Der große Aschinger. Heinz-Joachim Simon

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Der große Aschinger - Heinz-Joachim Simon


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war, als du geboren wurdest. Es war ein wunderschöner Apriltag, und die Frauen, die zu mir ins Krankenhaus kamen, trugen große Hüte, und die Schwester legte dich mir in den Arm. ›Es ist ein Junge‹, sagte sie mir. ›Er ist gesund, aber Sie werden auf ihn achtgeben müssen, denn er ist etwas zart.‹ Und so war es auch. Ich habe immer auf dich achtgeben müssen. Nun werde ich es nicht mehr tun können. Hier, nimm das, ich habe in all den Jahren etwas gespart. Ich weiß selbst nicht wofür. Vom Haushaltsgeld habe ich immer ein paar Pfennige abgezweigt, und mit den Jahren ist allerlei zusammengekommen.« Sie drückte ihm eine Rolle Geldscheine in die Hand.

      Sebastian zählte das Geld und schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht annehmen, das sind tausend neue Reichsmark! Du brauchst es für dich.«

      »Was brauche ich alte Frau schon! Nimm es, sprich aber nicht mit Wilfried darüber! Ich wusste immer, dass Vater ihm alles vererben würde. Nun hast du mit den tausend Reichsmark ein kleines Startkapital. Gib es nicht für unnütze Dinge aus, sondern für etwas, das dir im Leben weiterhilft – also nicht wieder für Bücher oder gar für Mädchen! Versprichst du mir das?«

      Er versprach es ihr. Das mit den Mädchen fiel ihm leicht, denn bisher war er noch nie mit einer Frau zusammen gewesen. Als er zwölf gewesen war, hatte er die Tochter von Bauer Garchke geliebt, weil sie lustig war und lange schwarze Zöpfe hatte, die beim Laufen hin und her flogen, und mit der er hinter der Scheune Doktorspiele gespielt hatte. Aber als sie älter waren und sich begegneten, hatten sie sich nicht angesehen. In dem letzten Jahr auf dem Gymnasium war sie in der Nebenklasse die ungekrönte Königin gewesen, und Helge, der Sohn des Dorfschulzen zu Lindow, behauptete, sie zur Freundin zu haben. Tatsächlich hatte Sebastian die beiden einmal händchenhaltend am Neuruppiner See zum Bootssteg laufen sehen. Ihn aber hatte sie geschnitten und ein hochmütiges Gesicht gemacht. Er nahm an, dass sie mit dem Klassenletzten nichts zu tun haben wollte. Vielleicht erinnerte sie sich auch daran, wie sie ihn und er sie bei den Doktorspielen befummelt hatte. Das waren seine ganzen Erfahrungen mit Mädchen.

      »Du wirst mir doch jede Woche schreiben?«, fragte die Mutter, und Sebastian nickte gehorsam.

      Als sie gegangen war, las er weiter in den Buddenbrooks über den Niedergang der Familie. Nun, die Lorenz’ waren keine Buddenbrooks, aber vielleicht stand er am Anfang einer Familie, die es zu Reichtum und Ansehen brachte. Er hoffte, dass er in sich etwas finden würde, das ihn über andere hinaushob.

      Sie standen in Lindow auf dem Bahnhof, einem kleinen Backsteinbau, der geduckt unter den Wolken vor der Stadt lag. Es war windig und kalt, und es nieselte. Die Mutter schnäuzte sich dauernd, während Wilfried breitbeinig und ungeduldig immer wieder auf die Uhr sehend danebenstand und darauf hoffte, dass der Zug endlich kam.

      »Du schreibst mir gleich, wo du untergekommen bist! Onkel Edmund wird dir bestimmt dabei helfen. Schreib mir noch heute Abend, dann habe ich deinen Brief übermorgen hier. Bis dahin werde ich keine ruhige Minute haben.«

      »Mutter, er geht doch nicht nach Amerika!«, stöhnte Wilfried gereizt.

      Sebastian versprach es. Er verstand die Mutter. Sie würde von nun an allein mit Wilfried leben, und alles würde so sein wie bei dem Alten: der gleiche Ton, die gleichen Anweisungen, die gleiche Freudlosigkeit und das ewige Gerede darüber, wie viel man aus dem Acker herausholen konnte, das ewige Genöle über die Getreidepreise, das geile Lächeln wegen der Trächtigkeit der Stuten und die strengen Ermahnungen, dass man hier und dort sparen musste. Nichts würde sich ändern, und doch würde es anders sein. Denn niemand würde mehr ihren Tagesablauf in Sorge um den Jüngsten in Unordnung bringen, keinen würde sie liebevoll eine Naschkatze schelten oder einen Träumer nennen, und vor allem würde er nicht da sein, um sie in die Arme zu nehmen und sich mit ihr im Kreise zu drehen, und sie würde nicht mehr rufen: »Mein Gott, Junge, ich bin doch keine junge Frau mehr!«

      Ein Pfiff kündete den Zug an und wurde von einem Heulton abgelöst. Der Zug rauschte heran, und aus der Wartehalle strömten die Reisenden, meist Arbeiter, die nach Berlin wollten und ermüdet und abgehärmt aussahen, was nicht nur an dem kalten Licht der Bogenlampe lag. Die Lokomotive ließ viel Dampf ab, und die Rauchwolken zogen über den Bahnsteig und hüllten die Wartenden ein. Die Mutter und Wilfried führten Sebastian zu einem Dritte-Klasse-Wagen.

      »Nun denn«, sagte Wilfried, »mach es gut und lass von dir hören!« Das war es, was ihm der Bruder mitgab. Ein letztes Mal drückte er die Mutter, deren Gesicht ihm nun noch müder, deren Augen noch trauriger erschienen. »Mutter, ich bin doch nicht aus der Welt!«

      Der Pfiff des Schaffners ertönte, und das Stampfen der Lokomotive verstärkte sich. Neue Dampfwolken zogen über den Bahnsteig. Sebastian stieg in den Zug und drängte sich sofort ans Fenster. Die Mutter hielt ihre Hand hoch, ihr Mund war verzerrt und offen, als entfliehe ihr ein Schrei. Dann ruckte der Zug an, und die Mutter und Wilfried wurden kleiner. Nun winkte sie heftig und lief ein paar Schritte hinter dem Zug her, und Sebastian hatte Mühe, seine Tränen zu unterdrücken. Ohne Abitur und mit einer abgebrochenen Lehre, aber einer Menge Bücher im Kopf zog er nach Berlin.

      Die Bänke des Großwagenabteils waren gedrängt voll. Viele nutzten die Bahnfahrt, um noch ein wenig zu schlafen. Ihre Kleider waren grob und ihre Hände abgearbeitet. Die Männer trugen blaue Arbeitskittel, die Frauen den billigen Chic der Warenhäuser, den gerade die Mode diktierte, kleine Hütchen mit Blumenimitaten, Röcke, die die Knie gerade bedeckten, Strümpfe, die fast durchsichtig waren. Aber ihre Gesichter zeigten, wenn auch in einer weicheren Ausführung, die gleiche Müdigkeit und Resignation. Es roch nach Schweiß, klammen Kleidern, billigem Parfum und nach dem Rauch schlechter Zigarren. Das gleichmäßige Schaukeln ließ auch Sebastian müde werden, und er träumte, in Alaska zu sein und nach Gold zu graben, um in Frisco ein großes Haus zu führen mit Dienern und Wirtschafterin und Zimmermädchen. Und die Leute blieben stehen, wenn er in einer großen Kalesche durch die Straßen fuhr, und lüfteten ihre Hüte. Da kommt er, der Mann, der in Klondike sein Glück gemacht und den größten Goldklumpen der Welt gefunden hat!

      Als er erwachte, fuhren sie im Anhalter Bahnhof ein. Sich aus dem Traum heraustastend, stand er auf, nahm seinen Koffer und stieg aus. Das Gewimmel auf dem Bahnsteig nahm ihm fast den Atem. Schreie, Pfiffe, das Stampfen der Lokomotiven, die Rufe der Gepäckträger, das Vorwärtsstürzen zu den Ausgängen und er, Sebastian, in einem Wirbel, der ihm unwirklich vorkam und den er staunend hinnahm. Das also war die Großstadt. Er ließ sich aus dem Bahnhof treiben und in die Stadt hineinspülen, in die endlosen Straßen, die voller Automobile, Transportwagen, Busse und Straßenbahnen waren. Nur hin und wieder sah man noch einen Kutschwagen mit derben Pferden, Belgiern wohl, der Fässer mit Schultheiss-Bier fuhr. Die Hochbahn donnerte über ihm, die Kraftwagen hupten, und ihre Reifen quietschten.

      »Jehn Se man schneller! Hamse de Maschine nich jeölt?«, herrschte ihn einer von hinten an.

      Er ging zum Potsdamer Platz und bewunderte die Hotels, den Fürstenhof, den Kaiserhof und das Haus Bellevue sowie das Weinhaus Rheingold. Die Häuser sahen hier wie Schlösser aus, und die Menschen, die dort hineingingen, waren anders gekleidet als er, trugen dunkle Anzüge und Bowler oder Zylinder, und er schämte sich seiner fadenscheinigen karierten Jacke, seiner Knickerbocker, seiner Schiebermütze und des geflickten Hemdes. Nicht einmal eine Krawatte hatte er. Er kam sich gegen diese lichtvollen Wesen minderwertig vor. Doch er würde so werden wie die da, dachte er trotzig, die mit hochmütigem oder gleichgültigem Gesicht den Fürstenhof betraten, vor dem der Portier in einer prachtvollen Uniform stand, die einem General Napoleons wohl angestanden hätte, und ehrerbietig den Hut lüftete.

      Die lange Reise hatte Sebastian hungrig gemacht. Als er an einem Lokal mit der Aufschrift Aschingers Bierquelle vorbeikam, blieb er stehen. Durch die großen Fenster hatte man einen guten Einblick in das Lokal. Es sah sehr elegant aus, mit vielen Spiegeln und sogar Kronleuchtern. Er beobachtete einfach gekleidete Männer und Frauen an Stehtischen ihre Mahlzeit einnehmen. In Berlin schienen selbst normale Menschen wie er in königlicher Umgebung zu essen.

      Sebastian überlegte, ob er sich so eine Ausgabe leisten konnte. Und er entschied sich, nicht zu sparen, denn nun war er hier in der Stadt, die Eroberer verlangte, und er war sich sicher, dass auch Jack London nicht


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