Das Rauschen der Stille. Heidi Cullinan

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Das Rauschen der Stille - Heidi Cullinan


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war, ließ er es mich wissen. Außerdem war er freundlich – ihm fielen Dinge an mir auf, von denen ich nie erwartet hatte, dass sie jemand bemerken würde, und für ihn waren die Dinge, die ich an mir am seltsamsten fand, ein Teil dessen, wer ich war.

      Das beste Beispiel dafür war der Tag, an dem wir zu Wheatsfield liefen, dem Bioladen am Ende der Straße. Emmets Mutter brauchte noch ein paar Zutaten für das Abendessen und Emmet hatte gefragt, ob wir die Besorgungen für sie machen konnten.

      »Wie lieb von dir, es anzubieten, Emmet. Danke.« Sie drückte ihm einen Kuss auf die Wange. »Ich hole die Einkaufsliste und den Trolley.«

      Ich weiß nicht warum, aber ich war lächerlich aufgeregt, mit ihm einkaufen zu gehen. Wir waren schon vorher um den Block spaziert, meist am Abend, wenn es kühler war, aber zusammen einzukaufen war so häuslich und erwachsen. Das war kein einfaches Wir hängen zusammen ab-Einkaufen. Wir halfen beim Abendessen, zu dem ich schon vorher eingeladen worden war. Diese ganze Episode hatte dafür gesorgt, dass ich mich als Teil der Familie fühlte. Eine wirkliche Familie. Eine gute.

      Kaum hatten wir begonnen, die Straße entlangzugehen, hielt Emmet inne. »Nein. Dir gefällt es innen.« Er schob mich ans andere Ende des Gehwegs, auf die Seite, die den Häusern am nächsten war. »Du wirst nervös, wenn du zu nah an der Straße bist.«

      »Werde ich das?«

      »Ja. Du zuckst zusammen, wenn ein Auto vorbeifährt. Das machst du zwar auch auf der Innenseite, aber da bist du entspannter.«

      Ich hatte keine Ahnung, dass ich das tat. Wie vielen anderen Menschen war das bisher aufgefallen? »Das wusste ich nicht. Es tut mir leid.«

      »Das muss es nicht. Aber du musst innen sein, also nimm nicht die Außenseite.«

      Den Rest des Weges sprachen wir nicht miteinander, aber wir redeten ohnehin nie viel, wenn wir liefen. Ich nutzte die Zeit, um nachzudenken und die Zeit mit ihm zu genießen. Außerdem war es lustig herauszufinden, was er zählte. Ich hatte gelernt, dass er immer irgendetwas zählte, wenn er so still war. Während unserer Spaziergänge hatte ich ihn so oft gefragt, dass er es mir nun einfach sagte, wenn wir an unserem Ziel ankamen.

      »Neunhunderteinunddreißig Risse im Bürgersteig«, verkündete er, als wir am Laden ankamen. Er schob den bunten Trolley vor sich her, in dem wir laut Marietta die Einkaufstasche transportieren würden. »Einhundertvierundzwanzig Unregelmäßigkeiten. Achthundertsieben gerade Linien.«

      »Risse im Gehweg? Die hast du doch sicher schon früher zwischen eurem Haus und dem Laden hier gezählt.«

      »Ja. Aber heute waren vier neue dabei.«

      Ich fragte mich, wie es sein musste, ein Gehirn zu haben, das so viele Dinge zählte. Ich glaubte, dass es ermüdend sein musste, aber Emmet genoss es.

      Ich wollte ihn mehr über die Risse fragen, doch dann betraten wir den Laden – und trafen auf eine Wand aus Lärm.

      Ich war schon in diesem Laden gewesen und hatte genossen, dass er so klein war, hatte mich jedoch noch nie hierhin verirrt, wenn eine Live-Band in der Ecke spielte. Der Laden war voller Menschen, die redeten und lachten, während sie einkauften. Ich lachte nicht. Ich wollte nur wegrennen. Es fühlte sich an, als würde jemand immer und immer wieder ein Becken gegen meinen Kopf schlagen. Das Atmen fiel mir schwer.

      Ich schämte mich so sehr – ich hatte vor Emmet eine Panikattacke.

      Und dann hatte ich sie ganz plötzlich nicht mehr. Zumindest waren die Becken verschwunden und ich atmete schwer, aber wir waren draußen und Emmet setzte mich auf eine Bank.

      Ungeschickt berührte er mein Gesicht. »Im Laden ist es zu laut.«

      »Es tut mir leid«, versuchte ich zu sagen, keuchte jedoch eher.

      Er drückte meinen Kopf zwischen meine Knie und legte seine warme Hand auf meinen Rücken. »Atme tief ein. Geh in deinem Kopf an einen glücklichen Ort.«

      Er war so ruhig und logisch, dass es mich ehrlich gesagt teilweise aus meiner Attacke hinausschreckte. Es dauerte eine Minute, bis ich mich wieder vollständig unter Kontrolle hatte, aber so schnell hatte ich mich schon lange nicht mehr in den Griff bekommen.

      Als er seine Hand zurückzog, war ich traurig.

      »Es geht dir besser. Du brauchst etwas zu trinken. Bist du in Ordnung?« Ich nickte. »Gut. Ich suche Carol.«

      Ich dachte, dass er wieder hineingehen würde, stattdessen trödelte er an der Tür herum und wippte auf den Fersen, bis jemand nach draußen kam – eine Frau mittleren Altern mit roten Haaren, einem breiten Lächeln und einer Schürze, die sie als Angestellte des Ladens auswies.

      »Hallo, Emmet. Wo ist deine Mutter?«

      Emmet sah ihr nicht in die Augen und wippte weiter. »Sie ist zu Hause. Ich bin mit meinem Freund Jeremey hier. Aber deine Musik ist zu laut und es sind zu viele Leute da. Er hatte eine Panikattacke und braucht etwas zu trinken. Für mich ist es auch zu laut. Ich hab eine gute Anpassung, weil ich geübt habe, aber ich mag den Laden im Moment auch nicht. Wir beide fühlen uns nicht wohl.«

      Voller Mitgefühl drehte sich Carol zu mir. »Oh, Schätzchen. Es tut mir so leid.«

      Sie sprach mit mir, als wäre ich ein Vierjähriger. Ich schloss die Augen und versuchte sie wegzuwünschen.

      Emmet gab ihr kein Pardon. »Deine Musik ist zu laut, Carol. Du bringst die Leute durcheinander. Das ist schlecht fürs Geschäft. Althea würde dir einen Vortrag über die Diskriminierung von Behinderten halten. Ich möchte dir auch einen Vortrag halten. Aber ich kann im Moment nicht. Wir müssen uns um Jeremey kümmern. Er ist aufgebracht. Er braucht etwas zu trinken.«

      Ich versuchte zu sagen, dass es mir gut ging, aber das wäre eine Lüge. Carol und Emmet sprachen eine Minute miteinander – er fragte nach zwei Mineralwässer mit Himbeergeschmack und gab ihr die Einkaufsliste und die Kundenkarte seiner Mutter. Dann setzte er sich neben mich. »Ihre Musik tut mir leid. Ich bin wütend auf sie, weil sie dich aufgeregt hat.«

      Er war die ruhigste wütende Person, die mir je begegnet war. Ich schämte mich noch immer, obwohl ich gerührt war, dass Emmet für mich Partei ergriffen hatte. »Ist in Ordnung. Ich bin sicher, dass den normalen Menschen die Party gefällt.«

      »Niemand ist normal. Normal ist eine Lüge. Der Laden sollte für alle Menschen sein, nicht nur für die, die laute Musik mögen. Das ist unhöflich. Ich sag es meiner Mutter. Sie ist Vorstandsmitglied des Konsumvereins. Alle Menschen sollten integriert werden. Sie machen die Gänge groß genug für Rollstühle. Sie sollten die Stimuli nach unten drehen für die Menschen, die mehr Ruhe brauchen. Wenn deine Reizempfindlichkeit einen Stuhl hätte, würden sie dafür Platz machen.«

      Er sprach mit derselben flachen Tonlage, die er immer an den Tag legte, aber er wippte deutlich intensiver und seine Hände öffneten und schlossen sich rhythmisch auf seinem Schoß. Das war der wütende Emmet. Der wütende, beschützende Emmet.

      Wütend für mich. Er hatte sich für mich eingesetzt.

      »Danke«, sagte ich.

      Er sah mich an. Na ja, in meine Nähe. »Was hab ich getan?«

      »Du hast dich um mich gekümmert. Danke.«

      Er wirkte überrascht. Mit einem seiner Beinahe-Lächeln sah er auf den Bürgersteig. »Gern geschehen.«

      Kurz darauf erschien Carol mit weiteren Entschuldigungen, einem vollen Einkaufswagen und glutenfreien, veganen, kostenlosen Schokoladen-Cupcakes für Emmet und mich. Wir aßen sie, bevor wir wieder aufstanden, und spülten sie mit dem Rest unseres Mineralwassers hinunter. Als wir mit den Zutaten fürs Abendessen zu seinem Haus zurückkamen, hatte ich meine Panikattacke vollkommen vergessen.

      Um ehrlich zu sein, fühlte ich mich großartig, bis ich nach Hause kam, wo meine Mutter über mich die Nase rümpfte und mein Dad nicht einmal aus dem Wohnzimmer kam, weil er zu sehr von seinem Fernseher vereinnahmt war. Ich dachte an die Washingtons, die zusammen abgewaschen hatten, als ich gegangen war, und gutmütig über Politik diskutiert hatten.


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