Stein mit Hörnern. Liselotte Welskopf-Henrich
Читать онлайн книгу.Booth ist überlastet. Ranch – Rat – Kind. Mr King fällt vorläufig ebenfalls aus. Hauptamtliche Kräfte einzustellen ist im Vergleich zu den vorhandenen Mitteln zu teuer. Besteht nach Ihrem Urteil Aussicht, dass Mr King in absehbarer Zeit wieder für die Schulranch tätig sein kann?«
Sligh lächelte vor sich hin, dann griff er an.
»Mr Bighorn, die Schulranch ist Sache des Stammesrates, nicht der Verwaltung. Soviel habe ich in der kurzen Zeit meines Aufenthaltes hier auf dieser Reservation schon gelernt, obgleich mich das dienstlich nichts angeht. Wenn die Herren des Stammesrates etwas von mir zu erfahren wünschen, so stehe ich in meiner Sprechstunde zur Verfügung. Ich denke, dass Ihnen mit dieser Auskunft gedient ist.«
Sidney Bighorn zog sich zurück.
In der Aus- und Eingangshalle des Krankenhauses begegnete er dem Verwaltungsdirektor Walker, der Sidney beim Kommen zu dem richtigen Zimmer gewiesen hatte.
»Nun? Alles erledigt?«
Sidney kämpfte um eine Antwort, in der sich Zurückhaltung, Missvergnügen und Anspruch mischen sollten. Er kämpfte etwas lang.
»Hat Sligh Sie rausgeworfen? Dazu ist er imstande. Nicht nur Ihnen gegenüber.«
Sidney fühlte sich erleichtert. Walkers burschikoser Ton gab neue Möglichkeiten.
»So ungefähr. Ich hatte nur wissen wollen, ob Mr King in absehbarer Zeit wieder auf der Schulranch tätig sein kann. Wir brauchen Lehrkräfte.«
»Die nichts kosten! So ist es doch? Aber mit dem Namen King können Sie Dr. Sligh nicht kommen, das ist ein neuralgischer Punkt bei ihm. Besuchen Sie doch einfach selbst diesen Mr King.«
»Wann ist Besuchszeit?«
»Das weiß ich nicht. Er liegt ja nicht hier, sondern in der Privatklinik Dr. Miller. Mit Ihrem Dienstwagen ist das kein Problem, und in einer Privatklinik wird es mit der Sprechzeit für Patienten nicht so genau genommen. Dann fragen Sie Mr King auch gleich, warum er den Zettel mit der Adresse von Mr Sligh verschluckt hat. Mr Sligh möchte das gern wissen.«
Sidney sank der Unterkiefer vor Erstaunen und Eifer herunter. Er musste ihn rasch wieder hochklappen, ehe Speichel herauslief.
»Ja, danke. Ich werde gern versuchen, Dr. Sligh in dieser Sache behilflich zu sein.«
»Sonst noch etwas?«
»Nein. Aber vielleicht ist es für Dr. Sligh nicht uninteressant zu erfahren, dass King zweimal mit Leonard Lee zusammen auf der Anklagebank gesessen hat. Leonard Lee soll sich Pressemeldungen zufolge nach seiner Entlassung aus dem Zuchthaus der Polizeiaufsicht sofort wieder entzogen und nach dem Westen gewandt haben.«
Walker schob das Kinn vor. »Ja. Das habe ich, wenn ich mich recht entsinne, auch gelesen. Welche Verbrechen hat Lee zuletzt begangen?«
»Rauschgiftschmuggel und Mordanschläge. Auch eine gewisse Rauschgifthändlerin Esmeralda O’Connor wird schon wieder gesucht. Lilian Horwood hat die beiden beobachtet, ehe sie abermals verschwunden sind.«
Walker schaute Bighorn lange an. »So, so.«
Der Verwaltungsdirektor wurde von anderer Seite in Anspruch genommen. Sidney Bighorn verließ das Krankenhaus, schon entschlossen, an einem Wochenende zu der Privatklinik Dr. Miller zu fahren. Jedoch nicht mit dem Dienstwagen.
Es war ein Donnerstag, an dem Mr Sidney Bighorn und Mrs Hamilton wieder in den Büros der Distriktverwaltung auftauchten. Am Freitag machte Sidney seinen Bericht fertig. In der Nacht zum Sonnabend startete er bereits mit seinem Privatwagen und erreichte am frühen Nachmittag die Klinik, in der er den Patienten Joe King besuchen wollte. Während der Fahrt hatte er Fangfragen, die er stellen, und ausweichende Antworten, die er erhalten konnte, in ihrer Wirkung und ihrem Ergebnis gegeneinander abgewogen.
Die orthopädische Klinik lag außerhalb einer relativ hübschen Stadt. Im Garten traf Sidney Patienten, die sich schon selbständig bewegen konnten. Beim Pförtner hörte er, dass er zur rechten Zeit kam und Besuche an diesem Tage um diese Stunde allgemein erlaubt waren. Sidney erfuhr die Zimmernummer und benutzte den Fahrstuhl, um in den zweiten Stock zu gelangen. Die Türen der Krankenzimmer standen alle offen. Die Fenster waren zum größten Teil geöffnet und ließen Frühlingsluft und Blütenduft herein. Sidney fand den gesuchten Raum. Das große Zimmer war mit vier Patienten belegt. Zwei aus den dem Fenster am nächsten stehenden Betten hatten aufstehen dürfen; sie saßen am Tisch und spielten Karten. Sidney konnte sie schon durch die Tür sehen.
Er trat ein, und mit einem Blick fand er rechter Hand seinen Feind Joe King im weiß bezogenen Bett, auf dem Rücken ausgestreckt, beschäftigungslos. Die Hände lagen auf der Decke, abgemagerte, schlanke Hände, genau gleichmäßig ausgerichtet. Am Hals war das Ende einer Schiene zu erkennen. King schaute vor sich hin und schien von seiner Umgebung überhaupt keine Notiz zu nehmen, auch nicht von dem eintretenden Besuch.
Sidney ging zu dem Bett und stellte sich am Fußende auf. Amtsbewusstsein durchfloss ihn vom Scheitel bis zur Zehe und gab seinem Auftreten, wie er zu fühlen meinte, das ebenso Imposante wie Gemäßigte. Großmut gegenüber dem Gelähmten lag ihm fern; der andere sollte spüren, dass er unterlegen war.
»Wie geht es Ihnen, Mr King?«
Der Angesprochene schaute nicht auf, aber er antwortete, langsam und für alle im Zimmer vernehmlich: »Bye … bye, Mr Bighorn. Es ist gut, ich danke Ihnen; Sie können wieder gehen.«
King bewegte auch bei diesen Worten den Kopf nicht, nicht einmal die Augen. Vielleicht hinderte ihn die Schiene oder seine Lähmung, aber vielleicht sah er auch absichtlich an dem Besucher vorbei. Sidney empfand einen Schock. Mit höflichen Worten hinausgeworfen zu werden, darauf war er nicht gefasst gewesen; seine Phantasie hielt keine Antwort bereit.
Er verließ seinen Standplatz; unsicher sah er sich dabei nach den drei anderen Männern um. Die Privatklinik Dr. Miller war teuer. Diese Leute hier mussten wohlsituierte Bürger sein. Er war vor ihnen brüskiert und beschämt worden. Sie lächelten zugleich boshaft und verständnisvoll, wie es ihnen und ihrer Stimmung angemessen war.
»Geben Sie es auf, Mr Bighorn«, sagte einer der beiden, die sich am Tisch zum Spielen zusammengefunden hatten. »Wenn Mr King keine Lust hat, hat er keine Lust. Er ist ein Indianer.«
Sidney hätte antworten können »ich auch«, aber das sagte er nicht, denn er wollte sich selbst nicht in einem Atem mit Joe King nennen, und er wusste auch nicht genau, ob er sich selbst überhaupt noch als Indianer bezeichnen wollte oder nicht; seine Meinung zu dieser Frage wechselte. Er fühlte aber mit Sicherheit, dass er wieder rot wurde, ärgerte sich ein weiteres Mal über seine Schwäche und zog sich zurück, ohne noch einmal nach dem Patienten Joe King zu schauen. Er dachte aber: hartgesottener Bursche, verdammter. Du kannst nichts mehr rühren als die Zunge, und damit wirst du noch unverschämt. Ich zahle es dir eines Tages heim.
Sidney versuchte noch, Dr. Miller zu erreichen. Der Arzt war ausgefahren. Von der Stationsschwester erfuhr Sidney nur, dass man zwar gar nichts voraussagen könne, der Patient Joe King aber jedenfalls eine vorzügliche, zähe Konstitution besitze.
Sidney begab sich wieder zu seinem Wagen.
In der Nacht zum Montag schlief Sidney Bighorn zu Hause schlecht, ebenso schlecht wie Roger Sligh, M. D., dem Walker gestanden hatte, dass Bighorn auf seine Veranlassung hin nach der Klinik gefahren sei, um zu ergründen, warum King den Zettel verschluckt hatte. Auch die Namen Leonard Lee und Esmeralda O’Connor spukten von nun an in Roger Slighs wiederbelebten Träumen.
Sligh behauptete seiner Haushälterin gegenüber, dass des Nachts jemand versucht habe, sein Fenster zu öffnen.
Die gute Frau zuckte die Achseln und dachte sich im Stillen, dass der Herr wohl wieder zu spinnen anfange und den Wind mit einem Menschen verwechselt habe.
Sie empfahl ihm, zu einem indianischen Medizinmann zu gehen. Diese Leute könnten zuweilen Wunder tun.
Roger Sligh lachte laut, sich selbst verhöhnend, und berichtete die Sache seiner Vertrauenskollegin Kate Carson, als er mit dieser zum Tee bei dem Oberarzt der Säuglingsabteilung