Das Mitternachtsschiff. Wilfried Schneider

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Das Mitternachtsschiff - Wilfried Schneider


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erstaunte die Ehrerbietung in der Stimme des Priesters.

      »Er ist blind, wie viele von ihnen«, sagte Kerifer-Neith, als sie wieder allein liefen. »Musikanten sprechen mit den Fingern. Er wird im Palast spielen, wenn du schon auf der Werft bist. Hebsed bringt Pharao die Kraft zurück.«

      Sie stiegen wieder zwischen die Höcker. Haine und Grasland glitten vorüber. Händler zogen zum Meer, ihre bunt gewandeten Leiber wiegten sich auf den Rücken der Tiere. »Sie schaffen bereits Waren in die Werftsiedlung«, erklärte Kerifer-Neith, »obwohl erst in zwei Dekaden Zedern aus Gebal eintreffen. Necho wird dir deinen Gedanken, die Planken schon in Kanaan richten zu lassen, mit Gold aufwiegen. Das erspart uns einige Mondläufe … doch schau nach links!«, unterbrach er sich, »dort, wo die Bäume die Ebene brechen, bindet der Hapi Bast an das Innere Meer. Dort grub man in der Anfangszeit. In den ersten Monaten ging die Arbeit gut voran, doch dann schien die Erde Basalt zu bergen. Die Maße wurden langsamer gepfählt, oft nun trugen schwarz bedeckte Kamele Tote in die Gräber. Bald fehlte es an Werkzeug, bald an Knoblauch und Zwiebeln. Du weißt, nimmt man einem Kemeten diese Dinge, nimmt man ihm das Leben. Ift-ars Frauen säen schon diese Pflanzen für deine Fahrt. Der Geruch ihres Pulvers wird dich um Libyen herum begleiten.«

      »Was geschah dann?«

      »Manchmal blieb der Lohn aus, und die Kanalarbeiter wurden störrisch. Sie legten sich ins Gras, und niemand trieb sie an. Vor wenigen Tagen wurden die Trupps nach Hause geschickt, nur Räumungsarbeiter blieben. Bald frisst der Sanddrache Zors Träume.«

      »Zor träumte von Punt, von seinem Gold, dem Fleisch der Götter. Wir träumten, wie Bursa, die Stadt im Meer, zurückbleibt, wie die Ufer der Lotosblüte vorbei ziehen und das Lazurwasser unsere Schiffe umspült. Vorbei, alles vorbei.«

      »Für unsere Zeit, Admiral. Doch kennst du die Welt nach hundert Überschwemmungen? Schau nach vorn! Weit nach vorn!« Kerifer-Neith streckte den Arm aus. Ein Graben durchzog die Ebene. Im Osten flogen Kraniche auf, dort riegelte ein Damm den gefluteten Kanalteil ab. »Zwei Stunden weiter gruben sie erneut, am Drittel der Strecke. Sie gruben tief. Sie gruben für Meeresschiffe.«

      »Reiten wir zum Wasser?« fragte der Führer.

      Ja, befahl Kerifer-Neiths Gebärde.

      Re erhob sich fünf Handbreit über der Lotosblüte und ließ die asiatische Nacht noch hinter dem Horizont. Abdi-ashirta stand auf dem Damm, blickte in die Richtung der Stadt Bast und auf die Stelle des Himmels, unter der er Zor wusste. Er drehte das Gesicht in den Morgen und malte sich das Lazurwasser.

      »Ich weiß um deine Gefühle«, sagte der Priester ungewohnt leise. »Ich wollte dir von Kum-Ran erzählen, von seinem Herrscher, dessen große Ideen von Zweiflern zerstört wurden. Überall sind diese Zweifler, sie schlafen nie. Sie hören einen Vorschlag und sagen: Das geht nicht! Erst dann denken sie und finden in ihren Köpfen die Gründe.«

      Abdi-ashirta drängte sein Kamel dicht neben Kerifer-Neiths Tier. »Du bedauerst Nechos Entscheidung? Du, ein Priester?«

      »Ich bin nicht Ptah-hotep. Der hat die Augen hinter den Ohren. In Nechos Kanal wären die Wasser des Hapi in eine neue Zeit gezogen. Wir reiten zur Nacht in die Altstadt von Bast. Auf dem Dach des Palastes wirst du Ma’ats Stimme hören, so wie ich es versprach.«

      »Hat einst ein König diesen Palast bewohnt?«, fragte Abdiashirta, nachdem Bedienstete sie auf Liegen gebettet hatten. Die Fackeln der Torwächter beleuchteten die bröckelnden Säulen des Vorbaus. Gott Chons schwamm als Barke, sein schwaches Licht verschönte die rissigen Plattenwege, die zu den Empfangszimmern und Zeremonienräumen führten. Das kräftige Rot des Erscheinungsfensters war selbst in diesem Halbdunkel erkennbar.

      »Am Tag, als der Bau begann, besuchte der Göttergleiche Bast. Damals glaubten die Hoffenden, dass die neue Zeit neu geboren wird. Hunderte Arbeiter waren Mondläufe zuvor angetreten, das Werk vergessener Ahnen zu erneuern. Sie schleppten Quader von Per-Ramses‘ Ruinen heran, die den Palästen neuen Glanz verleihen sollten. Du hast das Kalksteinbecken im Hof gesehen, auch das kam diesen Weg. Doch nur ein Zehnt des Nötigen wurde ausgebessert. Pharao misst seine Bedeutung an der Größe der Vorgänger. Er will durch deine Tat wachsen. Die Vorbereitungen begannen, noch bevor du nach Menfe kamst. Zwinge den Kreis, Sidoner! Zieht einst der Göttergleiche in das Untere Haus, wird deine Expedition auf seinem Stein genannt sein. Im neuen Leben wirst du an der Seite des Gottgleichen wandeln.«

      Abdi-ashirta sah in den Nachthimmel, sah die vertrauten Sterne zwischen dem Nordhorizont und den Unzerstörbaren. »Der Kanal …«

      »… wird eine Straße zum Lazurwasser, die du bald gehen wirst. Nach dem Aufbruch der Schiffe wird aus der Werft eine neue Stadt. Das ist der Wille Pharaos.«

      Abdi-ashirta richtete sich auf. »Das bedeutet, Sidonien muss künftig Kemets Gnade erbitten, um in das Südliche Haus zu gelangen? Wir mieten am Lazurwaser Schiffe und stehen unter Menfes Regiment?«

      »Ja!«

      »Zur Audienz zeigten die Kaufleute im Rat ihre Verzweiflung über Nechos Entschluss, den Kanal nicht zu bauen.«

      Kerifer-Neith verscheuchte mit beiden Händen ein Insekt. »Necho berief sie, um die Macht der Militärs zu brechen. Das bezeugt seine Weitsicht. Er will die Große Zeit mit der Waage und nicht mit dem Schwert erschaffen. Es ist in Menfe wie in Zor. Kaufleute sind schlau, aber selten klug. Sie verlieren im Kanal den Handelsweg, erkennen aber nicht die goldene Zeit, die dein Erfolg bringen könnte. Nicht selten frisst Sobek an ihrem Hirn und das Schwert zerschlägt die Waage. Manche bereiten vielleicht dein Scheitern vor.« Den letzten Satz flüsterte er in altkemetischen Worten, die außer den Priestern kaum jemand verstand. Er zerrte das Fell zu Seite und schob den Kopf über den Dachrand, öffnete die Luke und nickte zufrieden. »Die langen Ohren stören unsere Stunde nicht. Ich wollte dir schon am Tage von Kum-Ran erzählen, von einem Kanal zu dieser Seesiedlung, die Balsam hat und Asphalt, der deine Schiffe dichtet. Du wolltest es nicht hören. Kaum bliesen Boten dem Volk diese Idee in die Ohren, erhob sich klagendes Landgeschrei: Wir werden ersaufen! Du wolltest nicht hören, wie man Kum-Rans Herrscher ein neues Spielzeug wies: Den Weg nach Osten, in das Land, dessen Berge die Sterne berühren und in dem die Gebieter der Erde wohnen. So sagt man. Du wolltest nicht hören, dass der Führer zum Himmel irdischen Lohn verlangte und man ihm ein schönes Wesen versprach, das dem Herrscher näher stand, als es sich schickte. Man hätte mit einem Schlag zwei schwarze Pferde getrieben. Du wolltest es nicht wissen und so spricht Ma‘at eben jetzt. Sie wird dir sagen, dass Geschichten sich wiederholen.

      Neferheres band sich einst an Sothur, Obrist in Nechos Garde. Aus der Schwärmerei eines Mädchens wurde die Liebe einer Frau. Aber eure Zukunft vereint stärker als Gefühle, sie wird dir Gefährtin sein. Du bist ihre Möglichkeit, das Landgut Ift-ar zu gewinnen. Wer ist dann noch Sothur? Frag sie, wenn ihr Ift-ar besucht, nach der Zeit hinter der Expedition, frag sie aber nicht nach dem Gardisten. Neferheres wird Sothur vergessen, denn wer vom Essen nur träumt, wird nicht satt. Neferheres, sie ist etwas Besonderes, sie schaut mit Necho in die Große Zeit zurück und lässt in den Siedlungen nach deren Zeugnissen suchen. Sie kann die Inschriften der Gräber lesen und spricht oft mit den Wendungen unserer alten Dichter. – Aber berichte mir jetzt von dir, schildere den Augenblick, der dich nach Menfe rief. Ich will den Mann Abdi-ashirta kennenlernen. Wir haben noch zwei gemeinsame Jahreszeiten vor uns, ehe deine Schiffe die Bugspitzen nach Süden richten.«

      Abdi-ashirta erzählte von dem Tag, an dem der Libanon seinen Wind nach Zor schickte, der zum Abend den Sturm gebar, berichtete von den Frauen, die ihren Söhnen den Namen toter Seeleute gaben, und er sagte dem Priester die Worte Hir-Rectars, seines Königs, wie er ihn nannte. Aber er sagte nur, was er für richtig hielt.

      Die Dachfackeln erhellten Kerifer-Neiths Gesicht, das weicher erschien als unter Res Augen. Seit dem Tag, an dem ihm die kindlichen Haarlocken geschnitten wurden, hatten Schemu und Peret keine zwanzig Mal gewechselt. Es fehlten in dieser dunklen Stunde die herrischen Gesten, die seine Reden gewöhnlich begleiteten.

      »Jetzt willst du etwas über mich wissen?«, fragte er spöttisch, »über mich, einen Priester? Wir Priester bewahren die Wahrheit in den Lehren


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