Das Rauschen der Stille. Heidi Cullinan

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Das Rauschen der Stille - Heidi Cullinan


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Nachricht, dann schob er das Handy zur Seite. Er saß auf der Stuhlkante und ich hatte das Gefühl, dass er mit Absicht versuchte, nicht hin und her zu wippen. »Worüber sollen wir reden?«

      Es war eine einfache Frage, aber es fühlte sich wie eine Landmine an, oder eher wie eine schnelle Rutsche, die mich einen Fluss hinunter in Gewässer schickte, die ich nicht kannte. Ich wusste nicht, worüber wir reden sollten. Das tat ich nie. Dieser Nachmittag würde ein Desaster werden. Ich schwitzte und fühlte mich unwohl und wollte nach Hause gehen. Dann fühlte ich mich schrecklich, weil ich so fühlte. Die dunklen Gewässer zogen mich tiefer hinab.

      »Deine Schultern sind angespannt. Du bist ängstlich. Hab ich etwas Falsches gesagt?«

      Seine Frage zog mich weit genug aus dem Morast, um überrascht zu blinzeln. »Was? Nein. Ich… Es tut mir leid. Ich bin nicht gut darin.«

      Emmet richtete seinen Blick auf die Sonnenschirmkurbel. »Das ist nicht konkret. Das Wort darin ist ein Adverb, aber du hast mir kein Bezugswort genannt. Worin bist du nicht gut?«

      Er war so intensiv. Ich wusste nicht, was ich tun oder sagen sollte. »Ich bin nicht gut in vielen Dingen. Es fällt mir schwer, mit Menschen zu reden.«

      Emmet nickte. »Mir auch. Ich möchte mit Menschen reden, aber sie verstehen mich nicht. Sie werden oft böse. Oder sie werden gemein, was noch schlimmer ist. Das liegt an meinem Autismus, warum ich es nicht verstehe. Ich kann Gesichtsausdrücke nicht deuten und die Leute sagen verwirrende Dinge. Du hast gesagt, ich bin nicht gut darin, aber du hast mir nicht gesagt, was darin ist, also verstehe ich dich nicht. Ich versuche, eindeutig und genau zu sein, wenn ich spreche, aber manchmal ist das schlecht. Mit Menschen zu sprechen, ist knifflig für mich. Was ist für dich schwer?«

      Es dauerte eine Sekunde, bis ich verdaut hatte, dass er so zwanglos über seine Behinderung gesprochen hatte wie über einen Mückenstich. Außerdem hatte er mir so viele Informationen über sich gegeben, hilfreiche Informationen. Intensiv und direkt. Ganz ehrlich, es war erfrischend.

      Ich fragte mich, ob ich es wagen konnte, ebenso zu sein.

      »Wenn ich etwas Falsches sage, tut es mir leid«, sagte Emmet. »Wenn du mir sagst, was schlecht war, werde ich es nicht mehr zu dir sagen.«

      Ich zwang mich, ihm ins Gesicht zu sehen, als ich antwortete. »Es ist in Ordnung. Ich versuche nur, die richtige Antwort zu finden. Das ist einer der Gründe, warum es mir so schwerfällt, mit Menschen zu sprechen. Ich mache mir Sorgen, dass ich das Falsche sagen könnte und manchmal bedeutet das, dass ich überhaupt nichts sagen kann. Ich brauche sehr lange, bis ich auf eine Frage antworten kann.«

      Emmets Gesicht hellte sich auf. »Deswegen können wir gute Freunde sein. Wenn du etwas Falsches zu mir sagst, kann ich dich darauf hinweisen. Dann kannst du aufhören und alles ist gut.« Er wippte auf seinem Stuhl und es war ganz eindeutig eine unbewusste Handlung. »Danke, dass du mir gesagt hast, dass du manchmal Zeit zum Antworten brauchst. Ich werde versuchen zu warten. Du wirst mir nur sagen müssen, ob ich nicht geduldig genug war.«

      Bei ihm klang es so einfach. »Ich möchte dich aber nicht verärgern, auch wenn es aus Versehen passiert.«

      »Unfälle passieren. Selbst wenn wir alle uns an einen Zeitplan halten, die Welt ist unvorhersehbar. Manchmal komme ich wegen des Verkehrs zu spät zu einem Termin. Manchmal fällt der Strom wegen eines Sturms aus oder die Straßen werden wegen des Wetters geschlossen. Es bringt mich durcheinander, aber ich kann nicht zulassen, dass es mein Leben ruiniert. Falls du etwas Falsches sagst und mich aus der Fassung bringst, würde ich es dir sagen und dann würdest du aufhören und es würde nichts mehr bedeuten, dass du etwas Falsches gesagt hast. Wir sind Freunde. Freunde vergeben einander.« Er begann, sich stärker zu wiegen, hörte jedoch wieder auf. »Stört es dich, wenn ich wippe? Manchmal stört es die Leute, aber es beruhigt mich.«

      »Es macht mir nichts aus.« Ich beobachtete, wie er sich sachte hin und her wiegte. »Bist du nervös?«

      »Ja, und ich weiß nicht warum, was mich nur noch nervöser macht. Aber ich will nicht, dass unser Date schon vorbei ist. Also beruhige ich mich.«

      Je länger ich mit Emmet zusammen saß, desto faszinierender wurde er. Im Prinzip sprach er genau das aus, was ich fühlte, aber anstatt sich, wie ich selbst, zu schelten und unwohl zu fühlen… wippte er. Oder griff nach einer Art von Pragmatik, von der ich nur träumen konnte.

      Ich wollte allerdings auch nicht, dass unser Date schon vorbei war. Obwohl es mir zu denken gab, dass er es Date nannte.

      Bestimmt meinte er nicht so ein Date.

      Außer vielleicht doch. Der Gedanke brachte mich ganz durcheinander und ich fühlte mich schwer, sodass ich ihn einfach zur Seite schieben musste.

      Dann erschien seine Mutter mit einem Tablett, auf dem zwei Teller und zwei Gläser Wasser standen. Emmet nahm seinen Teller und ein Glas vom Tablett und überließ es seiner Mutter, mich zu bedienen, wofür ich mich bedankte.

      »Gern geschehen.« Sie lächelte mich an und reichte mir die Hand. »Hi. Ich bin Marietta Washington. Es freut mich, dich kennenzulernen.«

      Ich schüttelte ihre Hand. »J-Jeremey. Freut mich auch.«

      Ihr Gesicht war lebhaft und hell, wohingegen Emmets ruhig war. »Wenn du etwas brauchst, sag einfach Bescheid.«

      »Mom, geh weg. Ich möchte mit Jeremey allein sein.«

      Seine Unhöflichkeit irritierte mich, aber Marietta ging locker damit um. Sie wandte sich an Emmet und streckte wortlos zwei Finger vor ihm aus.

      Er verzog das Gesicht und legte drei Finger an ihre.

      »Ich bin drinnen, falls einer von euch etwas braucht«, sagte sie und ging zurück ins Haus.

      Emmet wippte auf seinem Stuhl und starrte auf die Sonnenschirmkurbel. »Möchtest du essen oder weiterreden?«

      Ich war verwirrt. »Können wir nicht beides machen?«

      Emmet schüttelte den Kopf. »Nein. Getrennt ist besser. Ich möchte weiterreden, aber es ist unhöflich, einen Gast vom Essen abzuhalten. Ich kann warten, wenn du Hunger hast.«

      »Reden ist in Ordnung«, sagte ich. Ich hatte überhaupt keinen Hunger.

      Emmet wirkte noch immer aufgewühlt. »Ich wünschte, sie hätte mir geschrieben. Die Unterbrechung kam unerwartet. Ich wollte dir noch weitere Fragen über Depressionen stellen und wie es ist, Angst zu haben.«

      Ich blinzelte. »Das wolltest du? Ich meine, du möchtest?«

      »Ja. Ich möchte alles über dich wissen. Damit ich keine Fehler mache.«

      Tja. Das war… pragmatisch. Nachdenklich lehnte ich mich auf meinem Stuhl zurück. »Darf ich dich etwas über deinen Autismus fragen?«

      Er lächelte. Nicht breit und auch nicht lange, aber es war da. Die Geste nahm mich gefangen.

      »Ja. Du darfst immer Fragen über meinen Autismus stellen. Dann weißt du es. Wissen ist wichtig.« Sein Wippen wurde sanfter. Es ließ mich glauben, dass es sein glückliches Wippen war. »Aber ich habe dir schon einige Dinge über Autismus erzählt. Jetzt bist du dran, mir etwas über Depressionen zu erzählen. Heute Morgen habe ich meine Recherche darüber aufgefrischt. Es ist faszinierend, aber es scheint nur wenige bestimmbare Fälle zu geben, was eine Behandlung schwierig macht. Welche Medikamente nimmst du?«

      »Ich nehme gar keine Medikamente. Sie haben darüber gesprochen, aber… Ich nehme im Moment nichts.«

      »Es gibt viele verschiedene Sorten, aber einige Nebenwirkungen sind wirklich schlimm. Es ist ineffizient, dass sie durch Ausprobieren das richtige Medikament finden, und dann sind da noch die Rückfälle. Du solltest Sport und Omega-3-Fettsäuren in Betracht ziehen. Meine Mom ist Ärztin. Du kannst ihr immer Fragen über Depressionen stellen, wenn du möchtest. Und gesundes Essen. Das ist alles, was sie essen will. Aber meine Tante Althea ist schlimmer. Sie ist Veganerin. Mom und Althea streiten sich über Paleo und vegane Diäten. Manchmal lassen mein Dad und ich sie streiten und gehen zu Subway, um uns ein Fleischbällchensandwich


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