Der große Aschinger. Heinz-Joachim Simon

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Der große Aschinger - Heinz-Joachim Simon


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      Er tanzte, als sein Vater starb. Es war ein schöner Januartag, und die Sonne stand hoch. Der Himmel war wolkenlos, und das Eis schimmerte wie eine Silberplatte. Von den Kufen seiner Schlittschuhe spritzte das Wasser in goldenen Funken hoch.

      Es war viel Jungvolk auf dem See vor dem Kloster in Lindow. In jenem Jahr war der See zugefroren, was sich schon lange nicht ereignet hatte, und jeder aus der Stadt, ob er nun Schlittschuhe hatte oder nicht, war auf dem Eis. Sebastian Lorenz drehte eine Runde nach der anderen. Die Schlittschuhe hatte ihm der Sohn des Schulzen geliehen. Winkend stand dieser am Ufer, um seine Schlittschuhe wieder einzutreiben. Doch Sebastian achtete nicht darauf und ließ sich durch den Schwung auf die Mitte des Sees hinausführen.

      Sebastian war ein junger Mann mit einem ernsten, schmalen Gesicht und dunklen Haaren. Auf dem Gymnasium zu Neuruppin folgte ihm so manches Mädchenauge, doch der Ernst, die nachdenkliche Strenge in seinem Gesicht hielt sie davon ab, ihm ein aufforderndes Lächeln zu schenken. Er galt als hochmütig, einige nannten ihn arrogant oder eingebildet. Auch an der Schule hatte er wegen seiner Respektlosigkeit und Wildheit nicht den allerbesten Ruf, und die Lehrer waren sich einig, dass es mit ihm einmal ein böses Ende nehmen würde. So manches Mal hatten sie den Vater kommen lassen, um ihn zu ermuntern, den Sohn von der Schule zu nehmen. Sebastians Schulnoten verdienten diese Aufforderung, doch der alte Lorenz nahm den Lehrern diesen Plagegeist, wie die ihn nannten, nicht ab und beharrte, dass der Sohn auf der Schule verblieb.

      Von der Kirchturmuhr schlug die Glocke. Sebastian hielt inne, lauschte ihrem Klang und wusste nicht, warum ihn der Ton heute aufhorchen ließ, hatte er diesen doch schon so oft gehört. Er zuckte mit den Schultern und glitt weiter über das Eis. Statt der Glocke hörte er nun einen Wiener Walzer und träumte davon, auf dem Wiener Kongress, als man Europa neu aufteilte, ein wichtiger Mann gewesen zu sein, ein Fürst mit Gefolge, in einer prächtigen Uniform mit goldenen Epauletten, umschwärmt von den Frauen und bewundert vom Volk. Doch er war nur der jüngere Sohn des Bauern Lorenz, nicht einmal achtzehn Jahre alt und von dem Gedanken gequält, nicht mehr zu sein als das, wofür sein Vater ihn hielt. Der gab nicht viel auf seinen Spross, der sich auf dem Hof ungeschickt anstellte, und schalt ihn faul, nutzlos und verdorben. Auch Sebastian erwartete nicht viel von seiner unmittelbaren Zukunft. Und doch wandelte ihn manchmal die Ahnung an, dass er etwas in sich hatte, das andere nicht hatten, wenn er auch nicht sagen konnte, was dies war. Es äußerte sich nur in seinen Traumbildern, die ihn als Begleiter Talleyrands oder Metternichs oder gar des Zaren sahen oder als Mitglied der Körner’schen Schwarzen Schar.

      Sebastian Lorenz liebte Bücher, vor allem die der Franzosen. Angefangen hatte es mit Dumas, mit dessen Musketieren und dem Grafen von Monte Christo, bis er auf Victor Hugo stieß und Les Misérables las und den Glöckner von Notre Dame. Dann folgte Balzac, und Sebastian wurde zum Rastignac, der sich in der Welt der Reichen und Schönen seinen Platz erkämpfte.

      Sein Vater folgte seiner Lesewut mit Argwohn, und das überbordende Bücherregal sah er als einen Beweis dafür, dass der Sohn aus der Art geschlagen war. »Woher hat er das nur? Ein Lorenz ist der nicht!«, sagte er ein um das andere Mal zu seiner Frau und blickte sie vorwurfsvoll an. Sie war gewohnt, nicht darauf zu antworten und den Kopf zu senken. Sie liebte diesen jüngeren Sohn, seine Ernsthaftigkeit, seine dunklen, suchenden Augen und seine feinen Gesichtszüge, die ein Abbild ihres Gesichtes waren.

      Der Ältere, Wilfried, war nach dem Vater geraten. Ein untersetzter, breitschultriger junger Mann mit derben Fäusten, der bereits als Halbwüchsiger hinter dem Pflug gegangen war und bei Aussaat und Ernte eine zupackende Art hatte. Bereits mit vierzehn war Wilfried von der Schule abgegangen, und der Vater hatte es hingenommen, weil er seine Freude daran hatte, wie sich dieser Sohn um das Land kümmerte und mit den Tieren umging.

      Die Lorenz’ hatten den größten Hof und die besten Felder in Schönberg, einer kleinen Stadt östlich von Neuruppin gelegen. Der alte Lorenz war Bürgermeister und Ortsgruppenführer zugleich und hielt viel auf Hitler, und weil er es tat, hielten auch die anderen Bauern im Dorf viel von den Nationalsozialisten. Seit er in Berlin im Sportpalast den Führer gehört hatte, war er sicher, dass der Deutschland zu neuer Größe führen und die Fesseln des Versailler Vertrages abstreifen würde und dass die Bauernschaft in ihm einen Fürsprecher hatte. Er hasste die Roten, aber mehr noch hasste er die Juden, und er machte sie verantwortlich für den Ärger mit den Banken, den er dann und wann hatte. Er war verschuldet, nicht deswegen, weil sein Land nicht viel einbrachte, sondern weil er einer Leidenschaft frönte, die jedem anderen im Dorf Befremden und Kopfschütteln eingebracht hätte. Er liebte Pferde und hatte eine Zeitlang großes Glück mit seiner Zucht, die sogar in Fachkreisen einen nicht unerheblichen Ruf genoss, bis dann seine Tiere eine seltsame Krankheit befiel, so dass er alle töten lassen musste. Der Aufbau einer neuen Zucht verschlang viel Geld – noch mehr Geld aber verschlang seine Wettleidenschaft, die sich in Hoppegarten austobte. Es war anfangs ein Spiel gewesen, das dem Gedanken entsprang, auf diese Weise den Aufbau der Zucht beschleunigen zu können, und wurde schließlich zum verbissenen Laster, das ihm die Tage vergällte. So weinte seine Frau jedes Mal, wenn er in seinem Sonntagsanzug nach Hoppegarten fuhr, denn sie wusste, mit welchem Gesicht, mit welcher Wut er zurückkommen würde und dass sie es dann auszubaden hatte, seine Tiraden anhören musste, die den Juden galten und sich bald auf die Nächsten richtete, den artfremden Sohn, diesen Stubenhocker und Bücherwurm, und das Weib, das ihm nichts recht machen konnte.

      Helge, der Sohn des Schulzen von Lindow, kam nun schlitternd über das Eis. Sie waren in derselben Klasse, und doch trennte sie vieles. Helge war Klassenprimus, und er, Sebastian Lorenz, saß in der letzten Reihe und galt als hoffnungsloser Fall. Man war sich im Lehrerkollegium einig, dass er durchs Abitur fallen würde.

      »Schnall die Schlittschuhe ab, du sollst sofort nach Hause kommen!«, rief Helge.

      »Warum?«, fragte Sebastian, verärgert darüber, so aus seinen Tagträumen gerissen zu werden.

      »Einer eurer Knechte kam eben. Er wartet am Ufer auf dich.«

      »Was ist denn passiert?« Sebastian sah zum Ufer hinüber, an dem so viele standen und dem Treiben auf dem See zusahen. Einen ihrer Knechte vermochte er nicht zu erkennen. Sie hatten zwei, Wilhelm und Hans, und beide hätten Brüder sein können, so ähnlich sahen sie sich. Beide waren untersetzt, stark und so gute Arbeiter wie Esser. Während Hans dem Wilfried anhing, hatte sich zwischen Wilhelm und Sebastian eine geheime Komplizenschaft gebildet. Wilhelm mochte es, wenn ihm Sebastian von Austerlitz erzählte, von dem Sieg Napoleons bei den Pyramiden oder ihm Heines Weber vorlas. Hans dagegen hielt das wie sein Idol Wilfried für Spökenkiekerei und schalt Wilhelm, dass dieser sich mit so einem Spinner abgab.

      Seufzend schnallte Sebastian die Schlittschuhe ab und gab sie Helge zurück. »Danke, es sind gute Schlittschuhe. Weißt du, was los ist?«

      »Das soll dir euer Knecht mal selber sagen!«, erwiderte Helge und schnallte sich nun selbst die Schlittschuhe an.

      Sebastian zuckte wegen der ausweichenden Antwort mit den Achseln. Was hatte der Streber nur?, dachte er, während er über das Eis zum Ufer zurückschlidderte. Es war immer noch hoher Nachmittag. Die Glocken hatten aufgehört zu läuten.

      »Was ist denn los, Wilhelm?«, rief er diesem zu, als er ihn am Ufer entdeckte und einige Enten zur Seite gescheucht hatte.

      Wilhelm machte ein ernstes Gesicht, nahm ihn beim Arm und führte ihn am verfallenen Kloster vorbei zu dem Gasthof an der Hauptstraße, wo sein Gespann stand.

      »Nun sag schon, was ist denn los?«

      »Der Bauer ist …« Der Knecht brach ab und bestieg den Kutschbock des Landauers. Sebastian folgte ihm, und Wilhelm löste die Zügel und nahm die Peitsche. Er schnalzte mit der Zunge. »Hü, ihr Faulpelze!« Dabei ließ er die Peitsche über die Pferderücken knallen, ohne dass die Schnur die Tiere berührte.

      »Mach es doch nicht so spannend!«

      »Der Bauer ist … tot.«

      »Was?«

      »Er hatte sich nach dem Mittagessen hingelegt, und als die Bäuerin ihn wecken wollte,


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