Die Melodie des Mörders. Miriam Rademacher
Читать онлайн книгу.aus. Und schaut nach, ob ihr noch etwas Passendes für den dritten Hirten findet.«
Der Engel der Verkündigung, der normalerweise im Drogeriemarkt jobbte und Grace hieß, neigte lächelnd seinen goldgelockten Schopf, hakte sich bei Balthasar unter und führte den Alten zu einem Umzugskarton, der auf der vordersten Bank stand. Leichtes Gemurmel erhob sich, als alle Jaspers Anweisungen Folge leisteten. Jasper atmete tief durch und gesellte sich zu den Hirten, um ihrer Textprobe zu lauschen. Viel hatten sie nicht zu sagen, doch der Text unterschied sich deutlich von den Witzen, die sie bisher während dieser Probe zum Besten gegeben hatten.
Für einige Minuten wurde es friedlich in seiner kleinen Kirche, einem bescheidenen Bau aus der Nachkriegszeit. Dann erhob sich erneutes Stimmengewirr. Josef, verkörpert durch Unas Ehemann, Ralph Porter, hatte seine Textpassagen über Gebühr verlängert und sich damit den heiligen Zorn seiner Gattin zugezogen. Jasper ging zu ihnen an den Altar, in der Absicht, zwischen den Eltern des Heilands zu vermitteln.
»Es ist nicht richtig, wenn Josef mehr zu sagen hat als Maria«, rief Una, als sie Jasper kommen sah. Sie war puterrot angelaufen.
»Josef ist schließlich der Mann im Haus und dieses Weib hat ihm Hörner aufgesetzt. Ich wette, Maria durfte bei Josef überhaupt gar nichts mehr sagen«, verteidigte sich Ralph, doch er schien seine Worte nicht klug gewählt zu haben.
»Wer hat hier wem Hörner aufgesetzte, hä?«, schrie Una und warf ihrem Mann die Babypuppe, die sie gerade noch durch die Luft geschwenkt hatte, vor die Brust. Der Dialog schien soeben die Ebene des Krippenspiels verlassen zu haben.
»Immer mit der Ruhe«, sagte Jasper und meinte sich damit selbst genauso wie die beiden Zankhähne. »Und hör auf, mit der Puppe zu werfen, Una. Die ist eine Leihgabe und ihre kleine Besitzerin möchte sie in unbeschadetem Zustand zurückhaben. Ralph? Du hast den Text, der im Drehbuch steht und nicht eine Zeile mehr. Wenn du meinst, dass du im Stück zu kurz kommst, darfst du gerne am Heiligabend auch noch die Kollekte einsammeln.«
Ralph murrte zwar, reichte aber die nackte Babypuppe zurück an seine Frau und verhielt sich in den kommenden Minuten friedlich.
Währenddessen war der Geräuschpegel in der Kirche wieder angeschwollen. Die Hirten lachten schon wieder über irgendeinen niveaulosen Schenkelklopfer, die Könige verhandelten über ihre Umhänge, und über allem klimperte Clifford gerade erneut ein paar Töne auf der Orgel. Jasper wünschte sie alle zum Teufel und sich selbst vor seinen Kamin im Pfarrhaus und eine Tasse heißen Grogs als Dreingabe. Doch irgendwie schaffte er es, erst sich selbst und dann alle anderen erneut zur Ordnung zu rufen. Um Clifford brauchte er sich nicht zu bemühen. Sein Spiel brach kurz darauf dankenswerterweise mit einem leicht schrägen Akkord ab.
Für kurze Zeit arbeiteten alle harmonisch an der Darstellung der Heiligen Nacht. Doch dann brach ausgerechnet Norma einen Streit über das Bühnenbild vom Zaun, eine Diskussion an der sich jeder der Anwesenden beteiligte, woraufhin Jasper die Probe für beendet erklärte und alle aufforderte, den Kirchraum in einen ordentlichen Zustand zu versetzen, bevor sie sich bitte auf den Heimweg machten. Noch auf dem Weg zur Kirchentür stritten Una und Ralph darüber, wie viel Text dem Stiefvater des Jesuskindes gerechterweise zustand.
Jake, einer der Hirten, im Schlepptau seine chinesische Freundin Bo, die den König Kaspar aus dem Morgenland gab, was Jasper als herrlich absurd empfand, klopfte Jasper zum Abschied auf die Schulter. »Nimm es nicht so schwer. Es sind ja noch ein paar Tage bis Weihnachten. Dein Gott hatte auch nur eine Woche Zeit, um die ganze Welt auf Vordermann zu bringen. Da wirst du doch nicht vor einem Krippenspiel kapitulieren.«
Jasper musste grinsen und fühlte sich etwas getröstet. »Es ist nur wegen der Lautstärke. Ich bin kein Freund hoher Geräuschpegel.«
Bo nickte mitfühlend. »Wir sagen Baron, er soll die Gitarre nächstes Mal zu Hause lassen und sie erst zur Generalprobe wieder mitbringen. Oder vielleicht versucht er es doch noch mit einer Flöte?« Winkend verließen beide die Kirche und endlich kehrten wieder Ruhe und Frieden in Jaspers Kirche ein.
Es wurde so ruhig, dass Jasper Clifford oben auf dem Orgelboden fast vergessen hätte. Die Finger schon auf dem Lichtschalter rief er hinauf: »Clifford? Komm mit rüber zu mir, wir besprechen das, was du auf dem Herzen hast, am Kaminfeuer! Mrs Hobbs macht uns sicher einen heißen Grog!«
Die Antwort war Schweigen. Unwillig stapfte Jasper zu der schmalen Holztreppe und stieg die ersten Stufen hinauf.
»Clifford? Es ist schon spät! Mach Schluss da oben und lass uns zusammen einen Grog trinken!«
Wieder keine Antwort. Jasper stieg höher und befand sich bald in dem Raum hinter den Orgelpfeifen. Hier war der Platz des Organisten, hier häuften sich Notenhefte und manch anderer Krempel. Der Raum war fensterlos und dunkel, doch die Lampe über den Tasten des Instruments strahlte hell und ließ das Elfenbein schimmern. Jasper sah, dass der Platz vor der Orgel verlassen war. Doch vor dem leeren Stuhl lag etwas auf dem Boden. Etwas, das Jasper entfernt an ein biblisches Motiv erinnerte. Jemand schien unter einer schweren Last zusammengebrochen zu sein.
Eine böse Vorahnung befiel Jasper und sie sollte sich als richtig erweisen. Ein Blick auf den verwüsteten Scheitel des niedergestreckten Organisten und in seine erstarrten Gesichtszüge machte deutlich, dass hier ein Mensch den Tod gefunden hatte. Und auf dem Toten lag noch immer sein Mörder. Es war das tiefe D. Jasper sprang auf Clifford zu, wobei er es vermied, die Orgelpfeife zu berühren, griff nach dem Handgelenk und tastete nach dem Puls. Er fand keinen, tastete erneut und schloss für einen Moment die Augen, um nicht in die weit offenen des anderen blicken zu müssen. Seine Bemühungen waren sinnlos, und er wusste es.
Einen Moment lang hockte Jasper noch wie innerlich zu Eis erstarrt vor der Leiche seines Organisten, dann richtete er sich auf und seine Füße setzten sich wie von selbst in Bewegung. Wie er die Treppe heruntergekommen war, wusste er später nicht mehr zu sagen, auch der Weg bis zur Kirchentür blieb ihm nicht im Gedächtnis. Erst als er draußen stand und die nasse Kälte des Dezemberabends ihn frösteln ließ, war er wieder ganz Herr seines Handelns. Und er fand, dass sein Unterbewusstsein und seine Füße ihre Sache gut gemacht hatten, denn vor ihm erstrahlten in der Dunkelheit die hell erleuchteten Fenster des Gemeindehauses. Dort würde er die Hilfe finden, die er jetzt so dringend brauchte.
So schnell er konnte, rannte Jasper über den Kirchplatz. Das Pfarrhaus, der Ort, an dem es ein Telefon gegeben hätte, interessierte ihn nicht. Das, was er suchte, war dort hinter den erleuchteten Fenstern des Gemeindehauses zu finden. Dort wurde an diesem Samstagabend Salsa getanzt, und das war auch der Hauptgrund gewesen, die Probe in den Kirchraum zu verlegen.
Schon vor der Tür hörte Jasper die hektischen Rhythmen und Gelächter. Man amüsierte sich prächtig, und Jasper war nicht gekommen, um jemandem den Spaß zu verderben. Aber er würde den Tänzern ihren Lehrer entführen müssen. Seinen besten Freund und den einzigen Detektiv im ganzen Dorf, Colin Duffot.
Colin, der als Tanzlehrer im Ruhestand hierher nach Mittelengland gekommen war, hatte der Tanz hier wieder eingeholt. Zum Detektiv hatte ihn das Schicksal gemacht, das ihm in der Vergangenheit eine ganze Reihe von Mordopfern beschert hatte. Und jetzt war es wieder einmal so weit. Sein Freund musste ermitteln.
Pipes of Peace
Colin beobachtete interessiert das Treiben vor sich auf der Tanzfläche. Mary Bittner, eine attraktive Blondine und alte Bekannte von ihm, tanzte eng umschlungen mit einem Herrn, dessen Gesichtszüge eine auffällige Ähnlichkeit mit einem niedlichen Ferkel hatten. Seine Hautfarbe sah zudem nach erhöhtem Blutdruck aus, was angesichts seiner Körperfülle auch keineswegs verwunderlich war. Das ungleiche Paar genoss seine Bewegungen, die nicht einmal im Entferntesten an Salsa erinnerten, sichtlich. Colin korrigierte ihren Tanzstil nicht. Die beiden waren glücklich und zufrieden und Salsa spielte dabei gerade eine eher untergeordnete Rolle. Das rosige Ferkel erfreute sich an seiner attraktiven Eroberung und Mary schien selig. Vermutlich verfügte der kurznasige Dicke über ein ebenso dickes Bankkonto. Colin wusste, dass Mary Wert auf solche Dinge legte.
Weit weniger glücklich wirkte an diesem Abend der junge Sergeant Mike Dieber, und das ärgerte Colin. Er hatte den schlaksigen jungen Mann mit dem Bürstenschnitt