Du wartest jede Stunde mit mir. Dietrich Bonhoeffer

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Du wartest jede Stunde mit mir - Dietrich Bonhoeffer


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ich heute an viele schöne vergangene Jahre und Stunden und freue mich mit ihnen allen. Ich bin nun begierig, den Trautext zu hören; der schönste, den ich kenne, steht in Röm 15,7; ich habe ihn oft genommen. Was für ein herrliches Sommerwetter haben sie! Da werden sie als Morgenchoral wohl „die güldne Sonne“ von P. Gerhardt singen!

      Nach längerer Pause erhielt ich Euren Brief vom 9. sehr rasch am 11. 5. Habt vielen Dank! Für wen das Elternhaus so sehr ein Teil des eigenen Selbst geworden ist wie für mich, der empfindet jeden Gruß mit ganz besonderer Dankbarkeit. Ja, wenn wir uns doch wenigstens mal kurz sehen oder sprechen könnten! Das wäre eine große innere Entspannung. Man macht sich draußen natürlich doch schwer eine richtige Vorstellung vom Gefangensein. Die Situation als solche, d. h., der einzelne Augenblick ist ja vielfach gar nicht so anders als anderswo, ich lese, denke nach, arbeite, schreibe, gehe auf und ab – und auch das wirklich ohne mich wie der Eisbär an den Wänden wund zu reiben –, und es kommt nur darauf an, sich an das zu halten, was man noch hat und kann – und das ist immer noch sehr viel – und das Aufsteigen der Gedanken an das, was man nicht kann, und d. h. den Groll über die ganze Lage und die Unruhe in sich niederzuhalten. Allerdings ist mir nie so deutlich geworden wie hier, was die Bibel und Luther unter „Anfechtung“ verstehen. Ganz ohne jeden erkennbaren physischen und psychischen Grund rüttelt es plötzlich an dem Frieden und der Gelassenheit, die einen trug, und das Herz wird, wie es bei Jeremia sehr bezeichnend heißt, das trotzige und verzagte Ding, das man nicht ergründen kann; man empfindet das wirklich als einen Einbruch von außen, als böse Mächte, die einem das Entscheidende rauben wollen. Aber auch diese Erfahrungen sind wohl gut und nötig, man lernt das menschliche Leben besser verstehen.

      Ich versuche mich jetzt an einer kleinen Studie über das „Zeitgefühl“, ein Erlebnis, das wohl für die Untersuchungshaft besonders charakteristisch ist. Einer meiner Zellenvorgänger hat über die Zellentür gekritzelt: „In hundert Jahren ist alles vorbei“, das war sein Versuch, mit diesem Erlebnis der leeren Zeit fertigzuwerden, aber dazu ist eben allerlei zu sagen, und ich würde mich gern mit Papa darüber unterhalten. „Meine Zeit steht in Deinen Händen“, Psalm 31, ist die biblische Antwort auf diese Frage. Aber auch in der Bibel gibt es eben die Frage, die hier alles zu beherrschen droht: „Herr, wie lange?“ Psalm 13.

      Es geht mir weiter gut, und ich muss für die vergangenen 6 Wochen dankbar sein. Dass Marias Mutter bei Euch war, freut mich ganz besonders. Weiß man schon irgendwas über Konstantin aus Tunis? Das geht mir in Gedanken an Maria und die ganze Familie sehr durch den Kopf. Wenn es doch nicht allzu lange dauerte, bis ich Maria wiedersehen und wir Hochzeit halten könnten! Sie braucht nun wirklich bald einmal ein Zur-Ruhe-Kommen, und man hat eben doch auch noch allerlei irdische Wünsche!

      Nun ist eben auch wieder das Wäschepaket gebracht worden, Ihr glaubt nicht, wie einen schon diese indirekte Verbindung freut und stärkt. Habt vielen Dank und sagt ihn bitte auch Susi für alle Hilfe, die sie Euch jetzt leistet, ganz besonders! Auch dass Ihr die Asthmabonbons wieder gekriegt habt, freut mich sehr, sie sind mir sehr angenehm. Einen Spiegel habe ich mir hier schon verschafft. Dankbar wäre ich für etwas Tinte, Fleckenwasser, Laxin, zwei kurze Unterhosen, ein Netzhemd und die reparierten Schuhe, Kragenknöpfe. Wenn sich die Sonne in die dicken Mauern erst mal eingebrannt hat, wird es sicher sehr heiß, bisher ist es noch sehr schön. Hoffentlich gibt Papa nicht zu meinen Gunsten das Rauchen jetzt ganz auf! Vielen Dank übrigens für den Jeremias Gotthelf, in 14 Tagen hätte ich gern „Uli, der Knecht“ von ihm, Renate hat es; Ihr müsst übrigens wirklich den „Berner Geist“ von ihm lesen, und wenn nicht ganz, so doch damit anfangen; es ist etwas Besonderes und interessiert Euch sicher! Ich kann mich erinnern, dass der alte Schoene immer Gotthelf besonders gerühmt hat, und ich hätte Lust, dem Dieterich-Verlag ein Gotthelf-Brevier vorzuschlagen. Auch für Stifter ist der Hintergrund vor allem das Christliche – seine Waldschilderungen machen mich übrigens oft ganz sehnsüchtig nach den stillen Friedrichsbrunner Waldwiesen –, aber er ist nicht so kräftig wie Gotthelf, dabei doch von einer wunderbaren Einfachheit und Klarheit, sodass ich große Freude an ihm habe. Ja, wenn man erst wieder über all das miteinander reden könnte!

      Bei allen Sympathien für die Vita contemplativa bin ich doch kein geborener Trappist. Immerhin mag eine Zeit erzwungenen Schweigens auch gut sein, und die Katholiken sagen ja, dass von den rein meditativen Orden die wirksamsten Schriftauslegungen kommen. Ich lese übrigens die Bibel einfach von vorne durch und komme jetzt zu Hiob, den ich besonders liebe. Den Psalter lese ich wie seit Jahren täglich, es gibt kein Buch, das ich so kenne und liebe wie dieses; die Psalmen 3, 47, 70 u. a. kann ich nicht mehr lesen, ohne sie in der Musik von Heinrich Schütz zu hören, deren Kenntnis, die ich Renate verdanke, überhaupt zu den größten Bereicherungen meines Lebens gehört.

      Gratuliert bitte Ursel sehr zum Geburtstag; ich denke viel an sie. Grüßt alle Geschwister, Kinder und Freunde und besonders das junge Ehepaar. Hoffentlich kommt Maria bald zu Euch. Ich fühle mich so sehr als ein Teil von Euch allen, dass ich weiß, dass wir alles gemeinsam erleben, tragen, füreinander tun und denken, auch wenn wir getrennt sein müssen. Es dankt Euch für alle Liebe und Fürsorge und Treue täglich und stündlich

       Euer Dietrich

      Grüßt doch natürlich auch Tante Elisabeth und die Großmutter mit all den Ihren!

       5. An Karl und Paula Bonhoeffer

      4. Juni 1943, Himmelfahrtstag

       Liebe Eltern!

      Ich hatte Euch schon einen langen Brief geschrieben, da bringt eben die Post die Briefe von Maria und meiner Schwiegermutter und damit ein ganz unbeschreibliches Glück in meine Zelle; nun muss ich den Brief noch mal anfangen und Euch vor allem bitten, beiden gleich zu schreiben und zu danken! Wie mir zumute ist, dass ich es nicht selbst tun kann, werdet Ihr Euch vorstellen. Maria schreibt so froh über den Tag bei Euch, und wie schwer muss es trotz aller Liebe, die Ihr ihr gezeigt habt, für sie gewesen sein; es ist ein Wunder, wie sie das alles durchsteht, und für mich ein Glück und Vorbild sondergleichen. Das Gefühl, ihr gar nicht beistehen zu können, wäre oft kaum zu verwinden, wenn ich nicht wüsste, dass ich im Gedanken an sie wirklich ruhig sein darf. Ich wünsche es wirklich vielmehr noch um ihret- als um meinetwillen, dass diese harte Zeit nicht allzu lange dauert. Dass aber gerade diese Monate einmal für unsere Ehe unendlich wichtig sein werden, ist mir gewiss und dafür bin ich dankbar. Wie sehr mich der Brief meiner Schwiegermutter bewegt hat, vermag ich kaum zu sagen. Dass ich ihr zu all dem Schmerz des vergangenen Jahres noch einen solchen Kummer hinzufügen musste, hat mich seit dem ersten Tag meiner Festnahme gequält, und nun hat sie gerade diese über uns gekommene Not zum Anlass genommen, die Frist des Wartens abzukürzen und mich dadurch glücklich zu machen. Vor diesem großen Vertrauen, dieser Güte und Größe des Herzens stehe ich wirklich sehr beschämt und dankbar da, und ich werde ihr das niemals vergessen. Im Grunde ist das der Geist, den ich in all den Häusern dieser Familie immer gespürt habe und der mich so berührt hat, längst ehe ich etwas von meinem künftigen Glück ahnte. Und nun weiß ich auch aus Euren und K. Friedrichs Briefen, dass Ihr Maria gernhabt; es konnte ja auch nicht anders sein. Ja, sie wird Euch eine sehr gute Schwiegertochter sein und sich sicher in unserer Familie bald ebenso zu Hause fühlen, wie ich mich seit Jahren ihrer großen Familie zugehörig gefühlt habe. Dass K. Friedrich meine Schwiegermutter in die Stadt begleitet hat und sie sich so etwas kennenlernten, freut mich sehr, auch dass er Maria in meiner Stellvertretung ins Gewissen geredet hat, sich ihre Rationen nicht abzusparen, die sie bei ihrem schweren Dienst wirklich selbst braucht, ist sehr nett von ihm.

      Ich danke Euch sehr für Eure Briefe, mir sind sie immer nur zu kurz, aber ich verstehe es ja natürlich! Es ist, als täte sich einen Moment die Gefängnistür auf und man lebt ein Stück Leben draußen mit. Das Verlangen nach Freude ist in diesem ernsten Hause, in dem man nie ein Lachen hört – selbst dem Wachpersonal scheint es über ihren Eindrücken vergangen zu sein –, sehr groß und man schöpft alle inneren und äußeren Quellen der Freude voll aus.

      Heute ist Himmelfahrtstag, also ein großer Freudentag für alle, die es glauben können, dass Christus die Welt und unser Leben regiert. Die Gedanken gehen zu Euch allen, zu Kirche und Gottesdiensten, von denen ich nun schon so lange getrennt


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