Spenglers Nachleben. Группа авторов
Читать онлайн книгу.gehen Hand in Hand: Erstere erkennt man anhand letzterer, eben weil letztere sich ersteren verdanken: »Aber wir könnten keine geologischen Schichten unterscheiden, wenn sie nicht durch Katastrophen unbekannter Art und Herkunft getrennt wären, und keine Arten fossiler Tiere, wenn sie nicht plötzlich auftauchten und sich unverändert bis zu ihrem Aussterben hielten.«45 Wir haben es bei Spengler letztlich mit einer in der deutschen paläontologischen Tradition häufig anzutreffenden Mischung aus Saltationismus, Orthogenetik und Typenlehre zu tun. Die Evolution verläuft sprunghaft und mit scharfen Brüchen; Entstehung und Entwicklung der diversen Taxa verdanken sich Eigengesetzlichkeiten oder »Entelechien«; und die Typen oder Taxa bleiben von Anfang bis Ende relativ stabil.
Meine vorläufige und sehr ausbaubedürftige These – die oben in der 9. und 10. Parallele angedeutet wurde – ist, dass Kittler diese im paläontologischen Zusammenhang sehr klar formulierte Denkform auf dem Umweg über Foucault mediengeschichtlich reproduziert. So wie Spengler sich im Untergang des Abendlandes beim Mutationsexperten Hugo de Vries und in späteren Jahren bei seinem Münchner Mitbewohner und paläontologisch versierten Verehrer Edgar Dacqué evolutionstheoretisch absichert, so greift Kittler auf Foucault zurück.46 Der Foucault von Les mots et les choses – dessen historischer Größe man gerecht wird, wenn man ihn als Revenant des großen Katastrophisten Cuvier erkennt – bietet eine Form der Chronotomie, in der als Alternative zur horizontalen Teilung Braudels die Geschichte vertikal zerschnitten wird.47 Damit wird nicht nur den üblichen Megasubjekten – Mensch, Subjekt, Säkularisation, Weltgeist, Proletariat, Differenzierung, Liberalismus – der nötige Zeitraum zur Entfaltung entzogen, im Verlaufe der für Kittler so attraktiven dramatischen Wechsel von Diskursdämmerungen und -morgenröten tauchen ›plötzlich‹ epistemische Raster auf, die, einmal in Gang gesetzt, nach den Eigengesetzlichkeiten eines historischen Apriori ablaufen und bis zu ihrem Aussterben relativ stabil bleiben. Dieser typologische angehauchte Diskurskatastrophismus Foucaults wird (›selbstredend‹ unter dem Einfluss der seinsgeschichtlichen Zäsuren Heideggers) von der Medienwissenschaft Kittlerscher Prägung technisch geerdet. Kein Wunder, dass auch Kittler mit Darwin wenig anfangen konnte: nichts lag ihm weniger als die scheinbar abgeschmackte Mischung von Kontinuitäts- und Einflussdenken. Damit setzt Kittler eine Linie fort, die man von Spengler und Jünger her kennt: politische Umbrüche, einschließlich der Kriegskatastrophe, werden in eine subpolitische, evolutionäre Basisabfolge verlegt, die zuerst biologisch, dann (wie bei Jünger) mit einer Mischung aus Technik und Biologie und schließlich technologisch beschrieben wird.
Das unheimliche Usedom
Damit sind wir beim heikelsten Kriegs-M Kittlers, der Motivation. Woher stammt seine Umschreibung? Welches Valmy gab den Ausschlag? Es beginnt mit einer Selbststilisierung Weimarer Provenienz. So wie Goethe zu Anfang von Dichtung und Wahrheit die Eminenz seines Zurweltkommens am 28. August 1749 an allerlei planetarischen Konstellationen abliest, so betont Kittler gleich im ersten Satz seiner autobiografischen Vignette Biogeographie die kriegsgeschichtliche Signifikanz seines Geburtsdatums, des 12. Juni 1943: »Ich […] geboren am Tag, als Lampedusa kapitulierte, in die Festung Europa also eine erste Bresche geschlagen war.«48 Ganz stimmt das nicht, denn die größere Mittelmeerinsel Pantelleria war im Zuge der Operation Corkscrew bereits tags zuvor besetzt worden. Doch geht es hier weniger um korrekte Daten als um passende Präpositionen: Kittler ist nicht während des Krieges geboren, sondern in ihn hinein – und die Frage drängt sich auf, ob er je ganz aus ihm herausgekommen ist, zumal er schon als Kind immer wieder in ihn zurückgestoßen wurde.
1953, 1954, 1956 und 1958 verbringt der junge Kittler die Sommerferien im Badeort Zempin auf Usedom. (Am Ende des letzten Urlaubes, an dem zum Erstaunen der Kinder der Vater teilgenommen hatte, setzt sich die Familie in den Westen ab.49) Biogeographie beschwört das Unheimliche von Usedom, das immer schon das Unheimliche des Krieges ist. Bereits während der Anfahrt erscheint im Abteilfenster die kleine DDR in bellizistischer Mehrfachbelichtung als Endkampfgebiet des vergangenen Zweiten und Erstkampfzone des anstehenden Dritten Weltkriegs. Usedom selbst entpuppt sich als Lokaltermin des militärtechnischen Weltgeistes, wo vergangene und zukünftige Kriege wörtlich auf der Straße liegen:
Denn dort, auf Usedom, begann die strategische Gegenwart. Unter einer Tarnkappe aus Vorpommern, Schilfdächern und Syberbergs Heimweh war jeder Waldweg zur Weltkriegsrollbahn ausgebaut. Betonplatten (wie auf den ältesten Bundesautobahnen) mit Asphalt verfugt und von den Bomben der Royal Air Force, eine ganze Sommernacht lang, auch noch kubistisch aufgeworfen. Dieser heiße, für Urlaubsdörfer seltsam aufwendige Beton trug jeden Morgen die Reichsbahner vom FDGB-Heim Zempin ihrem Ostseestrandkorb zu. Daß derselbe Beton auch Meilerwagen mit montierter V2 zum Prüfstand VII getragen und dasselbe Dorf Wernher von Brauns Privathaus gestellt hatte, blieb antifaschistisch stumme Vorgeschichte.50
Wäre der Begriff nicht so verschlissen, könnte man hier fast von einem Trauma sprechen, liefe man dabei nicht Gefahr, das Unheimliche mit dem Verheimlichten zu vermischen.51 Ganz so kryptisch versiegelt ist Usedom freilich nicht; einige Jahre später produzierte Kittler in einem not coincidentally englischen Interview Klartext:
[F]rom my early childhood, my mother often took me to the shore in East Germany where Hitler’s V2 rockets were developed during the Second World War. However, what fascinated me most about these sites and rockets was the fact that no one said a word about them. And yet the traces of this particular aspect of the German military-industrial complex […] were everywhere. And so I had to find my own explanation for this hidden part of history. But it was difficult to do so because it was almost forbidden to talk about the military-industrial complex in East Germany or even speak about the German side of the war effort more generally, and especially anything that touched upon the technological side.52
Die Umschreibung des Krieges beginnt mit einer Reaktion auf die staatlich verordnete Verheimlichung deutscher Kriegsleistungen auf technischem Gebiet. Das ist zum Teil »Techno-Patriotismus«53 und zum Teil Provokation, um – eine der anstößigsten Formulierungen Kittlers – von der »Auschwitztheoretischen«54 Kriegsanalyse abzurücken. Im Kern geht es jedoch wie bei Spengler um die Erschließung einer Kriegsebene, die allen nationalen, politischen und ideologischen événements unterliegt. Am Ende steht die pynchoneske Umschreibung des Krieges. Dass Kittler dem lebenden Schriftsteller Thomas Pynchon die Reverenz erwies, die er ansonsten toten Ingenieuren vorbehielt, verdankte sich der Wirkung von Gravity’s Rainbow als Antidot gegen ›antifaschistische‹ und sonstige Schweigegebote. Denn was ist der Zweite Weltkrieg im Roman? Wenig Politik, dafür umso mehr Paranoia und vor allem viel Industrie und Technik:
[T]his war was never political at all, the politics was all theatre, all just to keep the people distracted … secretly, it was being dictated instead by the needs of technology […] The real crises were crises of allocation and priority, not among firms – it was only staged to look that way – but among the different Technologies, Plastics, Electronics, Aircraft, and their needs which are understood only by the ruling elite.55
Was die Eliten (als seien sie Verlierer) bestenfalls verstehen, aber nicht lenken, ist der Krieg als beschleunigte Technologieproduktions- und -transferphase. So wie bei Jünger der Erste Weltkrieg die Emergenz einer planetarischen evolutionären Gestalt anzeigt, so indiziert bei Kittler der Zweite Weltkrieg die Emergenz eines globalen infrastrukturellen Gestells, das aus der kriegsbedingten Fusion deutscher Raketen- und alliierter Atom- und Computertechnik besteht. Der Krieg zwängt zusammen, was zusammen gehört: nuclear payload, computer-based self-directed guiding technology and missile-based delivery system. Das Zwanzigste Jahrhundert ist mithin eine ménage à trois aus Los Alamos, Bletchley Park und Peenemünde/Mittelbau-Dora, die auch dann erfolgt wäre, wenn die andere Seite den Krieg gewonnen hätte – so wie ein deutscher Sieg im Ersten Weltkrieg den Abstieg der faustischen Kultur in die unvermeidliche cäsaristische Maschinenendphase nicht hätte aufhalten können. Wer diese technotektonische Ebene verkennt und stattdessen den Krieg an den (Selbst)Beschreibungen von vermeintlichen Oberflächenévénements festmacht – Land A überfällt Land B, um Ideologie X zu besiegen oder Rohstoff Z zu ergattern –, ähnelt den Urlaubern von Usedom, die auf ihrem Weg zum Strandkorb keinen tieferen Blick haben für kubistisch zerbombte Betonplatten. Vielleicht wird Geschichte nicht mehr