Die Melodie des Mörders. Miriam Rademacher

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Die Melodie des Mörders - Miriam Rademacher


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auf dem Orgelboden, Doktor«, riet Colin aufs Geratewohl. »Und ja, der Mann ist tot, und nein, es war kein Unfall.«

      »Das festzustellen dürfen Sie gerne mir überlassen, ich werde dafür bezahlt.« Mit diesen Worten schob sich der fast kahlköpfige Mann, den Colin auf knapp unter hundert schätzte, an ihm vorbei und erklomm die Stufen zum Tatort. Colin fragte sich, ob man auf die Schnelle keinen jüngeren Mediziner hatte bekommen können und dachte dann ein bisschen wehmütig an die Kriminalromane seiner Kindheit zurück. In denen war der Detektiv von den Ermittlern geradezu hofiert worden. Er konnte von Glück sagen, wenn man ihn nicht die Treppe hinunterstieß, wie Hoffer ihn gerade hatte wissen lassen. Beim Verlassen der Kirche zog Colin die Tür hinter sich zu und stand einen Moment auf dem gepflasterten Kirchhof. Nebel war aufgezogen und ließ die erleuchteten Fenster des Gemeindesaals und des nahen Pfarrhauses wie Postkartenmotive aussehen. Das Weihnachtsfest nahte und von Friede auf Erden war mal wieder keine Spur. An diesem Ort war soeben gemordet worden.

      Fröstelnd schlug Colin den Weg zum Gemeindesaal ein. Kein Mensch war zu sehen. Jasper ließ sich vermutlich, statt Kaffee zu kochen, von seiner Haushälterin mit einem Glas Grog aufpäppeln. Hoffer würde dieser Pause schnell ein Ende machen und Colin würde dem Freund nicht beistehen können. Er konnte Ruth unmöglich noch länger warten lassen.

      Tatsächlich traf er im Inneren des Gemeindehauses nur noch Ruth an, die schweigend leere Flaschen in eine Getränkekiste stellte, die sie auf ihrem Schoß spazieren fuhr. Mit einem Anflug schlechten Gewissens half Colin ihr rasch bei den letzten Handgriffen, wischte mit einem feuchten Lappen über Tische, rückte Stühle und löschte Kerzen. Ganz zum Schluss schaltete er die Musik aus, raffte seine CDs und die tragbare Musikanlage zusammen und verließ gemeinsam mit Ruth das Haus.

      Das Geräusch der Rollstuhlräder auf den nassen Steinen begleitete sie zu Mrs Greys Wagen, einem betagten Seat, den Colin leihweise für seine Zwecke nutzen durfte. Er half der kräftigen Frau auf den Beifahrersitz, verstaute Rolli und Unterrichtsmaterial im Kofferraum und setzte sich ans Steuer.

      Erst auf der Dorfstraße fiel das erste Wort zwischen ihnen.

      »Ist jemand gestorben?«, fragte Ruth und faltete ihre kräftigen Hände in ihrem Schoß.

      Colin hatte nicht vor, um den heißen Brei herumzureden. Nicht bei Ruth. Sie war ihm in der Vergangenheit schon oft eine Hilfe gewesen. Sie verfügte nicht nur über ein beeindruckendes Hintergrundwissen, wenn es um die Dorfbewohner ging, sie hatte auch einen scharfen Verstand und eine Gabe, die Dinge von allen Seiten zu betrachten.

      »Clifford St. Clare ist tot. Jemand hat ihm eine ausgemusterte Orgelpfeife über den Kopf gezogen. Jasper möchte, dass ich den Mörder seines Freundes und Organisten finde.«

      »Natürlich möchte er das. Nicht zuletzt, weil er dann ebenfalls wieder Detektiv spielen darf. Jasper ist so leicht zu durchschauen. Auch wenn der Tod Cliffords ihn wirklich getroffen haben wird. Die beiden mochten einander.« Ruth strich sich über ihren Bürstenschnitt, der ihr ein maskulines Aussehen verlieh, und fuhr fort, bevor Colin etwas sagen konnte. »Clifford war Jaspers Freund. Aber es war eine Freundschaft, in der eine gewisse Distanz gewahrt wurde. Jeder im Dorf versuchte, eine gewisse Distanz zu Clifford zu wahren. Aus Selbstschutz. Clifford war ein einsamer Mensch, der unter dieser Einsamkeit litt. Er nutzte jede Chance, um die Abende nicht allein verbringen zu müssen. Wenn man ihm keine Grenzen setzte, fand man ihn allabendlich auf der eigenen Sofakante vor. Jasper war in seiner Freundschaft zu Clifford genauso auf Abstand bedacht wie wir anderen auch.«

      Colin schaltete die Scheibenwischer ein, um den Nieselregen von der Windschutzscheibe zu vertreiben, und hoffte, dass Ruth weitersprechen würde. Als sie es nicht tat, hakte er nach: »Was weißt du noch über Clifford? Hatte er Familie? Stammt er aus dem Dorf oder ist er ein Zugezogener, so wie ich?«

      Ohne hinzusehen, wusste er, dass Ruth grinste. »Versuchst du mich zum Tratschen zu überreden, Colin? Du weißt, dass das nicht meine Art ist.«

      »Tratsch interessiert mich nicht so sehr wie Fakten. Wenn du mir Fakten über Clifford liefern kannst, besorge ich mir den Tratsch gerne woanders. Ich muss sowieso mal wieder dringend zum Friseur«, antwortete Colin und dachte dabei an Una, in deren Salon Gerüchte genauso gerne serviert wurden wie Kaffee. Und dann gab es schließlich auch noch Norma. Sie wusste über jeden etwas zu erzählen.

      »Die Fakten also oder dass, was ich dafür halte«, sagte Ruth gnädig. »Clifford ist hier geboren. Als kleiner Junge war er anhänglich, als Teenager penetrant, aber niemals bösartig. Er hatte nur eine furchtbare Angst davor, irgendwie übrig zu bleiben. Und genau das ist er dann natürlich. Er war nie verheiratet und wohnte in dem L-förmigen Bungalow, der so gar nicht ins Dorfbild passt. Er ist der letzte Nachkomme einer verarmten Adelsfamilie. Die Grundschule, an der wir gleich vorbeifahren, war einst Familienstammsitz, wurde aber schon vor Cliffords Geburt aufgegeben. Meines Wissens hat er keine lebenden Verwandten in der Nähe.«

      »Ein einsamer Geselle«, stellte Colin fest. »Aber hatte er Feinde?«

      Ruth schien einen Moment nachdenken zu müssen. Dann sagte sie: »Wenn er sich einen Feind gemacht hat, dann sicher nicht wissentlich. Clifford war ein herzensguter Trottel und wollte niemandem Böses. Was aber nicht ausschließt, dass er jemandem unbeabsichtigt zu nahe getreten sein kann. Hier ist er übrigens, zu unserer Rechten: der Stammsitz der St. Clares, heute das symbolische Ende der Kindheit.«

      Colin warf einen flüchtigen Blick auf den grauen Steinbau am Straßenrand und konzentrierte sich wieder aufs Fahren. Der Nebel wurde dichter. Um die Straßenlaternen und ihren beleuchteten Weihnachtsschmuck in Form großer Sterne erstrahlte ein heller Hof. Doch die Sicht verbesserte diese Lichtquelle nicht.

      »Clifford muss jemanden gegen sich aufgebracht haben«, stellte Colin fest. »Sein Mörder hat ihm die Riesenflöte nicht einfach nur aus einem Impuls heraus über den Schädel gezogen. Er hat mit aller Kraft auf ihn eingeschlagen. Er wollte ihn auf jeden Fall töten. Er muss Clifford sehr gehasst haben.«

      »Hass ist nicht immer ein Motiv für einen brutalen Mord«, wandte Ruth ein. »Was ist beispielsweise mit Neid? Oder Angst?«

      Colin runzelte nachdenklich die Stirn und bog in den Feldweg ein, der sie zu Ruths Bauernhof bringen würde. Dort würden ihre Doggendame Pony und ihr Ehemann Tom sie bereits sehnsüchtig erwarten.

      Erst als schon die Lichter des Hofes im Nebel auftauchten, formulierte er seine Gedanken aus: »Ist es denn denkbar, dass jemand Angst vor Clifford hatte? Was du gerade über ihn erzählt hast, klingt nicht danach. Und Neid? Auf einen einsamen Kirchenmusiker? Macht das Sinn?«

      »Es macht kaum weniger Sinn, als das Motiv des Hasses. Aber irgendetwas muss sich in Cliffords ödem Leben ereignet haben. Und du musst herausfinden, was es war, Colin. Beginne mit dem heutigen Tag und arbeite dich rückwärts durch sein Leben. Irgendwo da muss die Antwort auf die Frage nach dem Motiv sein. Hast du erst ein Motiv, ist der Mörder vielleicht nicht mehr weit, und du kannst Jasper seinen Kopf auf einem Silbertablett servieren.«

      »Ganz so biblisch wird Jasper es dann doch nicht von mir erwarten«, sagte Colin und hielt mitten auf dem Hof. Im selben Moment öffnete sich die Haustür und die hagere Gestalt eines Mannes im Blaumann näherte sich dem Wagen, wurde aber von einer gewaltigen Dogge überholt.

      »Hast du heute Abend überhaupt schon etwas gegessen, Colin? Möchtest du noch mit reinkommen?«, fragte Ruth, während sie sich vom Gurt befreite.

      »Nein und nein. Lieb von dir, aber ich kann mich Ponys stürmischen Zärtlichkeiten heute nicht mehr stellen. Ich merke, dass meine Kräfte nachlassen.«

      Im selben Augenblick wurde die Beifahrertür aufgerissen und Tom Dimbridge hob seine Frau aus dem Auto. Dabei rief er statt einer Begrüßung: »Da seid ihr ja endlich, ihr Nachtschwärmer! Colin, ich hatte schon Sorge, du bringst mir meine Frau überhaupt nicht mehr zurück.«

      »Wie albern, Tom. Spätestens zu Weihnachten bin ich immer wieder zu Hause«, erwiderte Ruth und schmiegte sich an ihren Ehemann. Colin sprang aus dem Auto und zerrte den Rollstuhl aus dem Kofferraum, doch da hatte Tom seine Frau schon über die Schwelle getragen. Rasch schob er das Vehikel hinterher.


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