Nacht über der Prärie. Liselotte Welskopf-Henrich
Читать онлайн книгу.war ihm so gewesen, als ob im Sekretariat ein Besucher vorgesprochen habe. Die Polstertür ließ kaum einen Laut durch, aber in dem einstöckigen Holzhaus erzeugte jeder Schritt in dem Dielenboden Schwingungen, die Nick Shaw bis hinauf in die Knie zu fühlen meinte. Er war an diesem Tage sehr nervös.
Aber er unterdrückte jede Frage, so wie das Mädchen jeden Blick unterdrückt hatte. Nick hatte die Erfahrung gemacht, dass Indianer ihn stets täuschten, wenn er sie ausforschen wollte. Man musste warten, bis sie selbst sprachen und über eine Reihe unwichtig erscheinender Bemerkungen endlich zum Wichtigen kamen. Eine solche Wartezeit dehnte sich im Ablauf eines geordneten Verwaltungsmechanismus, wie Shaw ihn rings um sich in Gang zu halten liebte, oft übermäßig lang. Der Beamte seufzte leicht und begab sich in sein benachbartes, an der Rückseite des Hauses gelegenes Dienstzimmer, das zweckmäßig, wenn auch mit einem Polstersessel weniger als das des Superintendenten ausgestattet war. Er nahm an seinem Schreibtisch Platz und vertiefte sich in die Akten.
Als es klopfte und auf sein »Bitte« niemand eintrat, stand er auf und ging zur Tür. Aber er fand niemanden davor. Die Sekretärin war noch nicht zurück. Auf einem der Warteplätze hatte sich eine Indianerin niedergelassen. Nick Shaw hielt es für ausgeschlossen, dass sie geklopft hatte. Seine Nerven hatten ihm einen Streich gespielt. Er fragte die Frau, was sie herführe. Sie wollte einen Brief für den blinden indianischen Richter abgeben, für Ed Crazy Eagle.
»Warten Sie, die Sekretärin wird das erledigen.«
Die Frau verfiel wieder in eine teilnahmslos wirkende Haltung. Shaw kehrte an seinen Schreibtisch zurück und steckte sich eine Zigarette an, obgleich er es nicht liebte, im Dienst zu rauchen. Es gehörte sich nicht. Er drückte die Zigarette wieder aus. Irgendwo in dieser Prärie musste es einen Punkt völliger Korrektheit geben, und dieser Punkt war das Dienstzimmer Nick Shaws.
Er hörte das Geräusch eines Wagens, der eben auf der Straße vorbeifuhr. Der Motor war alt, etwas zu laut.
Shaw unterzeichnete eine Vorlage für den Superintendenten.
Der Wagen, den Shaw gehört hatte, hielt vor einem der gleichförmigen einstöckigen Holzhäuser, die die Agenturstraße hinter Vorgärten säumten. Das Haus stand am Ende der Straße. Es war das kleine, einfache Gebäude des Stammesgerichts. Der Blinde stieg aus und fand ohne Mühe den ihm bekannten Weg in das Haus. Im letzten Raum linker Hand traf er den alten indianischen Richter, der den Rang eines »Gerichtspräsidenten« an dem bescheidenen Stammesgericht einnahm. Die Stimmen hatten ihm schon verraten, dass vor dem alten Richter zwei Polizisten standen. Sie hatten in ihrer Stammessprache gesprochen, aber als der Blinde eintrat, der die Stammessprache nicht kannte, gingen sie dazu über, englisch zu sprechen.
»In New City«, sagte der eine, ein starker und großer Mensch, dessen Stimme von oben herunter tönte.
»In den Slums, wahrscheinlich bei der Schwester«, ergänzte der kleinere, aber nicht weniger stämmige Mann.
»Harold Booth hat ihn gesehen.«
Der Blinde hatte sich auf einen der schäbigen Stühle gesetzt. »Wir können nichts tun als warten«, hörte er den alten Richter sagen.
»Die Polizei in New City ist informiert.« Der lange Polizist sprach überlaut, weil er sich bewusst war, nicht gefragt zu sein. Der Blinde legte die Hand zusammengeballt auf den Tisch.
»Wird Stonehorn gesucht?«
»Ja und nein.« Der alte Richter hatte sich dem jungen Mann zugewandt. »Noch hat er kein neues Verbrechen begangen, aber wenn er zurückkommt, geschieht der nächste Mord. Wir sind verantwortlich.«
»Hat er Eltern?«
»Es ist eine Verbrecherfamilie.«
Der Blinde horchte auf. Er hörte den alten Richter zum ersten Mal mit scharfer Stimme sprechen.
»Wer ist Harold Booth?« fragte Crazy Eagle nach einer Pause.
»Der Jüngste der Booth-Familie. Von der großen Ranch vor den Badlands. Fünfundzwanzig Jahre.«
»Hat er mit Stonehorn schon zu tun gehabt?«
»Sie hassen sich.«
»Was hatte Harold in New City zu suchen?«
»Viehkauf. Der Vater hat ihn hingeschickt.«
Der Blinde glaubte die missbilligenden Blicke der beiden Polizisten körperlich zu fühlen. Eben darum stellte er noch eine Frage, aber er gab auch eine Erklärung dazu.
»Ich gehöre erst seit einem Vierteljahr zu eurem Stamm und eurer Reservation. Drei Monate sind nicht genug, um euch kennenzulernen. Sagt, wie alt ist dieser Joe King, den ihr Stonehorn nennt?«
»Dreiundzwanzig. Aber ich sage dir mehr als das. Seine Mutter hat den Vater ihres Mannes erschlagen. Ihr Mann war im Gefängnis; ein Trinker und Gewalttäter. Die Schwester ist in den Slums von New City verheiratet. Stonehorn selbst war aufsässig und faul als Schüler. Er kam ins Gefängnis, weil er gestohlen, weil er einen weißen Lehrer bedroht und eine Bande gebildet hatte. Als er freigelassen wurde, ist er ein Tramp und ein Gangster geworden. Er hat wegen versuchter Beihilfe zu schwerem Raub gesessen. Schon in einem zweiten Falle steht er unter Mordverdacht. Nur aus Mangel an Beweisen musste ihn das Gericht der weißen Männer vor kurzem erneut freisprechen.«
»Hat irgend jemand bei uns hier persönlich Angst vor ihm?«
»Ja, Harold Booth. Die beiden haben sich schon in der Schule geschlagen. Harold ist ein großer, kräftiger Mann in den Zwanzigern, ein richtiger Indian-Cowboy auf der Ranch und gut im Football. Aber Stonehorn ist heimtückisch und gewandt wie ein Raubtier. Harold hat Angst.«
»Kann jemand nach New City fahren und mit Stonehorn sprechen, ehe ein Unglück geschieht? Gibt es irgend jemand, der Einfluss auf ihn hat?«
»Er lässt sich für keinen von uns blicken. Er hasst uns alle. Es war nur ein Zufall, dass er gesehen wurde. Vergiss auch nicht, was ich dir gesagt habe: Er hat nicht nur irgendwelche Verbrechen auf eigene Faust begangen. Er ist ein Gangster geworden, und die Gangs geben ihre Mitglieder nie mehr frei. Er ist ein verlorener Mensch.«
»Lebt die Mutter noch?«
»Sie ist in den Slums von New City bei ihrer Tochter gestorben. Unsere Familien hier dulden keine Mörderin unter sich.«
»Sie war nicht zum Tode verurteilt?«
»Nach dem Gesetz habe ich sie freigesprochen, ich, verstehst du? Notwehr. Aber für unsere Familien hier ist nach uralter Überlieferung ein Mord ein Mord. Ein Vatermord. Da gibt es kein Erbarmen. Auch der Ehemann wollte sie nicht mehr bei sich dulden.«
»Ihr Sohn Joe King hat die Reservationsrechte?«
»Wir haben sie ihm noch nicht abgesprochen. Sein Vater, der alte King, lebt hier, und er hatte seinen Sohn wieder zu sich genommen, als er selbst aus dem Gefängnis kam.«
Der Blinde fragte nicht weiter. Er stand auf. Ohne Hilfe zu beanspruchen, ging er in die kahle Kammer, die sein Arbeitsraum war. Dort hatte sich schon ein Helfer und Betreuer eingefunden, ein runzliger Mann von etwa sechzig Jahren. Er las dem Blinden das Schreiben der Indianerin vor, das die Sekretärin auf Anweisung von Nick Shaw unterdessen gebracht hatte. Eliza Bighorn, so hieß die Frau, sollte mit Gefängnis bestraft werden, weil ihr achtjähriger Sohn drei Tage unentschuldigt von der Schule ferngeblieben war. Eliza verteidigte sich.
Irgend jemand hatte ihr den Brief geschrieben. Sie wohnte weitab, der Schulbus kam nicht bis zu ihrem Haus. Sie besaß weder Pferd noch Auto. Der Junge hatte wieder einen epileptischen Anfall gehabt. Es gab keine Nachbarn, und Eliza selbst musste auf die zwei kleineren Kinder achtgeben. Sie konnte ihr Haus nicht verlassen, nur um nach einem langen Marsch eine Entschuldigung bei der Schule vorzubringen. Wegen drei Tagen!
»Den Brief an das Hospital«, entschied der Blinde. »Die Schwestern sollen sich um die Frau und um den epileptischen Jungen kümmern, auch wenn keine Autostraße dorthin führt.« Er sprach entschieden, aber doch nicht mit soviel eindringlicher Aufmerksamkeit, wie man sie selbst in geringfügigen Angelegenheiten bei ihm gewohnt war.
Nach