Zeitschrift für kritische Theorie / Zeitschrift für kritische Theorie, Heft 36/37. Thomas Jung

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Zeitschrift für kritische Theorie / Zeitschrift für kritische Theorie, Heft 36/37 - Thomas Jung


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auch den neuen gedanklichen Vorausetzungen gemäß verändern, ihnen anverwandeln. »Motive« werden dabei die messianischen Offenbarungen in einem genauen Sinn: Beweggründe des menschlichen Handelns, in dem allein, wenn irgend, sich jene Hoffnung verwirklichen können.

      Der Gang vom Messianismus zu den messianischen Motiven ist ein Prozess der Säkularisation. Verweltlicht werden die Ziele durch rationale Begründung und die Mittel als menschliche Taten. Wer freilich Motive ausmachen will, die sich einer Säkularisierung von Vorstellungen über das Wirken des Messias verdanken, muss sich zunächst im Klaren darüber sein, dass es »den Messias« in der Religionsgeschichte nicht gibt. Zu unterscheiden sind zumindest der jüdische und der christliche Messianismus, wobei sich auch im Islam messianische Vorstellungen finden lassen.15 Selbst »innerhalb des Judentums wie innerhalb des Christentums [existieren] unterschiedliche Messias-Vorstellungen mit gänzlich verschiedenen Zeit-, Zwischenzeit-, Epochen-, Geschichts-, Reichs- und Weltvorstellungen nebeneinander […], und zwar schon in den Quelltexten der jeweiligen heiligen Schriften.«16 Wir beschränken uns hier auf biblische Texte,17 wobei sich im Hinblick auf unsere Absicht zwei Fragestellungen unterscheiden lassen. Die eine betrifft die Gestalt des Messias, sein Verhältnis zum historischen Geschehen und die Begleitumstände seines Auftretens. Die andere Fragestellung betrifft die Verheißungen, die sich an sein Auftreten knüpfen, die Bestimmungen des messianischen Zustands.

       2.2 Das Werk des Messias: Gerechtigkeit und Friede

      Diese Bestimmungen des messianischen Zustands lassen sich unter den Begriffen der Gerechtigkeit, der Frömmigkeit und des Friedens zusammenfassen. Im messianischen Zustand gibt es keine Abgötterei und keinen Verstoß gegen die göttlichen Gebote. Es gibt somit keine Ungerechtigkeit, insbesondere keine Ausbeutung.18 Vom Friedensfürsten heißt es in Psalm 72: »Er soll den Elenden im Volk Recht schaffen und den Armen helfen und die Bedränger zermalmen. […] er wird den Armen erretten, der um Hilfe schreit, und den Elenden, der keinen Helfer hat. […] Er wird sie aus Bedrückung und Frevel erlösen […].« Ein solcher durch Gerechtigkeit geschaffener sozialer Friede ist das erste messianische Motiv, dem sich eine säkulare, von theologischen Voraussetzungen unabhängige Form geben lässt.

      Die Vorstellung des sozialen Friedens ist schon in den biblischen Verheißungen eingebettet in die Utopie eines Völkerfriedens. Die eindrucksvollste Stelle findet sich bei Micha, der in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts wirkte (sie ist von seinem Zeitgenossen, dem ersten Jesaja übernommen worden): Der Herr »wird unter großen Völkern richten und viele Heiden zurechtweisen in fernen Landen. Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen. Es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben […]« (Micha 4, 3 f.). Bemerkenswert an solchen Visionen – man denke an Deuterojesaja 45, 22 f. und 49, 6 – ist ihre universalistische Dimension, die philosophisch vor allem von Hermann Cohen hervorgehoben wurde.19 Schließlich ist die Friedensutopie bei einigen Propheten auch auf die den Menschen umgebende Natur ausgedehnt: Da »werden die Wölfe bei den Lämmern wohnen und die Panther bei den Böcken lagern. Ein kleiner Knabe wird Kälber und junge Löwen und Mastvieh miteinander treiben« (Jesaja 11, 1-9).

       2.3 Messianismus und Eschatologie; Auferstehung

      Der Friede in und mit der Natur ist das letzte Motiv, das in der neueren Philosophie verweltlicht wurde. Nicht schon in der Aufklärung, sondern erst unter dem Eindruck der mit der Industrialisierung unvorhersehbar gesteigerten Naturbeherrschung wird der Naturfriede zu einem Moment der Utopie, die in menschlicher Praxis wirklich werden muss. Es nimmt mit Tritojesaja eine eschatologische Form an: »Siehe, ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen, dass man der vorigen nicht mehr gedenken und sie nicht mehr zu Herzen nehmen wird« (Jes. 65, 17). Die messianische Utopie tritt in Beziehung zur Vorstellung des Endes aller Tage, der letzten Dinge, so zum ersten Mal bei Deuterojesaja (51, 6), aus den letzten Jahren des babylonischen Exils.20 Vom zweiten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung bis ins erste Jahrhundert n. Chr. wird die Eschatologie in einer weit verzweigten apokalyptischen Literatur ausgearbeitet, von der nur das Buch Daniel kanonisch wurde. Die Katastrophen, die als geschichtliche in Form sozialer Bedrückung und kriegerischer Eroberungen, Zerstörung und Verschleppung dem Kommen des Messias vorausgehen, erhalten in der Eschatologie eine kosmische Dimension. Ideengeschichtlich ist diese Weiterung auf den Einfluss der persischen Religion zurückzuführen, die den jüdischen Eliten im babylonischen Exil bekannt wurde. Die Vereinigung der Messias-Tradition mit der Eschatologie hat zu unterschiedlichen Konzeptionen geführt.21

      Mit der Eschatologie verbindet sich ein Motiv, das für unsere Säkularisierungsproblematik von entscheidender Bedeutung ist: die Auferstehung der Toten und der Sieg über den Tod. Eine Schlüsselstelle findet sich im Buch Daniel aus der Mitte des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts: »Zu jener Zeit wird dein Volk gerettet werden, alle die im Buch geschrieben stehen. Und viele, die unter der Erde schlafen liegen, werden aufwachen, die einem zum ewigen Leben, die anderen zu ewiger Schmach und Schande« (Daniel, 12, 1 f.). Schließlich wird die Verheißung von der Wiederkehr Christi mit dem Gedanken der Auferstehung, des Totengerichts und des endgültigen Siegs über den Tod verbunden. Die Offenbarung des Johannes nimmt das Gesicht (die Vision) des dritten Jesaja auf: »Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde […] und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein, denn das Erste ist vergangen. […] Siehe, ich mache alles neu!« (20,1-59).

       2.4 Säkularisierung der messianischen Eschatologie bei Walter Benjamin

      Auf den ersten Blick lässt sich die Vorstellung von Auferstehung und Sieg über den Tod nicht mehr säkularisieren. Tatsächlich aber ist eben dies in Benjamins Geschichtsdenken unter den Begriffen der Rettung, des Eingedenkens und der Aktualisierung (Vergegenwärtigung) geschehen. Diese Transformation der Auferstehungshoffnung ins Historische hat auf die Stellung zum Messianischen insbesondere bei Adorno einen unübersehbaren Einfluss, wenn sie auch keineswegs unmittelbar übernommen wird. Für Benjamin ist in seiner materialistischen Phase der messianische Begriff der Erlösung von dem historischen der Befreiung nicht zu unterscheiden. Die klassenlose Gesellschaft, um die der historisch-revolutionäre Kampf geführt wird, ist eine »Welt allseitiger und integraler Aktualität.«22 In ihr gibt es universale Erinnerung oder vielmehr ein Eingedenken, in dem das Vergangene »zitiert«, vollzogen und so vergegenwärtigt und in diesem Sinne auch verlebendigt wird. Das bringt die dritte These über den Begriff der Geschichte zum Ausdruck:

      »Der Chronist, welcher die Ereignisse hergezählt, ohne große und kleine zu unterscheiden, trägt damit der Wahrheit Rechnung, daß nichts, was sich jemals ereignet hat, für die Geschichte verloren zu geben ist. Freilich fällt erst der erlösten Menschheit die Vergangenheit vollauf zu. Das will sagen: erst der erlösten Menschheit ist ihre Vergangenheit in jedem ihrer Momente zitierbar geworden. Jeder ihrer gelebten Augenblicke wird zu einer citation à l’ordre du jour – welcher Tag eben der jüngste ist.«23

      Im Unterschied zum eschatologischen Vergessen des Alten ist der Stand der Erlösung für Benjamin eine historische Existenz: »Die ewige Lampe ist ein Bild echter historischer Existenz. Sie ist das Bild der erlösten Menschheit – der Flamme, die am jüngsten Tag entzündet wird und ihre Nahrung an allem findet, was sich jemals unter Menschen begeben hat.«24

      Natürlich liegt der Einwand nahe, dass auch eine solche historische Transformation der Auferstehungshoffnung die Toten nicht wirklich lebendig macht und die eschatologische Vorstellung sich somit nicht ohne Rest säkularisieren lässt. Während wir bei der Utopie des Friedens wenigstens denken können, dass ihre Verwirklichung das Resultat menschlicher Anstrengung ist, und wir einzelne Schritte angeben können, die uns diesem Ziel vielleicht näher bringen, kann dies für die Hoffnung gegen die Endgültigkeit des Todes nicht gelingen. Wir müssen also damit rechnen, dass sich an die Gestalt des Messias eschatologische Hoffnungen knüpfen, die sich nicht ohne Rest säkularisieren lassen, ohne darum an Berechtigung und Bedeutung zu verlieren.

       2.5 Die Gestalt des Messias, Art und Umstände seines Eingreifens

      Auch was die Gestalt des Messias und die Weise seines Auftretens betrifft, lassen sich der biblischen Tradition Bestimmungen entnehmen, die sich als messianische Motive bei Benjamin (sowie bei Adorno und


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