Spenglers Nachleben. Группа авторов

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Erfahrung, mit Hilfe derer sich die variable Verschränkung von Erfahrung und Historie erfassen ließe. Zu dem Zwecke wird ein dreischichtiges Erfahrungsmodell vorgeschlagen, das nicht von ungefähr an Fernand Braudels dreischichtiges Zeitenmodell erinnert. Es gibt erstens unmittelbare Erfahrungen, die aufgrund der plötzlichen Differenz zwischen Vorher und Nachher ein Novum anzeigen, zweitens mittelfristige Erfahrungen, die vorangegangene Erfahrungen bestätigen und dadurch erfahrungsstabilisierend wirken, und drittens langfristige Erfahrungen wachsender Andersartigkeit, aufgrund derer frühere Erfahrungen hinterfragt und modifiziert werden müssen. Der kurzfristigen Überraschung folgt die mittelfristige Wiederholung und schließlich die langfristige Entfremdung. Letztere ist ein Novum auf höherer Ebene, das zur »rückwirkenden Entdeckung einer ganz andersartigen Vergangenheit«23 führt. Kurzum, es gibt das Neue, sodann das aus der Wiederholung des Neuen entstehende Alte, und schließlich die Notwendigkeit, das Alte wiederum neu zu sehen.

      Diesen Erfahrungsweisen korrespondieren drei Arten methodischer Verarbeitung: Aufschreiben, Fortschreiben und Umschreiben (trennbares Präfix, Betonung auf der ersten Silbe). »Das Aufschreiben ist ein erstmaliger Akt, das Fortschreiben akkumuliert Zeitfristen, das Umschreiben korrigiert beides, das Auf- und Fortgeschriebene, um rückwirkend eine neue Geschichte daraus hervorgehen zu lassen.«24 Trotz ähnlicher Formulierungen gibt es keine feste Zuordnung von Erfahrungsmodus und Darstellungsweise. Weder erschöpft sich die unmittelbare Erfahrung im bloßen Beschreiben eines kontingenten Ereignisses, noch ist die umfassende Revision akkumulierter Erfahrungen immer schon und ausschließlich eine Sache des Umschreibens. Hier kann man mit Blick auf Spengler und Kittler den Begriff der Katastrophe fruchtbar machen – und das übrigens analog zu der Weise, in der Karl Heinz Bohrer in einem ähnlichen Zusammenhang auf die Kategorie der »Plötzlichkeit« rekurriert.25 Die Katastrophe erlaubt den direkten Durchgriff von der obersten auf die unterste Ebene historischer Erfahrbarkeit, also von der unmittelbaren Erfahrung auf die Umwandlung langfristiger Erwartungsstrukturen. Nicht nur erfahre ich hier und jetzt, dass etwas Neues geschieht; hier und jetzt wird schlagartig klar, dass es immer schon anders war. Dieser Implosion der Erfahrungsebenen entspricht auf der Darstellungsebene das Vermischen von Beschreiben und Umschreiben. Man denke an Goethes Versuch, am Abend der verlorenen Schlacht von Valmy die trübe Stimmung unter den Koalitionstruppen durch die Versicherung epochaler Zeugenschaft anzuheben: »Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen.« Ob das damals eine aufpäppelnde Wirkung hatte, darf bezweifelt werden. Entscheidend ist, dass Goethes unerhörtes Weltereignis durch den Ausblick auf eine neue Zukunft eine neue Vergangenheit hinter sich abschließt. Die Französische Revolution hat sehr viel weniger Freiheit und Brüderlichkeit in die Welt gesetzt als von ihr behauptet, von der Gleichheit ganz zu schweigen, aber einen durchschlagenden Erfolg kann man ihr nicht absprechen: die Erschaffung des – von ihr so genannten – ancien régime. Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, wodurch die alte rückwirkend anders erscheint. Und genau das geschieht auch in Spenglers Kurzschluss von Zukunftsprognostik und Gegenwartsdiagnostik. Angesichts der Katastrophe entdeckt man auf dem Umweg über eine neue, bislang unverstandene Zukunft eine neue, bislang missverstandene Gegenwart, die dementsprechend neu erfahren, beschrieben und im Sinne Kosellecks umgeschrieben werden muss.

      Das Beschreiben ist also immer schon ein Umschreiben, wenn und weil die Umschreibung aus der Beschreibung eines unerhörten Zäsurphänomens besteht. Hier steckt eine signifikante rhetorische Ähnlichkeit zwischen Spengler und Kittler. Trotz aller stilistischen Unterschiede ist ihr präzeptoraler Zeigestockgestus – eine moderne Variante prophetischen Bänkelsängertums – identisch: Kittlers inflationärem Gebrauch von Ausdrücken wie ›einfach‹, ›einfach nur‹ oder ›nichts als‹, von seiner Markenzeichen-Vokabel ›selbstredend‹ ganz zu schweigen (ist nicht der gesamte Theoriebestand Kittlers eine einzige Umschreibung – nicht trennbares Präfix, Betonung auf der zweiten Silbe – dieses Wortes? Also die Beschwörung dessen, was keinerlei Interpretation bedarf, weil es sich selbst und sein technisches Arrangement darstellt, entbirgt, vollzieht und zur Sprache bringt) – all das entspricht Spenglers nicht minder inflationärem Gebrauch raunender Passivphrasen, dieses oder jenes weltgeschichtliche Datum sei ›noch nie‹ oder ›hier zum ersten Mal‹ entdeckt, erblickt, erkannt. Sowohl Kittlers selbstredender Klartext als auch Spenglers an Goethes gegenständlicher Denkweise geschulte physiognomische Optik inszenieren den unmittelbaren Durchblick auf ein tieferes, eigengesetzliches Level, welches die oberflächlichen Ereignis- und Meinungsebenen strukturiert. Dem tiefen Blick auf Form und Gestalt entspricht ein halbes Jahrhundert später der kalte Blick auf Gestell und Schaltkreis.26

      Um auf den martialischen Nexus von Krieg und Geschichte zurückzukommen – auf den kürzesten Nenner gebracht lautet Kosellecks Grundthese: Geschichte ist, wenn es anders kommt. Mit dem entscheidenden Zusatz allerdings, dass der Grad der Andersartigkeit nicht davon abhängt, wie lange vorher alles beim Alten geblieben ist. Der geschichtserzeugende Überraschungseffekt entsteht vielmehr durch das unerwartete Abweichen von bewussten Plänen, Projekten und Unternehmungen. Daher die nötige Ergänzung: Geschichte ist, wenn es anders kommt als geplant. Das klingt reichlich trivial, aber man muss sich vor Augen halten, was alles geschehen musste, um die Erklärung dessen, was auf kollektiver Ebene geschieht, aus der Domäne der Götter und anderer schicksalhafter Obrigkeitsinstanzen in den menschlich-politischen Zuständigkeitsbereich zu überführen. Die Emergenz der Historie – Günther Anders spricht vom Entspringen der Geschichte aus einem »geschichtsneutralen Zeitbrei«27 – ist an die Emergenz der Politik geknüpft, und es ist vor allem der Krieg, der diesen Knoten schürzt. Es plant ja niemand, einen Krieg zu verlieren. In den Leitbegriffen Kosellecks: Erwartung und Erfahrung treten in Kriegszeiten auf derart drastische Weise auseinander, dass es unumgänglich wird, ihre Differenz methodisch zu reflektieren. »Im Besiegtsein liegt offenbar ein unausschöpfbares Potential des Erkenntnisgewinns.«28

      Hier melden sich Althistoriker zu Wort.29 Wenn Geschichte das ist, was anders kommt als geplant, so gilt, dass es nirgendwann und nirgendwo auf dermaßen euphorische wie katastrophale Weise anders als erwartet zugegangen ist als zwischen dem sechsten und vierten vorchristlichen Jahrhundert in Athen. Die Zeit, die Athen erlebt, gleicht der, die Thomas Manns Teufel seinem Klienten Adrian Leverkühn verspricht: »Große Zeit, tolle Zeit, ganz verteufelte Zeit, in der es hoch und überhoch hergeht – und auch wieder ein bißchen miserabel natürlich, sogar tief miserabel«, eine Mischung aus »Erleuchtungen, Erfahrungen von Enthobenheit und Entfesselung« einerseits und »Leere und Öde und unvermögende[r] Traurigkeit« andererseits.30 Es gibt Marathon und Salamis, das Silber von Laurion und das Parthenon; und dann gibt es die Belagerung mitsamt Pest, das Desaster von Syrakus und die Ankunft Lysanders. Die vom Sieg über die Perser befeuerte machtpolitische Hybris Athens, das in den schönen Worten Christian Meiers quasi über Nacht vom »Kanton zur Weltmacht« aufsteigt, stößt in der Auseinandersetzung mit Sparta auf die Nemesis des unkontrollierbaren Krieges, der so gänzlich anders verläuft als von Perikles geplant. Um Kosellecks Leitdifferenz von Erwartung und Erfahrung durch das dramatischere Begriffspaar Heinz Dieter Kittsteiners zu ersetzen: Hart im politischen Raum, und am härtesten im kriegerischen, stößt Machbarkeit auf Unverfügbarkeit. Und deswegen gibt es in Athen auch Herodot und Thukydides, die kriegsverstörten Patriarchen der Historiografie. Letzterer ist der modellprägende Typus des Verlierer-Historikers. Wie Spengler beginnt Thukydides seinen Krieg und seine Kriegsgeschichte mit großer Zuversicht, und analog zu Spengler sieht er sich gezwungen, hundert veraltete und kurzatmige Erklärungen, die Herodotus noch etwas wahllos aneinandergereiht hatte, über Bord zu werfen, um das Unerwartete auf eine neue, historiografisch komplexere Weise zu erfassen. Anders als Spengler ist Thukydides direkt beteiligt, nämlich als General auf der Verliererseite, der noch dazu von seiner eigenen Stadt ins Exil geschickt wird, weil er es versäumt, das mit Athen verbündete, belagerte Amphipolis rechtzeitig zu entsetzen. Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben mit der Auflage, Historiker zu werden.31

      Und Kittler wäre nicht er selbst, hätte er das alles nicht auf die ihm eigene spitzbübische Weise nebenbei ausgeplaudert. In einem Gespräch über die rumänische Revolution,32 die seinerzeit unter Federführung Vilém Flussers als primär medial gesteuertes Ereignis rezipiert wurde, stellt Kittler die These auf, Nicolae Ceauşescu und seine Securitate seien derart auf Schreibmaschinen


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