Leise Musik aus der Ferne. Manfred Eisner

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Leise Musik aus der Ferne - Manfred Eisner


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aber sind seine Nachkommen völlig erschlafft, untätig, ohne jegliche Hoffnung und befinden sich auf dem sicheren Weg in die Armut, abhängig von der Duldsamkeit eines dahergelaufenen polnischen Bäckers, der nicht einmal seinen eigenen Namen richtig schreiben kann!

      Hans-Peter kehrt an den Tisch zurück.

      „Gibt’s denn hier nichts zu trinken?“, fragt Johann.

      „Möchtest du noch eine Tasse Tee?“, lächelt Frau Annette.

      „Ach, mein lieber Gott!“, gibt er entmutigt zurück.

      Clarissa liest Verse von Reimer Madrigal, ihrem Lieblingsdichter. Es muss ein Künstlername sein, denkt sie. Der Name ist viel zu schön, um echt zu sein. Das Buch heißt „Gedichte auf dem Wasser“. Wie herrlich sie doch sind! Alles, was er schreibt, kann man wirklich nachempfinden. Manchmal sind ihr einige Verse zwar nicht ganz verständlich, aber schön sind sie trotzdem … Reimer Madrigal schrieb sein Buch in Flensburg. Er stellt sich sicherlich nicht vor, dass in einem großen, alten Haus inmitten eines Städtchens auf dem Lande sein Buch von einem jungen Mädchen im Kreise einer solch traurigen Familie eifrig gelesen wird.

      Ewald steht auf, steckt die Hände in die Hosentaschen und fängt an, mit einem zunehmenden nervösen Zucken im Gesicht auf und ab zu gehen. Lächelnd bemerkt Tante Alexandra: „Ach, diese ungeduldigen Jungs! Es bleibt mir ja wohl nichts anderes übrig, als mit ihnen nach Hause zu gehen.“ (Für die Alte sind Hans-Peter und seine Brüder immer noch jene Jungs, die sie auf dem Arm trug, als diese noch Kinder waren.) „Kaum sind sie einige Minuten beisammen, wollen sie schon wieder raus. Da war doch Christian der Häuslichste …“

      Auf einmal sind alle sehr still und gedenken des lieben Gefallenen. Für einige Augenblicke beherrscht die Seele des Toten die Erinnerung der Lebenden.

      Dann öffnet sich die Tür und Heiko erscheint aus der Dunkelheit der Diele.

      Tante Alexandra setzt die Brille ab und fragt: „Wer ist dort, Annette?“

      „Es ist Heiko.“

      „Komm her, mein Junge.“

      Heiko geht auf sie zu, beugt sich über sie und küsst sie sanft auf die Stirn: „Guten Abend, Großmama.“

      „Wo treibst du dich denn noch so spät herum?“

      „Ach, so überall und nirgends …“

      Der Bursche wirkt zerstreut, greift ungeniert nach einem Keks von dem Teller, der auf dem Tisch steht, und beginnt zu kauen.

      Unauffällig beobachtet Clarissa ihren Vetter. Heiko sieht sie nicht einmal an. Da steht der Deichkater unter dem Lüster, die wilden, blond gelockten Haare auf dem Kopf, das braungebrannte Gesicht mit dem entschlossenen, harten Blick, die Krawatte lässig um den geöffneten Hemdkragen gelockert …

      Jetzt konzentrieren sich alle Blicke auf ihn. Hans-Peter muss seinen Groll auf die Rembowskis auf irgendjemanden entladen: „Sag mal, Heiko, das sind ja schöne Geschichten, die ich über dich heute erfahren musste …“

      „Ach, wirklich? Sieh mal einer an!“ Heiko setzt sich auf die Sessellehne neben Tante Alexandra, legt seinen Arm liebevoll über ihre Schultern und sagt – Hans-Peter vollkommen ignorierend – mit einem Lächeln: „Großmama, du musst aber jetzt ins Bett. Dies ist keine Zeit für kleine Mädchen, um noch auf zu sein …“

      Welch eine Frechheit!, denkt Clarissa. Er beachtet den Papa überhaupt nicht. Heiko müsste dafür Hiebe bekommen. Es stimmt also doch, dass er der Tunichtgut der Familie ist.

      Hans-Peter pflanzt sich vor den Deichkater. Da der Junge keinen Vater hat, meint wohl der Hausherr, dass er den Platz des Erziehers einnehmen müsse; er fühlt sich hierzu als der Älteste der männlichen von Steinbergs geradezu berufen. „Du Faulpelz bist heute nicht bei der Arbeit erschienen! Hauke Holm hat sich bei mir beschwert.“ Er verschränkt seine Arme. „Glaubst du nicht, dass es langsam Zeit wird, dass du zur Vernunft kommst?“

      Johann öffnet die Augen: „Ach, mein lieber Gott!“

      Ewald schreitet weiter im Zimmer auf und ab, wie ein Raubtier im Käfig.

      Heiko lächelt herablassend. (Er zieht eine Fratze wie der Teufel, denkt Clarissa.) Kaltschnäuzig blickt er in Hans-Peters Augen: „Faulpelz? Arbeiten? Aber ich tue doch genau das Gleiche wie ihr alle! Überhaupt, ich habe bisher niemals jemanden von euch arbeiten sehen. Für diese gesamte Abteilung herrscht wohl ständig Ruhepause, was?“

      Er lässt das gleiche mokierende, kurze Gelächter los wie in seiner Kindheit.

      Hans-Peter tritt nervös von einem Bein auf das andere. Seine Frau sieht ihn vorwurfsvoll an, als ob sie ihm sagen wolle: „Hans-Peter, warum lässt du nicht von dem Jungen ab? Er ist doch nicht dein Sohn!“

      Heiko greift nach einem weiteren Keks, bricht ein Stück davon ab, wirft es in die Luft und fängt es mit dem Mund auf.

      „Du ungezogener Flegel!“, brüllt Hans-Peter.

      „Mit deiner viel gerühmten, guten Erziehung hast du doch auch nicht viel erreicht, nicht wahr?“, kontert Heiko wie aus der Pistole geschossen, indem er aufsteht, sich ihm gegenüber aufstellt und ihm scharf in die Augen blickt.

      Hans-Peter zittert, ballt seine Fäuste und explodiert: „Du verfluchter …!“ Er blickt auf die Frauen, dann aber wieder auf Heiko. Er kann das beleidigende Wort „Hurensohn“ gerade noch verschlucken, bevor es über seine Lippen kommt. Es verbleibt ihm ein bitterer Geschmack im Munde.

      Verängstigt und erregt sitzt Clarissa in ihrer Ecke. Weshalb ist denn Heiko so? Warum provoziert er stets die Älteren? Immer rebellisch, seit seiner Kindheit. Wie schön wäre es, wenn Heiko vernünftig wäre. Eigentlich sieht er doch nicht hässlich aus, er hat ein männliches, charaktervolles Gesicht, ist groß gewachsen, gewandt …

      „Streitet euch nicht, Kinder!“, versucht Tante Alexandra zu schlichten.

      Hans-Peter macht auf seinen Absätzen kehrt, geht zum Fenster, öffnet es und holt tief Luft. Ewald greift nach seinem Hut und verlässt wortlos den Raum.

      „Ach, mein lieber Gott!“, gibt Johann mit schläfriger Stimme von sich.

      Von dem Streit angelockt, stehen Hein und Tante Therese wortlos und verängstigt in der Tür zum Salon.

      Hans-Peter kehrt an den Tisch zurück und setzt sich an das Kopfende. Er breitet seine Arme auf der Tischdecke aus und sagt, auf Heiko deutend: „Hätte der alte Oliver von Steinberg diesen Taugenichts noch erlebt, dann wäre er sicherlich vor Kummer gestorben.“

      Ungerührt fixiert Heiko die Zimmerdecke.

      „Ich weiß, ich weiß, für euch bin ich das schwarze Schaf der Familie …“, mokiert er sich.

      „Du bist der Schandfleck der Familie!“, krächzt Johann mit matter Stimme, der die Überzeugung fehlt.

      „Lasst doch den armen Jungen endlich in Ruhe!“, gebietet Tante Alexandra.

      Der Deichkater pfeift leise vor sich hin.

      „Wo ist denn Ewald hingegangen?“

      „Sicherlich dorthin, wo er sich sein Kokain besorgen kann.“

      Aufruhr!

      „Heiko! Das ist aber eine geschmacklose Respektlosigkeit!“, zürnt Hans-Peter und sieht ihn wütend an.

      „Es ist keine Respektlosigkeit, es ist einfach die Wahrheit! Ihr wisst doch genauso gut wie ich, dass Onkel Ewald seit seiner Verschüttung im Krieg nicht mehr ohne dieses Zeug leben kann. Oder wollt ihr es einfach nicht wissen?“

      „Junge!“, ruft Frau Annette ihm vorwurfsvoll zu und blickt erschrocken zu Tante Alexandra, die, ohne etwas verstanden zu haben, ruhig lächelt.

      Clarissa mustert ihren Vetter Heiko. Sogar sein Name klingt hart, er hört sich wie ein Peitschenhieb an: Heiko! – Etwas Wendiges, Raues, Schroffes. Sie denkt verängstigt an jenen Tag zurück, an dem er sie in


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