Der große Aschinger. Heinz-Joachim Simon

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Der große Aschinger - Heinz-Joachim Simon


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so, als hätten sie anderes zu tun, und starrten an ihm vorbei in die Gegend. Der SA-Mann packte Sebastian an der Hemdbrust und versetzte ihm einen Schlag ins Gesicht. Sebastian fiel zu Boden. Doch der SA-Mann dachte nicht daran aufzuhören und gab ihm ein paar heftige Fußtritte, die Sebastian aufschreien ließen. Und wer weiß, was ihm noch passiert wäre, wenn in diesem Moment nicht der Zug nach Berlin eingelaufen wäre. Eine Trillerpfeife erklang, und der SA-Mann ließ von Sebastian ab, warf ihm noch einen drohenden Blick zu und bestieg mit seinen Kameraden den Zug.

      »Du hättest ruhig den Gruß entbieten können«, sagte ein vornehm gekleideter Herr mit Bowler. »Das hat man davon, wenn man sich abseits stellt.«

      Sebastian zuckte mit den Schultern und wischte sich das Blut aus dem Gesicht. »Mit diesen Leuten will ich nichts zu tun haben!«, erwiderte er trotzig. Genau mit solchen Leuten paktierte Vater und paktiert Wilfried, dachte er erbittert. Sebastian war anfangs kein politischer Mensch, ihn hatten nur die rüden Attacken des Vaters, sein Bramarbasieren und seine Ausfälle gegenüber der jüdischen Verwandtschaft zum Gegner der Nationalsozialisten gemacht. Aber nun, da er am eigenen Leibe erfahren hatte, dass diese so handelten, wie sie redeten, wusste er, dass er niemals mit diesen Leuten etwas gemein haben würde.

      Als er in Schönberg den Hof betrat, schlug die Mutter, die gerade die Hühner gefüttert hatte, die Hände über dem Kopf zusammen.

      »Sebastian, wie siehst du denn aus!«

      »Ach, es ist nichts Schlimmes. Die SA wollte mich zum Hitlergruß überreden, und da habe ich nicht mitgemacht.«

      »Aber warum denn nicht? Hitler ist ein großer Mann, sagte Vater auch immer. Deswegen lässt man sich doch nicht verprügeln! Nun komm mal rein, damit ich dich verarzte. Hast du sonst noch …«

      »Aber nein, nur ein paar blaue Flecke.«

      Ihn gurrend und zeternd umspringend und die Welt beklagend, führte sie ihn in die Küche und holte den Verbandskasten. Behutsam tupfte sie seine Wunde an der Stirn und an den Backenknochen mit Jod ab und verpflasterte ihn. »So, bis zur Hochzeit wird alles wieder gut.«

      Er musste lachen, obwohl ihn dabei das Gesicht schmerzte. Den Spruch hatte sie zu ihm schon als Kind gesagt, wenn er sich die Knie aufgeschlagen hatte.

      Wilfried kam herein und stutzte. »Was machst du denn schon hier? Und wie siehst du aus?«

      »Deine Freunde von der SA haben mich …«

      »Hast du die SA provoziert?«, fragte Wilfried unwillig.

      »Aber nein, ich habe nur nicht ›Heil Hitler‹ rufen wollen.«

      »Das geschieht dir recht!«, sagte Wilfried gehässig. »Wer nicht für uns ist, ist gegen uns.«

      »Wilfried«, mahnte die Mutter, »er ist dein Bruder!«

      »Schöner Bruder! Und was suchst du um diese Zeit hier?«

      »Ich habe bei Stöckler aufgehört.«

      »Was hast du?«, fragte Wilfried empört und sank fassungslos auf die Sitzbank. »Das ist nicht dein Ernst!«

      »Ja, er hat mich rausgeschmissen.«

      »Da siehst du es, Mutter, er taugt nicht mal zum Bürohengst! Zu nichts ist er nütze!«

      »Was ist denn passiert, Junge? Warum?«, klagte die Mutter und schüttelte besorgt über ihren Jüngsten den Kopf.

      »Ich habe mich an Recht und Gesetz gehalten, was der Herr Anwalt nicht für nötig hielt«, erklärte Sebastian und erzählte, was ihm in der Kanzlei widerfahren war.

      »Du hast einen Kommunisten versteckt?«, fragte Wilfried entsetzt. »Bist du denn von allen guten Geistern verlassen? Hältst du es jetzt mit den Roten?«

      »Nein, mit Recht und Gesetz!«

      »Du bist ein Schwachkopf! Wie kann man sich, wie kann man uns nur in eine solche Situation bringen! Spätestens morgen ist es im Dorf rum, dass Sebastian Lorenz einem Roten geholfen hat. Wie stehen wir dann da! Man hat doch nur Ärger mit dir. Vater hatte schon recht: Du bist kein Lorenz, sondern ein Rosenstein.«

      »Junge, sag so etwas nicht!«, jammerte die Mutter.

      »Du hast auch Rosenstein-Blut in dir«, sagte Sebastian lächelnd.

      »Schluss mit lustig, meine Geduld ist am Ende! Ich habe dich die ganze Zeit durchgefüttert, aber das ist nun vorbei. Du kannst nicht hierbleiben.«

      »Da gebe ich dir ausnahmsweise recht«, entgegnete Sebastian.

      »Aber was willst du denn tun?«, fragte die Mutter händeringend.

      »Was ich schon vor zwei Jahren tun wollte: Ich werde nach Berlin gehen.«

      »Was willst du in der Großstadt? Junge, du wirst verhungern und unter die Räder kommen!«, klagte die Mutter.

      »Irgendetwas werde ich schon tun können.«

      »Denk nicht, dass ich dir Geld für ein Lotterleben in der Stadt geben kann! Du musst endlich selbst mit deinem Leben fertig werden«, sagte Wilfried und schlug mit der flachen Hand auf den Küchentisch.

      »Du musst dein eigener Herr werden und dir dein Brot selbst verdienen.«

      »Ich will auch gar nichts von dir. Gib mir ein paar Mark, damit ich nach Berlin fahren kann, und damit soll es genug sein!«

      »Ach Sebastian, wenn dein Vater nicht diese unselige Leidenschaft für Pferde gehabt hätte, könntest du Abitur machen und studieren. So hatte ich es mir vorgestellt.« Die Mutter schluchzte, was sie bei dem Tod ihres Mannes nicht getan hatte.

      Sebastian liebte sie dafür. Aber er nahm das, was jetzt auf ihn zukommen würde, an. Seine Unschlüssigkeit war vorbei, und er wusste nun, was er zu tun hatte. Mit der Unbedenklichkeit der Jugend, mit dem Vertrauen darauf, dass sich schon irgendetwas ergeben würde, bekräftigte er seinen Entschluss, sein Glück in Berlin zu versuchen.

      »Mit dir wird es noch ein schlimmes Ende nehmen«, prophezeite Wilfried hämisch. »Du kannst nichts, bist nichts, und mit Bücherlesen allein hat sich noch niemand über Wasser halten können.«

      »Ich weiß, dass du mir nicht viel zutraust.«

      »Na, der Stöckler wird auch nicht viel von dir gehalten haben, wenn er dich so mir nichts, dir nichts auf die Straße setzt.«

      Als Sebastian dann im Bett lag, fühlte er sich wie befreit. Endlich konnte er weg! Weg aus Schönberg, weg aus der muffigen Kanzlei, weg von Brösels Vorhaltungen. Leid tat ihm nur die Mutter. Sie hatte einen Herrn gegen den anderen eingetauscht, denn Wilfried hatte genau die gleichen Eigenschaften wie der Vater und behandelte sie mit derselben herablassenden Gleichgültigkeit. Von der Magd des Vaters war sie nun zur Magd des Sohnes geworden.

      Sie war es auch, die noch einmal in sein Zimmer huschte und sich zu ihm aufs Bett setzte. Sie nahm seine Hand und flüsterte unter Tränen: »Was soll aus dir nun werden? Ich mache mir solche Sorgen! Schon als Bub hast du mir Kummer bereitet, dauernd warst du krank. Es ist ein Wunder, dass ich dich durchgebracht habe!«

      »Ich werde etwas aus mir machen, Mutter«, versprach er und drückte sie an sich.

      »Du hast mich so viel Kraft gekostet. Aber es war es wert, du bist kein Lorenz geworden.«

      Sebastian lächelte und strich ihr eine weiße Strähne aus dem Gesicht. Es war seltsam, wie weich ihr Haar war. Sie war einst eine Schönheit – er kannte die Aufnahmen von ihrer Hochzeit –, doch nun hatten die Sorgen und die viele Arbeit sich in ihr Gesicht eingegraben. Ein schwacher Abglanz war immer noch zu sehen, wenn sie lächelte. Nur tat sie dies zu selten.

      »Ich verspreche dir, dass ich es zu etwas bringen werde. Ich lasse mich nicht kleinkriegen«, versicherte er noch einmal.

      »Ach Junge, du bist ein Träumer. Die vielen Bücher haben dir Dinge in den Kopf gesetzt, die ein Bauernjunge nicht träumen sollte.«

      »Ich brauche nur eine richtige Chance. Ich bin ein Rastignac.«

      »Wer


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