Die Melodie des Mörders. Miriam Rademacher
Читать онлайн книгу.Colin versprach es und musste nun doch noch Ponys Liebesbekundungen über sich ergehen lassen, bevor es ihm gelang, zurück in den Wagen zu flüchten.
I saw Mama kissing Santa Claus
Als der Seat sich im Schneckentempo durch den Nebel auf Mrs Greys Haus zubewegte und neben dem Gartenzaun zum Stehen kam, fiel Colins Blick auf das Messingschild am Tor:
Colin Duffot
Tanzstunden und Ermittlungen aller Art
Unterricht und Problemlösung auf Anfrage
Er selbst hatte es kürzlich dort angeschraubt und war bei seinem Anblick noch immer von Ungläubigkeit und Stolz erfüllt. Er hatte ein neues Kapitel aufgeschlagen, hatte sich für einen Schlenker in seinem Lebensweg entschieden. In jungen Jahren war er sicher gewesen, dass die Gesellschaftstänze und die Freude an der Arbeit mit Menschen seinen Ansprüchen und seinem Ego genügen würden. Sein Lebensweg sollte über das Tanzparkett führen. Nie hatte er sich als Detektiv gesehen. Auch nicht, als seine Freunde und das Schicksal ihm klargemacht hatten, dass er ein Talent besaß, in den Bewegungen und im Verhalten seiner Mitmenschen zu lesen wie in einem Buch. Doch jetzt gefiel es ihm. Ja, es machte ihm Spaß, der Detektiv im Dorf zu sein. Fast noch mehr als der Tanzlehrer.
Sein Magen knurrte laut, als er durch den Vorgarten schritt, und erinnerte ihn an das versäumte Abendessen. Die Haustür öffnete sich, noch bevor er sie erreicht hatte, und auf der Schwelle erschien seine Vermieterin, Mrs Dorothy Grey, in einen geblümten Bademantel gehüllt. Ihre grauen Locken hatte sie unter ein Haarnetz geschoben, um eine Frisur zu schonen, die dies eigentlich kaum nötig hatte.
»Clifford St. Clare ist also tot? Ich mochte ihn gern«, sagte sie und hielt Colin die Tür auf.
Der trat sich rasch die Schuhe ab und sah Mrs Grey, die er seit dem Sommer Dorothy nennen durfte, verblüfft an. »Woher weißt du davon? Es ist nach Mitternacht. Schlafen die Buschtrommeln in Mittelengland niemals?«
»Niemals. Der Pfarrer hat angerufen und lässt ausrichten, dass er es dir sehr übel nimmt, dass du dich einfach verdrückt hast. Danach hat Norma angerufen und sich darüber beschwert, dass sie die Neuigkeit über die Tochter ihres ehemaligen Hausarztes Grumming erfahren musste. Und zum Schluss lässt Hoffer bestellen, dass du dich gefälligst raushalten sollst, er gedenkt, den Fall alleine zu lösen.«
»Warum rufen die nicht auf meinem Handy an?«, fragte Colin.
»Weil jeder weiß, dass du es nie bei dir trägst und nur alle Jubeljahre auflädst. Im Prinzip habe ich ja auch nichts dagegen, deine Sekretärin zu spielen. Aber vielleicht sollten wir Büroöffnungszeiten vereinbaren, meinst du nicht?«
Bevor Colin antworten konnte, knurrte sein Magen erneut. Dorothy Grey senkte den Blick und fixierte die Gegend um seinen Bauchnabel.
»Kein Abendbrot gehabt?«
»Ist irgendwie ausgefallen«, erwiderte Colin.
»Geh schon hinauf in dein Zimmer. Ich bring dir gleich ein paar Gurkensandwiches. Ich kann jetzt sowieso nicht mehr schlafen.«
»Auch wenn es mir leidtut, dich um den Schlaf gebracht zu haben, werden mich die Sandwiches vermutlich vor dem Hungertod bewahren«, erwiderte Colin dankbar und stieg die Treppe zum ersten Stock hinauf.
Im Flur brannte nur eine schwache Deckenleuchte. Colin öffnete leise die Tür zu seinem Zimmer, tastete sich vor bis zur altmodischen Messingstehlampe, deren Schirm ihn an Elefantenhaut erinnerte, und schaltete sie ein. In ihrem goldenen Licht wirkte das Zimmer mit den alten Ohrensesseln und der groß gemusterten Tapete aus den frühen Siebzigern gemütlich und einladend. Doch Colin bemerkte sofort, dass etwas fehlte. Es war Lucy. Sie lag nicht wie ein schlafender Botticelli-Engel auf seinem Bett, sie räkelte sich auch nicht in einem der Sessel. Einzig und allein Huey, sein geerbter Cockerspaniel, lag auf dem Bettvorleger und sah ihn mit trüben Augen an. War Lucy etwa in ihrem eigenen Zimmer, nur eine Tür weiter, bereits zu Bett gegangen? Allein? Ohne seine Heimkehr abzuwarten?
Colin seufzte und beugte sich zu Huey hinunter, um ihn hinter den Ohren zu kraulen. Irgendetwas hatte sich in den letzten Tagen zwischen ihm und Lucy verändert. Die Leichtigkeit, die einen Teil ihrer Liebe ausgemacht hatte, war verschwunden. Es war, als stünden ungesagte Worte zwischen ihnen, ja schlimmer noch: Es war, als gäbe es plötzlich nichts mehr zu sagen. Ob Lucy genauso empfand, wusste er nicht zu sagen, doch er spürte die Veränderung deutlich.
Colin überließ Huey wieder sich selbst und streckte sich. Der altvertraute Rückenschmerz, um dessen willen er eine längere berufliche Pause eingelegt hatte, meldete sich in den letzten Tagen auch wieder häufiger. Er sehnte sich nach einer Wärmflasche und den versprochenen Gurkensandwiches, doch er würde sich erst in einem der Ohrensessel niederlassen, nachdem er seiner jungen Geliebten wenigstens eine Gute Nacht gewünscht hatte. So verließ er sein Zimmer wieder und trat erneut auf den Flur. Fast zaghaft klopfte er an Lucys Tür.
Keine Reaktion.
Schlief sie wirklich schon?
»Sie ist ausgegangen und noch nicht nach Hause gekommen«, hörte er Dorothy Grey sagen, die in diesem Moment die Treppe heraufkam, in der Hand einen Teller mit Sandwiches.
»Ausgegangen? Wohin denn?«, fragte Colin. Außer dem Lost Anchor, der Stammkneipe, in der er sich regelmäßig mit Jasper zum Dartspielen traf, gab es seines Wissens kaum ansprechende Lokalitäten im Dorf. Ein Nachtleben existierte hier nicht. Und den Salsa-Abend im Gemeindehaus hatte Lucy nicht besucht, das stand fest.
»Hat sie nicht gesagt. Aber sie trug ein hübsches rosafarbenes Abendkleid und hochhackige Schuhe.« Seine Vermieterin zögerte einen Moment, bevor sie fortfuhr. »Sie wurde abgeholt.«
»Hast du zufällig gesehen, von wem?«, fragte Colin.
»Ein schwarzer Sportwagen. Sah sehr neu aus.«
»Aha«, erwiderte Colin, wandte Lucys Tür den Rücken zu und nahm Dorothy den Teller mit den Broten ab.
»Sie hat dir also keine Nachricht hinterlassen?«, fragte Dorothy vorsichtig, während Colin seine Zähne schon in das erste Sandwich schlug.
»Wenn, dann habe ich sie wohl übersehen«, erwiderte er kauend.
Dorothy Grey war eine pensionierte Lehrerin mit Taktgefühl. Sie fragte nicht weiter nach, sondern wünschte eine angenehme Nachtruhe und zog sich zurück.
Colin wünschte ihr ebenfalls eine von jetzt an ruhige Nacht und zog sich in sein Zimmer zurück, begleitet von dem festen Vorsatz, bald schlafen zu gehen. Doch nach seinem Nachtmahl stand ihm der Sinn nach einer Tasse Tee, die er, eine Wärmeflasche im Rücken und Huey zu seinen Füßen, im Sessel einnahm. Da es ihm schwerfiel, sich auf sein Buch zu konzentrieren, legte er es bald weg und löschte das Licht. Seine Finger, die die Gardine zur Seite schoben, damit er einen besseren Blick auf den Vorgarten und die Straße hatte, handelten eigenständig. Er sagte sich, dass es völlig normal war, nachts vor dem Zubettgehen noch eine Weile eine leere Straße zu beobachten.
Als der Tee ausgetrunken war, brühte er sich einen neuen auf. Und auf diesen folgte eine dritte Tasse. Noch immer gestand er sich nicht ein, was er da eigentlich trieb. Er erklärte sich selbst, dass er keinesfalls neugierig oder gar eifersüchtig, sondern lediglich besorgt sei. Und es war sein gutes Recht, sich Sorgen zu machen, wenn Lucy die ganze Nacht ausblieb. Als um halb vier in der Frühe ein schnittiger Sportwagen langsam näherkroch und vor dem Gartentor seiner Pension hielt, beugte er sich vor und bemühte sich, im Schein der Straßenlaterne einen Blick auf den Fahrer zu erhaschen. Doch er konnte gerade einmal dessen Profil ausmachen.
Dann stieg Lucy aus, öffnete das Gartentor, winkte der Person im Auto noch einmal kurz zu und verschwand aus seinem Blickfeld.
Seine Rückenschmerzen ignorierend, sprang Colin aus dem Sessel auf, lief durchs Zimmer und öffnete gerade die Tür, als Lucy, die Pumps in der einen, die Handtasche in der anderen, die Treppe hinaufgeschlichen kam. Er drückte den Lichtschalter der Deckenleuchte.
»Spät geworden?«, fragte er und versuchte