Der Tanz des Mörders. Miriam Rademacher

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Der Tanz des Mörders - Miriam Rademacher


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ihn schier um den Verstand brachte. Oft übermannte ihn der Schlaf in seinem Sessel vor dem Fernseher, wenn vor dem Fenster schon der Morgen graute.

      Während Colin sich dem Cottage der verunglückten Agatha Summers Schritt für Schritt näherte, jagten Wellen des Schmerzes durch seine Lendenwirbelsäule und zwangen ihm das Tempo einer Schnecke auf. Gelegentlich hielt er an, tat, als würde er dem Gesang der Vögel lauschen und nickte den vereinzelten Fußgängern, die zumeist einen mehr oder minder hübschen Vierbeiner an der Leine führten, freundlich zu. Hätte ihn jemand gefragt, wie es ihm an diesem Morgen ging, er hätte »ausgezeichnet« geantwortet. Der Schmerz in seinem Rücken war kein Gesprächsthema für ihn. Er war da, er musste mit ihm leben, aber er lehnte es ab, sich wie ein quengelndes Kleinkind zu betragen.

      Nach einem langen und langsamen Spaziergang, erreichte er ein graues Cottage mit grünen Fensterläden, das allein am Ende einer langen Auffahrt lag. Das Cottage war eingebettet in die frühsommerliche Blütenpracht eines Gartens, durch den ein schmaler Plattenweg führte. Misstrauisch besah sich Colin die unebenen Steine und setzte seine Schritte mit großer Vorsicht.

      Auf sein Klopfen an der grünen Haustür erschien ein kleinwüchsiges Fabelwesen mit rosa Haaren auf der Türschwelle und piepste: »Los, zeigen Sie her und machen Sie schnell!«

      Colin entfuhr ein mäßig intelligentes »Äh!«

      Daraufhin wedelte die zierliche Person mit den großen Trollaugen und der Stupsnase mit ihren Händen wild vor Colins Bauch herum und rief: »Na, was haben Sie? Zeitungen, Staubsauger, Versicherungen, Äpfel? Herrgott noch eins, wenn Sie mir etwas verkaufen wollen, müssen Sie Ihre Zähne schon auseinanderbringen!«

      Colin begriff und stammelte hastig eine Erklärung. »Ich habe keine Äpfel, ich habe Zeit! Ähm, ich meine…«

      »Zeit? Zeit ist super! Zeit hat mir wirklich noch nie einer angeboten! Was kosten denn fünf Minuten?«

      »Ähm.«

      Colin versuchte seine Gedanken zu sortieren. Der kleine Troll auf der Fußmatte, bei dem es sich vermutlich um eine Frau handelte, war sicher nicht dem Märchenwald entsprungen. Auch war das Wesen trotz der eigenwilligen Haarfarbe niemand, den man üblicherweise bettelnd vor dem Bahnhofseingang sitzen sah. Es konnte sich bei ihr eigentlich nur um eines handeln.

      »Sie sind bestimmt die Krankenschwester von Mrs Summers!«, stieß er rasch hervor und war ein bisschen stolz auf seine Kombinationsgabe und seinen ersten vollständigen Satz im Laufe dieser Begegnung.

      Die Hand des Trollmädchens schnellte ausgestreckt in die Höhe. Colin ergriff sie und befühlte fasziniert die winzigen Finger in seiner Handfläche.

      »Ich bin Norma. Ich bin klein, aber sehr stark. Ich habe schon Patienten von ganz anderem Kaliber als Mrs Summers in die Hosen geholfen, das können Sie mir glauben!«

      Colin glaubte ihr alles. Normas Temperament sprühte aus ihren Augen, perlte in ihrer Piepsstimme und drang aus jeder winzigen Pore. Hätte Norma ihm erzählt, sie sei Preisboxerin, Hochseekapitän oder Model für Pariser Mode, er hätte auch das für möglich gehalten.

      »Und Sie sind?«, fragte Norma, legte den Kopf schief und blinzelte Colin von unten herauf an.

      »Colin. Duffot. Mein Name ist Colin Duffot.«

      »Und Sie handeln mit Zeit? Das ist wenigstens mal was anderes!«

      »Nein, ich bin Tanzlehrer«, entfuhr es Colin, und er hätte sich im selben Moment am liebsten selbst geohrfeigt. Er wusste, was jetzt kam.

      »Tanzlehrer? Ach, wie spannend. Mrs Summers ist gerade nicht gut zu Fuß, aber ich hätte schon Interesse! Ich wollte schon immer richtig Walzer tanzen lernen.«

      Colin blickte auf die Frau hinunter, die ihm kaum bis zur Brust reichte. Die Versuchung, sie wie einen Basketball um die eigenen Beine zu dribbeln, war größer, als mit ihr einen Walzer zu wagen. »Pfarrer Johnson schickt mich. Er ist der Ansicht, Mrs Summers könnte Gesellschaft brauchen.«

      »Ach so, der Pfarrer. Dann kommen Sie mal rein.« Das klang enttäuscht. Einen Tanzlehrer fand Norma zweifellos interessanter als einen Gesellschafter. »Den Flur entlang, die letzte Tür und dann gleich rechts. Im Wintergarten.«

      Colin hätte es lieber gesehen, wenn Norma ihn begleitet und der alten Dame vorgestellt hätte. Da sie dazu keinerlei Anstalten machte, setzte er sich in Bewegung, durchquerte mit raschen Schritten den Flur, öffnete die letzte Tür und fand sich mitten in einer Katastrophe wieder. Einer geschmacklichen Katastrophe.

      Mrs Summers’ Wohnzimmer war eine Renovierung in den letzten 40 Jahren erspart geblieben. Die Tapete zeigte ein wildes Muster aus großen grünen Palmwedeln, das Mobiliar war furnierte Spanplatte, und auf der braunen Cordgarnitur dösten drei fette Cockerspaniels. Colin wandte sich schnell nach rechts und trat durch eine offene Glastür in den dahinterliegenden Wintergarten.

      Auf einer geflochtenen Récamiere, inmitten liebevoll angelegter Beete voller Stauden in sattem Grün, lag eine stattliche Dame mit lila getöntem Haar und blickte durch das alles umgebende Glas hinaus auf die Landschaft.

      »Setzen Sie sich. Was verkaufen Sie?«

      Noch so eine, dachte Colin und nahm langsam in einem leeren Korbsessel Platz. Seine Lendenwirbel schmerzten jetzt so stark, dass er sich fragte, ob er sich je wieder daraus erheben können würde.

      »Ich verkaufe gar nichts. Pfarrer Johnson schickt mich. Er ist der Meinung, ein wenig Abwechslung könnte Ihnen gut tun.«

      Erst jetzt wandte ihm Mrs Summers das Gesicht und ihre Aufmerksamkeit zu. Colin bemerkte einen violetten Bluterguss auf dem linken Wangenknochen der Frau. In gewisser Weise harmonierte der Fleck mit ihrem Haar. Die linke Hand steckte in einer farbenfrohen Bandage, der Rest von Mrs Summers in einem pflaumenblauen Nickianzug.

      »Jasper schickt Sie. Das ist nett von ihm. Es ist tatsächlich ein wenig eintönig hier. Norma ist ein liebes Mädchen, aber so ungebildet, dass man schreien möchte. Und die Schlampe in dem roten Ziegelbau ist verreist, ausgerechnet jetzt, wenn ich sie so dringend brauche.«

      Einen Moment lang hoffte Colin, sich verhört zu haben, doch etwas in den eng beieinander stehenden Augen von Mrs Summers verriet ihm, dass dem nicht so war.

      »Schlampe, Mrs Summers?«, fragte er daher und bemühte sich um einen möglichst neutralen Gesichtsausdruck.

      »Ich spreche von dem kleinen Flittchen, das seit einigen Monaten diesen Zoo, der sich Dorf nennt, bereichert. Sie und ihre ständig wechselnden Bekanntschaften unterhalten mich zeitweise recht nett. Jetzt bleiben mir nur noch der alte Knicker, die Heulsuse, das Trampeltier und der Spinner.«

      Ein Gefühl der Hilflosigkeit überkam Colin. Da erschien zu seiner Erleichterung Norma, ein Teetablett balancierend, an seiner rechten Seite.

      »Mrs Summers! So dürfen Sie nicht über diese armen Menschen reden. Sie haben eben ihr Päckchen zu tragen, wie jeder von uns«, rief sie tadelnd, stellte das Tablett auf einem niedrigen Glastisch ab, goss Colin ungefragt Tee in eine Tasse und gab noch Milch und Zucker dazu. Colin starrte auf die weißen Wölkchen in der braunen Flüssigkeit und fühlte sich wie jemand, der ein Kino erst in der Mitte des laufenden Films betritt. Hastig, um nichts sagen zu müssen, griff er nach der Tasse und nahm einen großen Schluck.

      Als die brennend heiße Flüssigkeit seinen Gaumen verbrannte, schossen ihm die Tränen in die Augen.

      »Heiß«, mahnte Norma im Flüsterton. Jetzt wusste er es auch. Mit noch immer feuchten Augen sah er Norma nach, wie sie davonwuselte. Er tat es nicht mit Absicht, aber die Jahre auf dem Tanzparkett hatten sein Auge geschult. Die Menschen gaben in ihren Bewegungen oft mehr von sich preis, als sie selber ahnten. Der Pfarrer zum Beispiel bewegte sich mit der Geschmeidigkeit eines zufriedenen und ausgeglichenen Menschen. Normas Bewegungen enthielten eine gewisse Hektik und Sprunghaftigkeit, von der Colin augenblicklich auf ihr ganzes Wesen schloss.

      »Es ist gewiss nicht so, dass ich diese Leute bespitzle. Nichts läge mir ferner, um ehrlich zu sein. Diese armseligen Kreaturen sind weiß Gott nicht interessant genug dafür. Aber sie sind


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