patienten sind sie sehr effektiv.«

      Genau dasselbe hatte der Arzt zu mir gesagt, dessen war ich mir sicher, aber ich verstand es jetzt genauso wenig wie im Mai. Für mich war es befremdlich, wie klug Emmet war – er wirkte wie jemand, bei dem ich kurze Sätze benutzen sollte, aber offensichtlich war das nicht der Fall. Ich wollte ihn so gern darüber ausfragen, aber alles, was mir einfiel, war: Was stimmt nicht mit dir? Und das war schrecklich.

      »Wieso weißt du so viel über Depressionen?«, fragte ich stattdessen.

      »Ich hab darüber gelesen. Als ich dreizehn war, hatte ich eine depressive Phase, also hab ich meinen Zustand recherchiert. Medikamente sind bei Teenagern nicht ratsam, es sei denn, die Umstände sind kritisch, also habe ich aufmerksam über Meditation nachgelesen und sie praktiziert. Außerdem hab ich angefangen, von zu Hause aus zu lernen, was geholfen hat. Manchmal hab ich jetzt auch Angstzustände, aber meistens kann ich mit bestimmten Maßnahmen stressige Situationen in meinem täglichen Leben vermeiden.«

      Wieso war es für ihn kein Problem, all diese Dinge herunterzurattern? Sowohl die fachlichen Mechanismen von Depressionen und wie es ihn aus der Schule herausgerissen hatte. »Maßnahmen?«

      »Ja. Ich habe viele Maßnahmen. Ich habe einen strikten Zeitplan und Zeichen, die ich nutze, um meiner Familie zu zeigen, dass ich verunsichert bin. In der Uni ist es schwieriger, aber meistens bleib ich für mich und spreche nicht mit anderen Leuten und sie lassen mich in Ruhe. Da ich ein Genie bin, mögen mich die Professoren und helfen mir, wenn die anderen Studenten gemein sind. Gleichaltrige beschimpfen mich manchmal, aber dann mach ich einfach meine Ohrstöpsel rein, damit ich sie nicht hören kann, und es ist in Ordnung.«

      »Warum… beschimpfen sie dich?«

      »Weil ich Autismus habe.«

      Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte, aber das war es definitiv nicht. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich ihn anstarrte, wahrscheinlich sogar mit offenem Mund. »Du… bist Autist?« Das kann nicht sein, wollte ich hinzufügen, biss mir jedoch rechtzeitig auf die Zunge. Irgendetwas an ihm war merkwürdig, ja, aber… Autismus? Waren Autisten nicht unfähig, mit anderen Leuten zu sprechen und sie zu berühren?

      Emmet sah weiter den Baum an. »Ja. Ich habe eine Autismus-Spektrum-Störung. Mein Gehirn ist anders verkabelt als das anderer Menschen. Aber ist es nicht wie bei Depressionen, bei der sie denken, dass es an den Monoaminen liegt. Sie manifestiert sich als Sozialstörung und in der Art, wie mein Körper reagiert, meinem Verhalten. Ich bin intelligent, intelligenter als die meisten Menschen, aber es fällt mir schwer, mit anderen zu interagieren. Also tun die meisten Leute so, als würde mit mir etwas nicht stimmen, als wäre ich dumm.«

      Was im Grunde genau das ist, was ich getan hatte. Ich fühlte mich schrecklich. »Es tut mir leid.«

      »Es ist in Ordnung. Sie sind die, die etwas verpassen.« Er hielt erneut inne, aber dieses Mal war ich mir ziemlich sicher, dass er sich seine nächsten Worte zurechtlegte und nicht wartete, weil er glaubte, es tun zu müssen. »Ich hatte gehofft, dass du mein Freund sein möchtest.«

      Ich erinnerte mich daran, dass er gesagt hatte, mich schon sehr lange kennenlernen zu wollen. Ich erkannte, dass er den Mut aufgebracht hatte, sich mir vorzustellen, als wäre ich jemand, um den sich die Menschen reißen würden. Der Gedanke löste ein wunderbares Gefühl in mir aus und im selben Moment fühlte ich mich unsicher. »Ich bin nicht interessant. Ich… habe nicht viele Freunde.«

      »Ich auch nicht.« Er drehte den Kopf, sodass er mich beinahe ansah, und streckte die Hand aus. »Was meinst du? Sollen wir eine Freundschaft ausprobieren?«

      Ich starrte auf seine Hand und wusste nicht, was ich tun sollte. Verwirrt, geschmeichelt, verängstigt und in erster Linie hypnotisiert legte ich meine Hand in seine. Als er meine Finger drückte, jagte ein Schauer durch meinen Körper.

      Zum ersten Mal seit meinem Zusammenbruch dachte ich nicht darüber nach, wie ich die Welt zum Stillstand bringen konnte, wie ich dem Versagen, das mein Leben war, entkommen konnte. Ich dachte an Emmet Washington und Physiker und Autismus und Monoamine.

      Ich dachte daran, wie es sein würde, Emmets Freund zu sein.

      Kapitel 3

      Emmet

      Ich war begeistert, wie gut das Treffen mit Jeremey verlaufen war. Ich hatte mir Sorgen gemacht, dass seine Panikattacke vielleicht ein schlechtes Zeichen war, aber auch das hatte sich geklärt. Jeremey war alles, worauf ich gehofft hatte, und mehr.

      Allerdings fühlte ich mich schlecht, weil er Depressionen hatte und seine Eltern ihm nicht mit der Therapie halfen. Ich machte mir Sorgen, dass er im Herbst aufs College gehen würde und keine Freunde hatte, die ihm helfen konnten.

      Aber noch war es nicht Herbst. Wir hatten unsere Handynummern ausgetauscht und ich hatte bereits einen Termin in meinem Kalender vermerkt, an dem ich ihm morgens schreiben und ein Date vereinbaren würde. Außer dass Jeremey sich vermerkt hatte, mir zuerst zu schreiben.

      Um einundzwanzig Uhr achtzehn arbeitete ich an einigen Matheaufgaben, als mein Handy vibrierte. Es war das einmalige Vibrieren, das mir eine Textnachricht von einer neuen Nummer anzeigte, was auch bedeuten konnte, dass es Spam war. Eigentlich ignorierte ich diese Nachrichten und ließ sie von meinem Dad aussortieren, weil der Spam einmal schlimm gewesen war und mich aus der Fassung gebracht hatte. Doch dann erinnerte ich mich daran, dass ich Jeremey noch kein Vibrationsmuster zugeteilt oder seinen Kontakt über Nummer und Namen hinausgehend eingespeichert hatte. Das war ungewöhnlich für mich und ich tue nichts Ungewöhnliches.

      Jeremey war nicht gewöhnlich für mich.

      Eine Minute summte ich vor mich hin und wippte auf meinem Stuhl, während ich darüber nachdachte, was ich tun sollte.

      Also, mit meinem Gehirn läuft es so – es funktioniert wie ein Oktopus, sagt meine Mom. Das ist wieder eine Metapher, aber im Gegensatz zu der mit den Löffeln verstehe ich sie. Ich habe nicht wirklich ein Weichtier in meinem Schädel, aber ein Teil meines Gehirns funktioniert wie eins. Es sitzt still, bis jemand es anstupst und dann wedelt es mit all seinen Tentakeln, sodass ich nervös werde. Ich mag diese Metapher nicht. Ein Oktopus in deinem Gehirn ist schlecht, selbst ein ausgedachter, aber Mom sagt, dass wir ihn nicht rausholen können, ohne mir wehzutun, also muss ich mit dem Oktopus leben. Es ist eklig, aber ich kann es nicht ändern. Also summe ich, wippe hin und her und wedle mit den Händen.

      Ich musste all das tun – summen, wippen und wedeln – bis es einundzwanzig Uhr dreiundzwanzig


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