Jan und Jutta. Liselotte Welskopf-Henrich

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Jan und Jutta - Liselotte Welskopf-Henrich


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waren. Er konnte die Straße überschauen, die an den Häusern vorüberführte. Auf dieser Straße mußte der Hauptwachtmeister von seinem Besuch bei der Liebsten zurückkehren. Es war Sonnabend. Am Wochenende pflegte der Herr Hauptwachtmeister seinen Besuch länger als sonst auszudehnen. Jan stand allein und regungslos und schaute in die Nacht. Die Sekunden flossen, die Minuten, endlich war eine Stunde vorüber und noch eine halbe. Jan beobachtete die stille, menschenleere Landstraße, aber wieder und wieder glitt sein Blick auch zu den Sternbildern, die er sich fest einprägte. Wenn er fliehen würde, konnten ihm nur die Sternbilder die Himmelsrichtungen weisen. Auch den Stacheldrahtzaun, der Haus und Hof umgab, betrachtete Jan. Bei einem der Zaunpfähle fand sein prüfender Blick eine geeignete Stelle … eine Stelle, die einem gewandten Mann beim Überklettern nicht allzu große Schwierigkeiten bereiten würde.

      Als es Mitternacht wurde, erkannte Jan auf der Straße den einsamen Fußgänger in Uniform, der dem Hause der Gefangenen zustrebte. Der Herr Hauptwachtmeister hielt in allem auf Ordnung. Auch seine Besuche bei der Liebsten waren auf die Minute geregelt. Am Sonnabend kehrte er zwar stets später als sonst zurück, aber nie später als Mitternacht.

      Als der Hauptwachtmeister das Haus betreten hatte und das Schloß der Haustür wieder zusprang, kletterte auch Jan in sein Bett, um ein paar Stunden Nachtruhe zu halten. Jan hatte beschlossen, an dem folgenden Sonnabend, dem 30. August 1936, aus dem Zuchthaus nach Frankreich zu fliehen und sich dort bei der spanischen Volksarmee zu melden. Christoph wollte er überreden, mitzukommen, dazu noch den Franz, der Verbindungen an der holländischen Grenze hatte.

      Sobald Jan auf seinem Strohsack lag, schlief er auch sofort ein. Er hatte eine harte Jugend gehabt und gelernt, in jedem Augenblick nur das Notwendigste zu denken und zu tun.

      Der Sonntagmorgen brach an. Die Gefangenen hatten die Erlaubnis, eine Stunde später aufzustehen. Der Stubenälteste machte dem Wachtmeister Vürmann die übliche Meldung, daß die Gefangenen vollzählig anwesend seien, und unwillkürlich dachte Jan, als er diese gewohnte Meldung mitanhörte: nächsten Sonntag werden hier drei fehlen, und die Aufregung wird groß sein. – Der Stubenälteste und ein Gefangener brachten den Kessel mit dem Morgenkaffee. Die Gefangenen traten mit ihren Schüsseln oder Tassen an und ließen sich einschenken. Jeder hatte noch etwas von seiner Brotration, der eine mehr, der andere weniger. Jeder besaß irgendein Messer und strich sich seine Marmelade aufs Brot. Dann saßen die Gefangenen an den langen Tischen, tranken und aßen. Es wurde nicht viel gesprochen. Die Gefangenen hatten aus den Fenstern nach dem Himmel geäugt, der sich blau und wolkenlos über der dörrenden Heide wölbte. Wieder stand ein Tag unerträglicher Hitze bevor.

      Wachtmeister Vürmann, der durch das »Spionenfenster« den Gefangenen beim Frühstück zusah, hatte eine Stinkwut im Leibe. Die Sommerglut bekam ihm nicht, er fühlte Kopfschmerzen. Es schien ihm auch, daß der Herr Hauptwachtmeister ihm unfreundlich »Heiitler!« gewünscht habe. Vielleicht war das ein schlechtes Vorzeichen für seinen Beförderungs- und Versetzungsantrag, den er zu stellen gedachte. Jedenfalls, wenn sich ein Mensch nicht wohl fühlte, so mußte er dafür sorgen, daß andere sich noch weniger wohl fühlten. Das war das beste Rezept, um sich zu kurieren. Vürmann hatte diese Methode auf den Rat erfahrener Kollegen hin in der Praxis schon mehr als einmal mit Erfolg ausprobiert.

      Als die Gefangenen gefrühstückt hatten, wurden sie zum »staatspolitischen Unterricht« befohlen.

      Die Türen des Saales öffneten sich, und die Gefangenen gingen unter Bewachung in geordneter Reihe die Treppe hinunter in den Hof. Auch die Häftlinge aus den beiden anderen Sälen fanden sich hier ein.

      Die 82 Gefangenen wußten, daß sie sich der Größe nach im Hofe aufzustellen hatten, mit dem Gesicht dem Gebäude zugewandt. Vürmann stand der Reihe gegenüber und gab seine Befehle.

      »Rechtsum! – Kehrt! – Marsch! – Marsch marsch! Hinlegen! – Auf! – Hinlegen! – Auf –«

      Vürmann beobachtete Jan. Der Kerl hatte wohl kein Kopfweh. Der würde wohl niemals Kopfweh kriegen. Er machte seine Übungen weder zu gut noch zu schlecht. Nicht so schlecht, daß Vürmann ihn hätte anschreien können – nicht so gut, daß man hätte sagen können, er sei ein Speichellecker und Kriecher. Komischer Kerl. Vielleicht konnte noch etwas aus ihm werden. Er war zwar schwarzhaarig und dunkelhäutig – na ja –, aber das waren schließlich andere Randgermanen auch. Es konnten nicht alle die nordische Rasse so rein präsentieren wie die Kinder des Wachtmeisters Vürmann! Ein Kommunist – na ja –, wenn Vürmann ihn bekehrte – vielleicht war das gar nicht so schlecht. Der komische Kerl hatte doch mit offensichtlichem Interesse den »Völkischen Beobachter« gelesen! Vielleicht war er später als Spitzel unter den »Politischen« zu gebrauchen.

      »Hinlegen – – –!!«

      Vürmanns Stimme gellte durch die Stille des heißen Sonntagmorgens. In der Ferne ging ein Bauer vorüber. Er wandte den Kopf und schaute nach dem Drahtzaun, der den Hof des Arbeitslagers umgab.

      Als Vürmann den »staatspolitischen Unterricht« schloß, waren die Gefangenen erhitzt, übermüdet, erbittert. Vürmanns Kopfschmerzen aber hatten sich nicht gebessert. Die erprobtesten Rezepte nützten nichts mehr.

      Zum Mittagessen gab es für die Gefangenen Gulasch mit Salzkartoffeln.

      Jan aß bedächtig. Seine Nachbarn waren Christoph und Franz.

      Als Jan des Nachmittags beim Fenster hockte und seinen Strohsack flickte, kam der Schlossergeselle langsam herbei.

      »Also machen wir das dann!« sagte er zu Jan. »Schon wegen dem Schwein, dem Vürmann. Bring aber saftige.«

      Jan nickte.

      »Morgen oder übermorgen kann ich dir den Kram geben. Halt aber auf alle Fälle die Schnauze. Von mir hast du ihn nicht. Verstanden.«

      Jan nickte und flickte weiter.

      Der Sonntagnachmittag schlich dahin. Als sich der Tag dem Abend zuneigte, wurden die Gefangenen unruhig. Die Vorstellung, daß sie nach einem Sonntag, der durch Vürmanns Schuld kein Ruhetag gewesen war, am folgenden Morgen die schwere Arbeit im Moor wieder aufnehmen mußten, zerrte an ihren Nerven und machte ihnen ihre Abspannung und Müdigkeit noch mehr als sonst bewußt. Von fernher war irgendeine Melodie durch die schwüle Luft gedrungen und hatte alle sehnsüchtigen und überreizten Empfindungen geweckt.

      »Warum die wieder nicht geschrieben haben?« sagte Franz zu Jan. »Mein Brief muß doch dort sein. Bei der Postverteilung gestern hätte ich die Antwort schon haben können, wenn sie gleich geschrieben hätten.«

      Die Gefangenen durften alle zwei Monate einen Brief nach Hause schreiben und alle vier Wochen einen Brief empfangen.

      »Du kannst ja selber mal nachsehen, was los ist«, meinte Jan.

      »Witze!« antwortete Franz gereizt und gekränkt.

      »Würdest du mitkommen, wenn ich nach Frankreich und von da nach Spanien ginge?«

      »Mensch, was – quatschst du da?«

      »Sie kämpfen dort.« Jan holte das Zeitungsblatt und gab es Franz zu lesen. »Sie stellen internationale Brigaden zusammen!«

      Franz las zweimal, dreimal. Er konnte sich von der kurzen Notiz gar nicht trennen. »Wo hast du denn das her?« fragte er Jan, ohne ihn anzusehen.

      »Von Vürmann.«

      »Der Idiot. Spanien? Du hast recht. Da gehören wir hin. Mit unseren Brigaden kämpfen … Aber …«

      »Ich denke, der Christoph kann uns Papiere in Hamburg verschaffen.«

      »Was? Soweit seid ihr schon?«

      »Nächsten Sonntag machen wir den ›staatspolitischen Unterricht‹ nicht mehr mit, Franz.«

      »Mensch, Mensch … ist außer Christoph noch einer dabei?«

      »Nein. Wir drei sind mehr als genug.«

      »Hm. Wir drei … aber sobald sie es merken, wird sofort alles alarmiert, die ganze Polizei … und wir sitzen nur in der Mausefalle.«

      »Wo werden sie uns suchen?


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