Leise Musik aus der Ferne. Manfred Eisner
Читать онлайн книгу.Johann und Ewald die schlimme Zeit überlebten. Hans-Peter hält die Hand seiner Frau Annette, während Clarissa still auf den Knien ihres Patenonkels sitzt und mit ihren wachen, blauen Augen munter in die Runde blickt.
Das Lenchen schenkt die Bierkrüge mit dem Gerstensaft aus Udo Dammanns Brauerei voll und alle prosten sich gegenseitig zu. Hans-Peter erhebt sich.
„Ihr Lieben! Leider Gottes war es weder unserem lieben Papa noch unserem armen Bruder Christian vergönnt, diese Stunde zu erleben und mit uns zu verbringen. Ich bitte euch, euer Glas auf das Andenken unserer lieben Toten zu heben.“ Nachdem alle seiner Aufforderung Folge geleistet haben, führt er fort: „Dieser verlorene Krieg wird für unsere Heimat und auch für uns bittere Folgen haben. Wir alle werden es zu spüren bekommen und es sehr schwer haben. Deshalb müssen wir, mehr denn je, zusammenhalten und mit vereinten Kräften die auf uns zukommenden Widrigkeiten erfolgreich meistern und überwinden.“
Eine stille Träne kullert an Tante Alexandras Gesicht herab. Geistesabwesend trocknet sie ihre Wange mit einem Taschentuch.
* * *
Die Gestalten der Vergangenheit und ihre Stimmen sind für immer der Zeit gewichen. Doch das alte Esszimmer und der Salon blieben erhalten. Und jetzt, im Zwielicht des hereinbrechenden Abends, träumen sie von den Verblichenen.
4. Alltag
Plötzlich zerbirst der Zauber. Das Lenchen tritt ein und schaltet das elektrische Licht ein, um den Tisch zu decken. Bereits vor mehreren Jahren – als Oldenmoor an das Stromnetz angeschlossen wurde – hatte man den gewaltigen Lüster mit elektrischen Kerzen ausstaffiert.
Die Helligkeit verjagt die Gespenstererscheinung und verschluckt deren bläuliches Szenarium. Das Esszimmer kehrt in die Gegenwart zurück. Nicht aber das Lenchen, gleicht es doch selbst eher einem Geist aus der Vergangenheit.
Sie breitet das Tischtuch aus, deckt das Teegeschirr auf und kehrt mit ihrem schweren, wiegenden Gang in die Küche zurück.
Hans-Peter und Frau Annette kommen herein. Ein wenig später stoßen Tante Alexandra, Johann und Ewald dazu.
Auch Clarissa erscheint, ganz leise, mit einem Buch unter dem Arm. Sie begrüßt Tante Alexandra, ihre Eltern, danach Onkel Ewald und zuletzt ihren Patenonkel mit einem Kuss auf die Wange. Johann blickt sie mit seinen trüben Augen an und murmelt einige unverständliche Worte als Begrüßung vor sich hin.
Clarissa bemerkt mit Widerwillen die starke Alkoholfahne, die ihrem Patenonkel anhaftet. Sie setzt sich in einen Sessel in der Nähe der Uhr und beobachtet von dort aus unauffällig Onkel Johann, der sich mit gespreizten Beinen, die Arme über seinem umfangreichen Leib hängend, auf dem Sofa ausgebreitet hat: Seine Augen sind fast geschlossen, wie die eines schläfrigen Ochsen; das gerötete Gesicht, die schlaffen Wangen, das Doppelkinn über dem Stehkragen, die lichten, dünnen Haare, die seine Glatze nicht mehr verbergen können. Ab und zu, ohne erkennbaren Anlass, öffnet er die Augen einen Schlitz weit und gibt seufzend sein übliches „Ach, mein lieber Gott!“ von sich.
Auch wenn sie noch so intensiv versucht, sich dazu zu zwingen, vermag Clarissa es einfach nicht, ihren Patenonkel – diese stets nach Alkohol übelriechende Person – wirklich gern zu mögen. Ganz Oldenmoor weiß, dass Johann von Steinberg, Sohn des seligen Herrn Oberst Oliver von Steinberg, ein Trinker ist, der nicht arbeitet und den ganzen Tag müßig herumhockt; seine Hauptbeschäftigung ist es, auf den Abend zu warten, um sich dann in seiner Stammkneipe „Zur Schleuse“ volllaufen zu lassen.
Mit finsterer Miene sitzt Hans-Peter am Kopf des Tisches, sehr tief in ernste Gedanken versunken.
Tante Alexandra strickt und zeigt dabei Frau Annette ein neues Muster: „Schau mal, eine Masche rechts, dann eine Masche abheben …“, erklärt sie.
Frau Annette meint: „Ach, das ist ja gar nicht so kompliziert, wie ich zunächst dachte, Tante Alexandra!“
„Na siehst du!“
Die Augen auf den Boden gerichtet, spielt Ewald, ganz in seinen Gedanken verloren, mit einer Streichholzschachtel. Er ist sehr mager und hat eine gelbliche, ungesunde Gesichtsfarbe. Seine Haut wirkt derart durchsichtig, dass man glaubt, seinen Schädel durch sie hindurch sehen zu können. Dann und wann verzieht er das Gesicht mit einer gequälten Grimasse.
Clarissa lauschte eines Tages einem Gespräch der Leute in der Stadt: „Siehst du, da geht Ewald von Steinberg, ein guter Kerl, aber hoffnungslos drogensüchtig. Eines Tages wird er elendig krepieren …“
Und sie fühlt, dass alle im Hause von Onkel Ewalds Laster wissen. Man weiß es, man spricht aber nicht darüber.
Hans-Peter blickt seine Frau an. „Annette, lass doch bitte den Tee servieren.“
Die Mama erhebt sich und geht in die Küche. Tante Alexandra, die Brille auf ihre runzlige Nase geklemmt, senkt ihren Vogelkopf über das Strickzeug und hantiert verbissen mit den grünen Galalit-Nadeln herum.
Im Salon nebenan sitzen Tante Therese und Hein Piepenbrink und unterhalten sich sehr leise.
Ab und zu fährt ein Automobil vorbei. Gelegentlich hört man einen Hund bellen oder das jammervolle Liebesgeschrei von Katzen.
Alle setzen sich an den Tisch und das Lenchen serviert den Tee. Tante Alexandra und Annette unterhalten sich jetzt über Stickereien. Johann schlürft mit tödlicher Verachtung seinen Tee und seufzt: „Ach, mein lieber Gott!“
Ewald lehnt widerwillig die selbstgebackenen Kekse ab, die Clarissa ihm anbietet.
Stille. Stille, nur von dem unaufhörlichen, rhythmischen Ticken der Uhr begleitet.
„Welch eine traurige Gesellschaft!“, denkt Clarissa beklommen.
Mit wehleidiger Stimme murmelt Johann seinen Brüdern zu: „Morgen ist die Hypothek für das Reetdachhaus fällig.“
Clarissa setzt eine betrübte Miene auf: Hier kommt das peinliche Thema „Geld“ wieder …
Ewald zuckt mit den Schultern. Tante Alexandra unterhält sich sehr angeregt mit Frau Annette.
„Und der Rembowski, will er nicht verlängern?“, fragt Hans-Peter.
Johann weiß nicht so recht und meint, unsicher: „Vielleicht nochmals für sechs Monate.“
„Was, nur für sechs Monate? Verfluchtes Polacken-Gesindel!“
Hans-Peter steht wütend auf. Er geht zum Fenster und sieht hinaus. Dort gegenüber steht die „Bäckerei T. Rembowski u. Sohn“. Gestern noch war es eine kleine Bruchbude, eine Tür, ein kleines Ladenfenster. Heute ist es eine Brotfabrik.
Hans-Peter blickt durch das Fenster und erinnert sich …
Damals, als Tadeusz Rembowski aus Polen ankam, mit einem Bündel Kleider als seine gesamte Habe, seinem Weib und seinem kleinen Sohn, gehörten noch fast alle Häuser in seinem Blickfeld den von Steinbergs. In Oldenmoor pflegte man zu sagen: „Ich gehe in das Von-Steinberg-Viertel.“ Nun gut. Der alte Oliver von Steinberg starb. Der Krieg ging vorbei. Steuern und Inflation verzehrten das geerbte Vermögen, das sowieso längst nicht seinen Erwartungen entsprochen hatte. Mit dem Lauf der Jahre häuften sich die Schulden und es mussten Hypotheken auf die Häuser aufgenommen werden. Als diese dann später fällig wurden, hatte man wiederum kein Geld, um sie abzulösen. Also gingen die Häuser nach und nach in das Eigentum der Rembowskis über. Denen ging es immer besser; sie hatten genügend Geld. Darüber hinaus hatten sie rasch erkannt, dass man mit dem Verleihen von Geld an die von Steinbergs schnell und billig an deren Häuser kam. In einigen Monaten würde auch noch das Haus der armen, alten Tante Alexandra in ihr Eigentum übergehen …
Hans-Peters Augen blicken wütend auf die weiß getünchte Bäckerei-Fassade, deren Fenstergläser spöttisch das Mondlicht widerspiegeln.
„Ausländer-Bagage!“
Ein tiefer Groll wächst in Hans-Peters Brust. Denn er ist ein von Steinberg und diese Ländereien gehörten bereits vor vielen Generationen derer von Steinberg. Sie führen einen