Der große Aschinger. Heinz-Joachim Simon
Читать онлайн книгу.nun muss ich los, Herr Lorenz, sonst bekomme ich Ärger.« Sie trank hastig ihr Glas aus und stand auf, er erhob sich ebenfalls, nahm ihre Hand und verneigte sich.
»Die Rechnung darf ich übernehmen?«, fragte er hastig, und sie nickte dankend.
»Bis Samstag also!«, sagte sie mit einem bedeutungsvollen Blick und verschwand im Gedränge.
Wie ein Traumwandler sah er ihr nach. Da war er erst zwei Tage in Berlin und hatte bereits eine Anstellung und ein Rendezvous! Hier auf der Terrasse des Weinhauses Rheingold war Sebastian Lorenz überzeugt davon, dass er dabei war, sein Glück zu machen.
Kapitel 4
»Junge, du legst vielleicht ein Tempo vor!«, sagte der Onkel, als ihm Sebastian am Abend von seiner Begegnung mit Aschinger erzählte.
»Und der große Fritz Aschinger persönlich hat dich eingestellt?«, fragte er ungläubig. »Schwindelst du nicht ein bisschen?«
»Hätte ich sonst so schnell einen Arbeitsplatz bekommen? Wahrscheinlich liebt er Bücher.« Sebastian erzählte, wie das Zusammentreffen abgelaufen war.
Der Kapellmeister schüttelte immer wieder den Kopf. »Vielleicht gehörst du zu den Glückskindern, denen alles in den Schoß fällt.«
Sebastian sagte dazu nichts, denn er hatte bisher nicht das Gefühl gehabt, vom Glück besonders begünstigt worden zu sein.
»Auch ich habe eine gute Nachricht: Die Vermieterin ist einverstanden, du kannst oben die Mansarde haben. Allerdings ist es nicht billig. Sie will dreißig Reichsmark.«
»Können wir uns das Zimmer gleich ansehen?«
Der Onkel nickte und nahm den Schlüssel in die Hand.
Sie mussten zwei Treppen höher steigen. Es war eine dunkle Mansarde mit Stützbalken, die jedoch zwei Fenster hatte – mit einem schönen Ausblick auf den Kurfürstendamm. Die Toilette war sehr eng, aber dies machte ihm nichts aus und auch nicht, dass weder Bad noch Dusche vorhanden war. In Schönberg hatten sie ein Plumpsklo auf dem Hof gehabt. Er würde sich eben am Waschbecken waschen.
»Na ja, für den Anfang geht es doch. Wohn- und Schlafzimmer in einem, da hast du keine langen Wege«, sagte der Onkel schmunzelnd.
»Und Möbel kriegen wir billig beim Altwarenhändler. Aber eine Matratze und Bettzeug wirst du kaufen müssen.«
Stolz betrachtete Sebastian sein Reich. Ihn bekümmerten nicht der Staub und die verwohnten Tapeten. Dieses Zimmer, so ärmlich es aussah, würde ihm gehören. Dies hatte er noch nie sagen können. Er stellte sich schon vor, wie es wäre, hier am offenen Fenster zu lesen, während draußen das Leben des mondänen Berlin pulsierte – und er war mittendrin! Dass er keine Küche hatte, war ohnehin kein Problem, er würde einfach bei Aschinger essen.
»Ich werde morgen der Wirtin sagen, dass du einverstanden bist. Dann kannst du am Wochenende einziehen.« Der Onkel wollte das Licht ausschalten und das Zimmer verlassen.
»Lass mich noch ein wenig hier oben bleiben«, bat Sebastian. Der Onkel nickte verständnisvoll.
Sebastian ging ans Fenster. Auf dem Kurfürstendamm brannten bereits die Laternen. Er machte sich keine Gedanken darüber, dass es in der Mansarde im Sommer sehr heiß sein würde, sondern war ganz gefangen von den Ereignissen, die ihm in den zwei Tagen in Berlin passiert waren. Zwei Tage, in denen er mehr erlebt hatte als in den letzten zwei Jahren in Schönberg. Er sah aus dem Fenster in die Dämmerung, die sich über die Stadt legte und ihr keine Ruhe gab, sondern ihren Puls beschleunigte, und er sah Uschi Venske vor sich mit ihrem reichen blonden Haar und ihrer üppigen Unterlippe, die ihn an eine saftige Erdbeere erinnerte. Er träumte, dass er mit ihr über eine Wiese ging, und sie legten sich unter einen Baum, und es geschah, was er bis dahin nur vom Hörensagen kannte, womit die Älteren auf dem Schulhof geprahlt hatten und was sich dennoch so anhörte, als hätten auch sie nur davon gehört. Unter ihm war das Rauschen des Kurfürstendammes und begleitete seine Träume. Er, Sebastian Lorenz, war bereit, einen reichen Fang aus dieser Stadt zu holen.
Am nächsten Tag stand er bereits eine Stunde vor der Zeit vor der Bierquelle. Sie war noch geschlossen. Er ging vor dem Lokal auf und ab und sah zur Berolina hinüber, an der er sich mit Uschi Venske treffen wollte. Noch musste er auf den Samstag warten. Er wusste nicht, wie es sein würde, und dies machte ihn genauso unruhig wie die Ungewissheit, ob er mit der Arbeit zurechtkommen würde. Er war sich dessen nicht so sicher. Oft genug hatten Vater und Wilfried ihn getadelt, dass er zwei linke Hände habe.
Es war frisch an diesem Morgen, und er fröstelte. Als Paul Dornbusch auftauchte, stutzte dieser und lächelte. »Schwidiwatzki noch einmal, du siehst gut aus! So muss jemand aussehen, der bei Aschinger arbeitet: immer tipptopp. Doch nun wollen wir mal dein neues Himmelreich öffnen.« Der Geschäftsführer klapperte mit dem Schlüsselbund und schloss die Tür auf. Sie gingen hinein, und Dornbusch nahm die Stühle von den Tischen und begutachtete die Tischplatten. Schon trafen die ersten Angestellten ein, ein Zapfer, eine Kellnerin und die Kaltmamsell. Der Zapfer mochte um die fünfzig sein und hieß Fritz Kapinske. Mit konzentrierter Miene überprüfte er sofort die Zapfhähne und ließ etwas Bier heraus. »Hat genug Druck, Chef! Alles in Butter.«
Die Kellnerin, die für das Nebenzimmer und die warmen Mahlzeiten zuständig war, hieß Ingeborg Panke und war groß, dürr und rothaarig und hätte sich mit ihrem ausgezehrten Gesicht auf einem Plakat von Toulouse-Lautrec gut ausgemacht. Die Kaltmamsell stellte sich gleich hinter den Tresen und wischte die Glasvitrinen aus. Sie war bereits Mitte dreißig, eine dralle Person mit frischen, roten Backen und lustigen Augen. Sie hieß Gisela Kloppke und lächelte Sebastian zu, als dieser sie interessiert bei der Arbeit beobachtete. Lachend warf sie ihm einen Lappen zu. »Rumstehen jibts hier nich!«
Sebastian stellte sich neben sie und wischte eifrig die Vitrinen sauber, obwohl diese bereits glänzten.
»Hast es jestern doch jehört: Sauberkeit und Qualität, darauf kommt es an. Wie heeßte denn?«
Er sagte es ihr, und sie schüttelte den Kopf.
»Sebastian Lorenz? Wat is det denn für ’n Name! Nee, so heeßt hier niemand. Ick werde dir einen anderen Namen verpassen. Warte mal …« Sie stemmte die Hand in die Hüfte und musterte ihn von oben bis unten. »Ick hab’s! Ick war jestern in ’ne Urania und hab ’nen Film jesehn, und der Kerl hatte auch so ’n treuherzigen Dackelblick wie du und hieß … Johnny. Ick werde dir Johnny nennen.«
»Quatsch hier nicht so rum, sonst geb ich dir gleich eine Kopfnuss, Schwidiwatzki noch mal!«, rief Dornbusch.
»Ick hab dem Kleenen doch nur ’nen anständigen Namen verpasst«, wehrte sie sich lachend. Sie schien sich nicht so leicht einschüchtern zu lassen.
Vor dem Lokal hielt der Aschinger-Wagen und brachte die frischen Schrippen und belegten Brote aus dem Zentralbetrieb. Die Kloppke nahm die Tabletts und schichtete das Angebot sorgfältig in die Vitrine.
Nun kamen der Koch und eine Küchenhilfe. Dornbusch wies ärgerlich auf die Uhr und mahnte mit dem Zeigefinger. »Das mit euch beiden wird immer schlimmer! Wenn ick det noch mal erlebe, det ihr nich Punkt acht hier seid, dann meld ick det der Personalabteilung. Schwidiwatzki noch mal, der Warmwagen wird gleich hier sein! Spätestens um zehn muss jeder ooch ’ne warme Suppe beim Aschinger kriejen, det wisst ihr doch!« Während sich Dornbusch sonst um ein gepflegtes Deutsch bemühte, fiel er bei Ärger oder Anspannung sofort ins Berlinerische.
»Vor zehn is det noch nie vorjekommen, det eener ’ne warme Mahlzeit wollte!«, murrte der Koch.
»Ick will keene Widerrede, det is nun mal Hausordnung! Ick will hier Disziplin, jawoll, und det mir in der Küche nich wieder rumjequiekt wird. Lass die Finger von der Sattlerschen!«
Die Küchenhilfe, eine blonde Zwanzigjährige mit einem gewöhnlichen, frechen Gesicht, aber wohlgeformten Beinen, zischte: »Er macht jar nüscht! Immer müssen Se uff uns rumhacken. Wir von der Küche sind die reinsten Nejer.«
»Quatsch nicht, rein ins Kabuff!«, grollte Dornbusch.
Schon